Idlib liegt auch gefährlich nahe bei Latakia, der Hafenstadt und der Provinz, die für das Regime von Damaskus von zentraler Wichtigkeit ist. Einst hatte Idlib Latakia bedroht. Umso mehr Grund, um nun energisch gegen diese Provinz und ihre gleichnamige Hauptstadt vorzugehen.
Auch Idlib dürfte fallen
Erwarten muss man, dass Idlib fallen wird. Nachschub aus der Türkei wird ausbleiben oder mindestens knapp werden, weil Erdogan heute mit Russland kooperiert. Die Amerikaner werden Idlib nicht retten, denn die wichtigste Rebellengrupe dort ist die ehemalige Nusra-Front, heute (ironischerweise) „Siegesfront Syriens“, nach wie vor eingestuft als „Terroristen“. Die Amerikaner könnten möglicherweise sogar bei der Bombardierung von Idlib mithelfen.
Nach dem „Endsieg“ beginnt eine neue Phase
Und nach Idlib? Vielleicht eine Pause, vielleicht Raqqa und der dortige IS. Sogar wenn Raqqa sich vorläufig halten kann, wird Asad sich zum Sieger erklären und die Russen mit ihm. Doch den Siegern stehen neue Bewährungsproben bevor.
Die Sieger müssen ein Land regieren, dessen Bevölkerung zur Hälfte aus ihren Wohnstätten fliehen musste, ein knappes Drittel davon floh ins Ausland. Die Städte und Dörfer sind weitgehend zerstört. Eine Wirtschaft, die diesen Namen verdient, gibt es nicht mehr. Eine Erbschaft von Hass wird bleiben, wenngleich an der Oberfläche überdeckt von notwendiger Schmeichelei gegenüber den Machthabern.
Russland muss Asad weiter stützen
Die Machthaber sind und bleiben in erster Linie die Geheimdienste des Asad-Regimes zusammen mit den regimetreuen – meist von alawitischen Offizieren kontrollierten – militärischen Einheiten, die den Krieg überlebt haben. Untergrund-Opposition gegen sie wird andauern und möglicherweise anwachsen, weil die Russen und die Iraner als fremde Besatzungskräfte wirken und eingestuft werden. Je mächtiger Asads Geheimpolizei sein wird, desto mehr wird sie eine endgültige Versöhnung der Syrer verhindern.
Russland wird sich gezwungen sehen, den „siegreichen“ Asad, dem es zu seinem Sieg verholfen hatte, weiterhin beizustehen, indem es ihn dabei unterstützt, das Land soweit zu heilen, dass es regierbar wird.
Die Rebellen werden nicht verschwinden
Die heutigen Rebellen werden schwerlich ganz verschwinden. Sie werden es aufgeben, eigene Territorien halten zu wollen und versuchen, aus dem Untergrund mit Anschlägen und Bomben zu wirken. Mit amerikanischer Unterstützung können sie dabei wahrscheinlich nicht rechnen, jedoch die saudische Hilfe und die aus dem Golf wird andauern, schon weil die Saudis und ihre Freunde den Kalten Krieg gegen die Schiiten nicht aufgeben und „verlieren“ wollen, den sie in Syrien führen. Wegen dieses Kalten Krieges wird auch Iran auf der Gegenseite zusammen mit den Russen und dem Asad-Regime in Syrien aktiv bleiben.
Israel vor einer neuen Feind-Konstellation
Für das benachbarte Israel wird sich eine neue Lage dadurch ergeben, dass Israel nun auf der syrischen Seite nicht nur der schwache Staat Syrien gegenübersteht, sondern hinter Syrien Russland und Iran; und Iran wird dafür sorgen, dass Hizbullah in Libanon mit Raketen bewaffnet bleibt, die nach Israel hinüber reichen – möglicherweise zielsicherer als in der Vergangenheit.
