Die Zuordnung der AfD als rechts von der CDU stehend erweckt den Anschein, als sei sie lediglich konservativer als die CDU. Es geht also um einen graduellen Unterschied. Faktisch aber verlangt die AfD genau das Gegenteil von dem, wofür die CDU einsteht. Die AfD will den Euro auf die eine oder andere Weise abschaffen, während die CDU ihn um nahezu jeden Preis erhalten will.
Gegensätze mit gleichem Label
Wie können absolut gegensätzliche Positionen mit demselben Etikett versehen werden, wobei das eine Etikett vielleicht etwas dunkler als das andere, die Grundfarbe aber gleich ist?
Zwei entgegengesetzte Optionen: Welche von beiden ist nun konservativ und welche ist es nicht? Die verblüffende Antwort: Beide sind konservativ. Denn es gibt eine Spaltung im Konservatismus selbst, die sich auch quer durch die CDU zieht. So betrachtet, ist die AfD lediglich ein nach aussen getragener Konflikt, der intern schon lange schwelt.
Horror vor der "Masse"
Man erkennt ihn leicht. Denn es gibt Werte, für die die Konservativen seit jeher einstehen: der Staat mit seinen besonderen Verpflichtungen, die Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“, die gegliederten Bildungsinstitutionen und überhaupt die Eliten. In allen diesen Werten kommen Traditionen zum Ausdruck. Sie sind gewachsen, nicht geplant, haben also etwas Natürliches. Das Eintreten für diese Werte ist der ursprüngliche Konservatismus, seine erste Stufe.
Entsprechend gehört zum Konservatismus ein tiefes Misstrauen gegenüber dem „Rationalismus“, der alles planen und beherrschen will und dafür das Natürliche und Gewachsene opfert. Und einen besonderen Horror haben die Konservativen vor der „Masse“, die mit rationalistischen Parolen die Macht ergreift. Dass auch die besten Absichten der Massenbewegungen zum Scheitern verurteilt sind, ist das Credo der Konservativen seit den Überlegungen, die Edmund Burke zur Französischen Revolution angestellt hat. Denn die Masse sieht nicht, dass jedes Gesetz ungewollte Nebenwirkungen hat und Demagogen nur darauf lauern, die Macht an sich zu reissen und Diktaturen zu errichten.
Rückzug wohin?
Angela Merkel hat im Wahlvolk hohe Beliebtheitswerte. In der CDU selbst ist sie umstritten. Denn dort werfen ihr diejenigen, die an den konservativen Werten hängen, den Verrat daran vor: Abschaffung der Wehrpflicht, Auflösung des traditionellen Familienbildes, Verabschiedung des dreigliedrigen Schulsystems und die Europapolitik, die die deutschen Interessen der Planungsrationalität Brüsseler Behörden und internationaler Finanzinstitutionen überantwortet.
Begründet wird dies sowohl von Merkel wie von Wolfgang Schäuble mit einer Flexibilität, die erforderlich sei, um auch unter modernen Bedingungen konservative Werte zur Geltung zu bringen. Positionen also, die sich nicht mehr halten lassen, werden aufgegeben, um im Rückzug neue Bastionen zu errichten. Worin die aber bestehen sollen, wird nicht mehr so recht deutlich.
Die Spitze des Fortschritts
Das ist eben das Dilemma des Konservatismus: Wenn er die Zeichen der Zeit erkennt, muss er sich quasi selbst aufgeben. Diese Konsequenz verpackt in schönen Worten und wohltönenden Bekenntnissen zu ziehen, wird insbesondere Merkel vorgeworfen. Und nicht wenige Kritiker sehen darin eine Folge ihrer Sozialisation in der DDR, weil man dort ja sowieso auf die bürgerlichen und nicht zuletzt christlichen Traditionen gepfiffen habe. Das aber verkennt die Geschichte der Christdemokraten.
