Die östlichen Teile Mosuls auf der linken Seite des Tigris befinden sich nun weitgehend in der Hand der Regierungstruppen und ihrer Verbündeten. Die Eroberung der westlichen Seite, wo die Altstadt liegt, wird vorbereitet, aber sie hat noch nicht begonnen.
Ein Grund für das vorsichtige Vorgehen ist, dass die Regierungstruppen das neu eroberte linke Ufer und seine Umgebung absichern möchten, um zu vermeiden, dass ihnen plötzlich IS-Kämpfer im Osten in den Rücken fallen, während ihre besten Einheiten im Westen kämpfen. Es gibt Berichte, wonach der IS versteckte Waffenlager in der östlichen Stadt eingerichtet hat für den Fall, dass er Gelegenheit erhält, Kämpfer dorthin zurückzuschleusen. Neben solchen Waffenlagern hat der IS auch Tretminen und Sprengfallen gelegt. Sie müssen erst aufgefunden und entschärft werden, bevor in den zurückeroberten Stadtteilen eine bescheidene Normalität Einzug halten kann.
„Säuberung“ in Anwesenheit der Bevölkerung
Im Gegensatz zu den anderen vom IS zurückgewonnenen Städten sind in Mosul grosse Teile der Zivilbevölkerung in ihren Häusern geblieben. Unter ihnen befinden sich möglicherweise IS-Agenten, die sich den Bart abgeschoren haben, aber weiterhin für Anschläge und Überfälle mobilisiert werden können. Sie – wie die Minen und die Waffen – müssen aufgedeckt und sichergestellt werden.
Es gibt fünf unterschiedliche Kräfte, die mit den Räumungs- und Absicherungsarbeiten in Ost-Mosul betraut sind. Die Eliteeinheiten der Anti-Terrorismus-Kämpfer stehen in den zentralen Quartieren. Föderale Polizei und lokale Polizeikräfte zusammen mit den sogenannten Schnellen Eingreiftruppen der Armee sollen die Aussenquartiere absichern.
Beargwöhnte Sunniten
Freiwillige aus der lokalen Bevölkerung stehen nördlich der Stadt. Es handelt sich um Sunniten, wie die Mehrheit der Bevölkerung der Stadt und ihrer Provinz. Der ehemalige Gouverneur von Mosul, Atheel an-Nujaifi, der nach der Eroberung Mosuls durch den IS im Sommer 2014 abgesetzt wurde, war nach Erbil geflohen. Er hat anschliessend diese sunnitische Miliz aufgestellt. Die Nujaifi sind eine einflussreiche Familie aus Mosul. Sie spielen auch eine Rolle im irakischen Parlament als Vertreter der sunnitischen Minderheit.
Türkische Einheiten, die gegen den Willen Bagdads, jedoch mit Billigung der irakisch-kurdischen Regierung in Nordirak stehen, haben geholfen, die Nujaifi-Miliz auszubilden. Nach den Aussagen ihres Chefs ist sie darauf vorbereitet, in Ost-Mosul als Ordnungsmacht zu wirken, sobald die Kampfeinheiten, die nun dort stehen, abgezogen werden, weil sie für den Kampf um West-Mosul gebraucht werden. Doch schiitische Milizen und auch eine kleine christliche Miliz, die mit ihnen zusammenarbeitet, haben sich gegen diesen Anspruch Nujaifis erhoben. Zudem hat die Regierung von Bagdad – die von Schiiten geleitet wird – gedroht, Nujaifi werde vor Gericht gestellt, wenn er nach Mosul vordringe.
Anti-Terror-Einheiten im Wartestand
Das Misstrauen der Schiiten und Christen richtet sich gegen ihre sunnitischen Landsleute, weil sie befürchten, diese würden nicht hart genug vorgehen gegen die sunnitischen Bewohner von Mosul, die mit dem IS „zusammengearbeitet“ hätten. „Zusammenarbeit“ ist jedoch ein verschwommener Begriff, wenn man die Lage bedenkt, unter der die Bewohner von Mosul zweieinhalb Jahre lang leben mussten. Der IS herrschte, und sie mussten versuchen, mit dem Leben davonzukommen.
Die Gegensätze zwischen den lokalen Milizen und den weitgehend schiitischen Truppen und Polizisten aus Bagdad sind so tief, dass der Oberkommandant der Armee beschlossen hat, vorläufig sollten die regulären Truppen und die Anti-Terrorismus-Einheiten auf dem Ostufer bleiben, um dort für Stabilität zu sorgen. Es ist jedoch klar, dass die für Anti-Terrorismus-Einsätze trainierten Elitetruppen dringend gebraucht werden, wenn die Offensive auf West-Mosul beginnt. Sie haben bisher in allen vom IS zurückeroberten Städten – Tikrit, Ramadi, Falludscha – als Kämpfer die Hauptrolle gespielt. In West-Mosul wird der Irak nicht auf sie verzichten können.