Für Israel wird es gefährlicher werden, die Waffen aus Iran, die über Syrien an den Hizbullah geliefert werden, in Syrien zu bombardieren und zu zerstören, wie Israel dies bisher praktizierte, weil hinter Syrien die russische Macht stehen wird.
Was alles bedeutet: Friede wird schwerlich einkehren, und der Wiederaufbau in Syrien ohne Frieden droht noch schwieriger zu werden, als er es unter friedlichen Bedingungen wäre.
Die grossen Wendepunkte im Rückblick
Wenn man auf die grossen Wendepunkte im syrischen Bürgerkrieg zurückschaut, erkennt man die Schwächen des Asad-Regimes. Es gab bisher vier Wenden, die als die entscheidenden gelten können:
- Der Übergang von friedlichen Protesten zu der gewaltwilligen Rebellion, Sommer 2011
- Die Eroberung von Qusseir und Homs durch das Regime mit der Hilfe von Hizbullah, Juni 2013 bis Januar 2014
- Die Überwindung der Bedrohung der Provinz Lattakiya durch die islamistische Rebellion mit Hilfe der russischen Luftwaffe und Hizbullahs sowie iranischer Milizen, ab September 2015
- Die Niederschlagung des Aufstands in Ostaleppo mit den gleichen Hilfskräften, November und Dezember 2016.
Viermal Rettung durch Aussenseiter
Die Hinwendung zur Gewalt erfolgte teilweise dadurch, dass bedeutende Teile der Armee sich weigerten, auf ihre Mitbürger zu schiessen, und daher mit ihren Waffen desertierten. Teilweise kam die Gewalt aber auch dadurch zustande, dass die aufständischen Gruppen aus dem Ausland, besonders den Golfstaaten und Saudi Arabien sowie auch aus Amerika, über die CIA finanziert und bewaffnet wurden.
Das Regime trug das Seinige zu dieser Entwicklung bei, indem es die gefangenen syrischen islamistischen Extremisten durch eine Amnestie freiliess. Dies geschah in der Absicht, den Protest der sunnitischen syrischen Bürger soweit irgend möglich in einen „Aufstand der Terroristen“ zu verwandeln. Die Mehrheit seiner Bürger konnte das Regime nur dadurch bekämpfen, dass es deren Protestbewegung in einen „terroristischen Aufstand“ umwandelte. „Terroristen“ ergaben legitime Kampfziele. Dem Regime treu blieben seine Kern- und Sicherheitstruppen, die zu der alawitischen Minderheit gehörten (15 Prozent der Bevölkerung), oder unter der Kontrolle von Mitgliedern der alawitischen Minderheit standen.
Latakia als Schlüsselprovinz für Asad
Qusair und Homs nahe an der libanesischen Nordgrenze drohten einen Riegel zu bilden, der Damaskus vom Hafen und der Provinz Latakia trennte und gleichzeitig die Hauptachse Syriens unterbrach, die Damaskus mit Aleppo verbindet, solange sie sich im Besitz der Rebellen befanden. Die beiden Städte konnten nur mit Hilfe der libanesischen Hizbullah-Kämpfer zurückgewonnen werden.
Als die (nun schon überwiegend islamistische) Oppostion sich in Idlib festsetzte, versuchte sie von dort aus in die Provinz Latakia vorzudringen. Diese Provinz ist besonders wichtig für das Regime. In ihr befinden sich die einzigen Hafenstädte Syriens, und sie umfasst die Heimatgebiete der alawitischen Minderheit.
Ihr Verlust hätte gedroht, die Loyalität der Alawiten zum Regime zu erschüttern. Die Gefahr, in der sich diese Herzprovinz befand, veranlasste das Regime, die Russen um Hilfe zu bitten und einen Vertrag über eine russische Luftbasis in Syrien auf unbegrenzte Zeit mit Moskau zu unterzeichnen. Die russische Intervention hat das Blatt zuerst für Lattakiya und später in ganz Nordsyrien zu Gunsten des Regimes gewendet.