Einer der lautesten konservativen Wortführer der Nachkriegszeit war Franz Josef Strauss. 1968 überraschte er nicht nur seine Anhänger mit dem Satz, dass konservativ zu sein bedeute, „an der Spitze des Fortschritts zu marschieren“. Dieser Satz entsprang aber keiner plötzlichen Eingebung. Denn seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gab es eine ebenso heftige wie kluge Diskussion darüber, worin denn der Kern konservativen Denkens und konservativer Politik bestehe. Und das Ergebnis war tatsächlich, dass den Konservativen nichts anderes übrig blieb, als sich an die Spitze des Fortschritts zu stellen.
Herrschaft der Eliten
Diese Volte ergab sich nicht nur aus der Nachkriegssituation mit dem Wirtschaftswunder und dem Siegeszug von Wissenschaft und Technik. Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert erkannten konservative Theoretiker, dass sie sich die Zähne an der technisch-wissenschaftlichen Rationalität ausbissen. Denn die beherrscht die Welt, und wer das nicht akzeptiert, kann sich nur in Reservate flüchten. Entsprechend hat sich der Konservatismus damit arrangiert und sich die Standards des modernen Denkens zu eigen gemacht. Das ist der Konservatismus der zweiten Stufe.
Wissenschaft und Technik haben wiederum Konsequenzen, die dem konservativen Denken willkommene Haftpunkte bieten. Denn mit ihnen treten Experten ihre Herrschaft an. Das spezialisierte Wissen ist nichts für die Massen. Entsprechend können auch im Rahmen der Demokratie die wirklich wichtigen Entscheidungen nur von Eliten getroffen werden. Das Volk ist gar nicht in der Lage, die komplexen Hintergründe zu verstehen. Einer der wichtigsten und einflussreichsten Theoretiker des Konservatismus, Rüdiger Altmann, prägte dafür 1969 den Begriff der „formierten Gesellschaft“.
Unkalkulierbare Preise
Die heutige Eurokratie und die elitäre Herrschaft der Währungshüter entsprechen durchaus den Linien, denen die Konservativen seit Jahrzehnten folgen. Wie kommt es aber gerade jetzt zu einem Bruch, der direkt entgegengesetzte Konsequenzen hat, hier CDU, da AfD? Es lässt sich vermuten, dass der Preis des Fortschritts zu unkalkulierbar geworden ist und gerade deshalb konservative Reflexe im Sinne althergebrachter Werte greifen. Man versteht das aber erst, wenn man sieht, dass es auch in der CDU einen Bruch gibt, der dem der AfD gar nicht so unähnlich ist: die Energiewende.
Der damit gemeinte „Ausstieg aus der Kernenergie“ ist eine Entscheidung, die bestehenden Verträge und Verpflichtungen gegenüber den Lieferanten zu kappen und Wege für die Energiesicherung zu suchen, die zum Teil noch im Dunkeln liegen. Merkel hat sich damit viele Konservative in ihrer eigenen Partei zu Feinden gemacht. Diese Konservative glauben den Versprechungen der technischen Eliten; Merkel tut es nicht mehr. Der konservative Gedanke, Risiken nicht unbegrenzt einzugehen und statt dessen das Vorhandene zu bewahren, hat bei ihr die Oberhand gewonnen. Dass darin auch eine technologische Chance liegt, wird zwar gesagt, aber diese Chance ist nicht das ausschlagende Motiv für die Energiewende, die ja auch mit erheblichen wirtschaftlichen Risiken behaftet ist.
Zwei Arten der Risikoaversion
Strukturell ist der Ausstieg aus dem Euro ähnlich: Die Risiken immer höherer Rettungssummen erscheinen den Ausstiegsbefürwortern unvertretbar. Daher nehmen sie die Risiken der Verwerfungen, die einem Ausstieg folgen, eher in Kauf. Doch würden die Mitglieder der AfD eher bei der Kernenergie bleiben, während Frau Merkel und ihre Mitstreiter am Euro festhalten. Wir haben es also mit zwei ganz unterschiedlichen Arten der Risikoaversion zu tun. Zum anderen fällt auf, dass der Ausstieg aus dem Euro „noch konservativer“, also eher „rechts“ sein soll als der Ausstieg aus der Kernkraft.