Vorläufig gehen die militärischen Ordnungskräfte in Ost-Mosul von Haus zu Haus und verlangen die Ausweise der Bewohner zu sehen. Ihre Befehlshaber sagen, sie hätten bereits bedeutende Zahlen von IS-Verdächtigen aufgespürt. Auch nach Waffen wird gesucht, und die vielen Minen und Sprengfallen müssen gefunden und entschärft werden.
Kein Wiederaufbau ohne Versöhnung
Der Internationale Währungsfonds, von dem der Irak bereits gegen zwei Milliarden Dollar als Anleihe erhalten hat, steht in Verhandlungen mit Bagdad über eine weitere Anleihe von 1,3 Milliarden. Sein Leiter für den Mittleren Osten, Ferid Belhaj, erklärte der Agentur Reuter, gegenwärtig hielten alle Kräfte des Iraks im Krieg um Mosul zusammen. Doch es sei ganz ungewiss, welche Zerreissproben den unterschiedlichen bewaffneten Gruppen drohten, wenn einmal der Kampf um Mosul beendet sei. Daher sei es von grosser Wichtigkeit, dass schon jetzt Schritte zur Versöhnung der unterschiedlichen Gruppen unternommen würden.
Damit spielt Belahj an auf die gegensätzlichen Interessen und auf die durch Kriege und Untergrundkämpfe vertieften Gräben. Diese trennen nicht nur Kurden, Schiiten und Sunniten, sondern auch kleinere Gruppen wie die unterschiedlichen Konfessionen der Christen, andere religiöse Minderheiten wie die Jesiden sowie ethnische Minoritäten wie die Turkmenen.
Belhaj warnt, der Wiederaufbau müsse mit einer Versöhnung Hand in Hand gehen. Nur dann sei zu vermeiden, dass die wiedererrichtete Infrastruktur des Landes erneut in die Brüche gehe. Er schlägt vor, Fachleute für Völkerversöhnung in den Irak zu entsenden, die über Erfahrungen aus Südafrika und Ruanda verfügten. Der Irak ist gegenwärtig auf Hilfe des Währungsfonds angewiesen, weil die Erdölpreise gesunken sind. Erdöl ist praktisch das einzige Exportgut des Landes.
Allein für die Entfernung der Minen, die in Mosul gelegt worden seien, brauchte man 50 Millionen Dollar, für jene im übrigen Land noch einmal 50 Millionen, wie die Entminungsfachleute der Uno von Unmas (UN Mines Action Service) schätzen. Man sollte, so der Leiter von Unmas, 5’000 Personen für die Minenentfernung ausbilden und mit ihr beschäftigen. Das würde auch Arbeitsposten für Unbeschäftigte schaffen.
Inter-schiitisches Ringen in Bagdad
Neben den Spannungen und Interessengegensätzen zwischen den oben erwähnten religiösen und ethnischen Gruppen gibt es im Irak auch starke politische Spannungen innerhalb der Mehrheitsgruppierung der Schiiten. Sie sind in Bagdad zu spüren. Es geht dabei hauptsächlich um die Gegensätze zwischen einer irakisch-nationalen und einer pro-iranischen schiitischen Politik.
Der einst als Brandstifter eingestufte Politiker Muqtada al-Sadr und seine Miliz, die sich aus den Bewohnern der schiitischen Elendsviertel von Bagdad und Basra rekrutiert, treten heute für eine nationale irakische Politik ein, die auf Zusammenarbeit aller Iraker hinwirken will. Gleichzeitig kämpfen sie gegen die Korruption der irakischen Parlamentarier und Parteioberhäupter, die sich von ihren Glaubensbrüdern ins Parlament wählen lassen und diese dann – neben sich selbst – als ihre Klienten bedienen.
Den Gegenpol zu Muqtada Sadr bildet der frühere Ministerpräsident Nuri al-Maliki, der sich auf die schiitisch und pro-iranisch ausgerichteten Abgeordneten und Politiker stützt und versucht, auf diese Weise erneut an die Macht zu gelangen. Malikis Nachfolger, der gegenwärtige Ministerpräsident Haidar al-Abadi, stellt den Krieg gegen den IS ins Zentrum seiner Politik und kann sich damit gegen den Druck der bedeutenden Zahl von mehr schiitisch und pro-iranisch als irakisch gesonnenen Abgeordneten im Parlament knapp durchsetzen. Iran ist ja ebenfalls am Kampf gegen den IS interessiert. Doch angesichts dieser Zusammenhänge stellt sich auch für die Stabilität der Regierung von Bagdad die Frage: Was wird geschehen, nachdem der IS im Irak als territoriale Macht niedergekämpft sein wird?