Der Kampf um Aleppo
Die Einnahme von Aleppo, einst die grösste und reichste Stadt Syriens, kam nur mit der Hilfe der Hizbullah-Kämpfer aus Libanon, der iranischen Hilfsmilizen und der russischen Luftwaffe sowie russischen Beratern und Hilfstruppen zustande. Die östliche Hälfte der Stadt hatte sich seit 2012 in Händen des Widerstandes befunden. Die Widerstandskämpfer waren überwiegend aus den umliegenden ländlichen Gebieten in die Stadt eingedrungen.
Eine letzte kurzfristig erfolgreiche Gegenoffensive gegen die Regierungstruppen wurde Ende Oktober 2016 von Idlib aus vorgetragen und vermochte es vorübergehend, den Umfassungsring der Pro-Regime Truppen um die östliche Stadthälfte zu sprengen. Die russische Luftwaffe griff ein, um diesen Rückschlag der Pro-Regierungstruppen wieder auszugleichen.
Diese Kriegsgeschichte macht klar, dass der „Sieg“ Asads dadurch zustande kam, dass ausländische Kräfte sein Regime mehrmals retteten. Verteidiger Asads werden dem entgegenhalten, dass auch die Rebellen ihrerseits Unterstützung aus dem Ausland erhielten, was zutrifft, jedoch in geringerem Masse. Eine Luftwaffe, die für sie gegen Asad kämpfte, gab es nie.
Es ist absehbar, dass das Asad-Regime auch für den bevorstehenden Grabesfrieden Hilfe von aussen benötigen wird, wenn es an der Macht bleiben soll.
Welche Politik macht Amerika unter Trump?
An diesem Punkt wird die amerikanische Aussenpolitik von Bedeutung sein, von der zur Zeit völlig unklar ist, ob und wie sie geführt werden wird.
Falls sie die gegenwärtige Entwicklung auf einen „Kalten Krieg No. 2“ hin weiter verstärkt, wird Russland eine Protektoratsrolle in Syrien übernehmen.
Moskau in der alten Rolle Washingtons?
Falls Amerika gegenüber Iran auf einen Konfrontationskurs hinsteuert, wird Iran Syrien als seine Vorfestung gebrauchen. Der Irak wird Teheran als zweites Bollwerk dienen und Asad als Festungskommandant in Syrien. Hizbullah muss in diesem Fall weiter militärisches Fussvolk liefern.
Falls Washington die Zusammenarbeit mit Putin sucht, wird sich dieser ausbedingen, dass Syrien (und die Türkei?) in die russische Interessensphäre eingeschlossen werden. Iran wird sich dann auch mit Moskau arrangieren, und der Irak wird nicht isoliert bleiben, sondern mit dazugehören. Ägypten wird sich an Russland anlehnen, und Saudi-Arabien eine neue Schutzmacht benötigen. Damit könnte Moskau die Rolle im Nahen Osten übernehmen, welche die USA dort seit der Suez-Krise von 1956 gespielt haben.
Wird ein „containment“ möglich?
Optimistischere Szenarios kann man sich auch vorstellen: Eine nuancierte und geschickte amerikanische Aussenpolitik könnte die Schwächen der Russen nützen, um sie zu zwingen, das Gewicht ihres syrischen Schutzbefohlenen alleine zu tragen, bis zur Ermüdung. Eine solche „Einschränkungs-Politik“ (containment policy) müsste die Anrainer Syriens – Türkei, Irak, Saudi-Arabien, Jordanien, Israel, Libanon – auf ihrer Seite halten und auch Iran die Möglichkeit bieten, ohne russische Stütze zu prosperieren.
Doch eine solche Politik zu führen ist schwer, wegen der inneren Gegensätze, die die Region zerklüften. Der alte – Israel gegen die Arabische Welt plus Iran – ist noch immer akut, und der neue – Sunniten gegen Schiiten – tobt zunehmend seit der Zeit, als er – durch die amerikanische Besetzung des Iraks – ausgelöst wurde.
Kann Trump eine derartige Aufgabe delikater politischer Balance meistern?