Zwei Deutungen bieten sich an. Merkels Absage an die Kernkraft schliesst, ob von ihr so beabsichtigt oder nicht, an die Anti-AKW-Bewegung der Grünen und Linken an. Das verbindende Element beider liegt in dem konservativen Gedanken der Bewahrung der Schöpfung, der von Anfang an im Naturbegriff der Grünen eine massgebliche Rolle spielte. Insofern könnte man Merkels Wende auch als links-konservativ bezeichnen.
Ein altes Ressentiment
In der Absage an den Euro wiederum spielt die konservative Hochschätzung der Nation, des Nationalstaates oder schärfer gesagt: des Vaterlandes eine gewichtige Rolle. Deswegen können es die AfDler auch nicht lassen, mittels einiger ihrer Programmpunkte – z.B. Einwanderungspolitik – mit dem rechten Rand zu flirten. Das „Urwüchsige“ des Nationalen soll dem Wildwuchs unkontrollierter Finanzen entgegengesetzt werden. Das Ressentiment gegen das „internationale Finanzkapital“ hat allerdings in Deutschland schon einmal eine unselige Rolle gespielt – sowohl links wie rechts.
Was aber lehrt die Tatsache, dass unter Berufung auf den Konservatismus die gegensätzlichsten Optionen möglich sind? Als der Konservatismus in seiner ersten Stufe für das „Organische“, für Volk, Familie und Vaterland stand, ergaben sich seine Gegnerschaften und Optionen von selbst: „die Verteidigung bereits gelebter und erfahrener Geschichte gegenüber noch nicht gelebten und erfahrenen zukünftigen Vorstellungen vom richtigen Leben, der richtigen Gesellschaft“. (Martin Greiffenhagen) Als der Konservatismus seine zweite Stufe erreichte und zum Anwalt der Sachzwänge und der sie exekutierenden Eliten wurde, gab es auch natürliche Gegner: Linke und Grüne.
Keine Experimente!
Heute aber übernimmt der Konservatismus „Trends“, also die jeweilige Drift der Massengesellschaft, die seine geheiligten Werte angreifen, um weiterhin mit von der Partie zu sein. Und er scheut sich auch nicht, wirtschaftlichen, technischen und Finanz-Eliten im Zweifelsfall die Gefolgschaft aufzukündigen. Aus dem Konservatismus ist ein Chamäleon geworden. Allerdings ein unberechenbares. Denn man weiss nicht im Voraus, welche Farbe es annehmen wird.
Der Konservatismus kann sich nicht selbst konservieren. In diesem Sinne hat er keine Identität, auch wenn konservative Politiker sie lauthals beschwören. Sein Dilemma bestand schon im 19. Jahrhundert darin, dass er keine eigenen Themen hatte. Er reagierte immer nur auf Entwicklungen, die von anderen in Gang gesetzt wurden. Und wenn es gut für ihn lief, konnte er lange Zeit Stimmungen bündeln und damit Mehrheiten bilden: „Keine Experimente“ hiess es im Wahlkampf unter Konrad Adenauer 1957. Es war der erfolgreichste Wahlkampf einer deutschen Partei in der Nachkriegszeit.
Die Entdeckung der Langsamkeit
In Zeiten aber, in denen die Gesellschaft selbst zum Versuchslabor für alle möglichen technischen, wirtschaftlichen und politische Experimente geworden ist, kann der Konservatismus selbst keine risikolosen Optionen zur Geltung bringen. Denn aus der Risikogesellschaft gibt es kein Entrinnen. Zumindest in Deutschland sind die etablierten Konservativen klug genug, in Anbetracht dieser Tatsache populistischen Vereinfachungen und Verführungen zu widerstehen. An diesem Punkt wird sich die AfD noch bewähren müssen.
Was also ist konservativ? Konservatismus liegt jedenfalls nicht in dieser oder jener Option. Er könnte in einer skeptischen Geisteshaltung liegen. Einer Skepsis, die das Neue nicht reflexartig ablehnt, aber es nicht schon deshalb gut findet, weil es neu ist. Im besten Sinne könnte Konservatismus eine neue Entdeckung der Langsamkeit sein.