Die kremlkritische Zeitung „Novaya Gazeta“ versuchte kürzlich, ihren Lesern zu erklären, wie es zum neuen Konflikt zwischen Russland und dem Westen gekommen sei. Aufgeschreckt hätten den Westen 2014 die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel habe damals Russlands Präsident Putin kritisiert, er lebe in einer „anderen Realität“. Aber in welcher Realität lebt Putin wirklich? „Novaya Gazeta“ versucht zu erklären und macht auf ein für sie wichtiges Missverständnis aufmerksam: „Nicht verstanden werden im Westen die Mechanismen, wie die russischen Machthaber zu ihren Entscheidungen gelangen.“
Informelle Machtstrukturen in Russland
In den westlichen Hauptstädten blicke man auf die in Moskau etablierten formalen Machtstrukturen: Präsident, Präsidentenadministration, Parlament, Parteien, Gouverneure ... Putin selber habe früher einmal von einer „Vertikalen der Macht“ gesprochen, also von einer klaren Kommandostruktur. Davon habe sich Russland inzwischen entfernt. Realistischer sei es heute, so die „Novaya Gazeta“, von einem informellen Regierungssystem zu sprechen, in dem Putin als Moderator auftrete. „Es ist nicht möglich, Russland zu isolieren“, mahnt die Zeitung. „Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass im Westen verstanden wird, wer, wie und zu welchem Zweck im Kreml Entscheidungen fällt.“
Für den Westen schwer verständlich sind auch andere russische Realitäten. Zum Beispiel die Tatsache, dass auch zwei Jahre nach der Annexion der Krim, die im Westen als Völkerrechtsbruch mit Wirtschaftssanktionen bestraft wurde, Putin bei der russischen Bevölkerung weiterhin eine hohe Popularität geniesst. Für eine überwiegende Mehrheit der Russen fand eine „Wiedereingliederung“ und nicht eine völkerrechtswidrige Annexion der Krim statt. Obwohl der Konflikt mit der Ukraine ungelöst ist, will eine Mehrheit der russischen Bevölkerung mit dem Nachbarland in Frieden leben. Eine Wiedererrichtung der Sowjetunion befürwortet nur eine kleine, extrem nationalistisch ausgerichtete Minderheit. Das bestätigen Umfragen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada.
Fehleinschätzungen der USA
Ähnliche Fragen, aber aus amerikanischer Perspektive, stellt sich der bekannte Russlandexperte Gordon M. Hahn (www.gordonhahn.com, 27.Oktober 2016). In den USA sei man in den 90er Jahren überzeugt gewesen, der gleiche Prozess, der zum Zerfall der Sowjetunion geführt habe, könne wiederholt werden. Deshalb sei die US-Regierung nach dem Ende des Kalten Krieges bereit gewesen, in Russland und anderen postsowjetischen Ländern unter dem Begriff „Democracy promotion“ Milliarden von US-Steuergeldern für die Schulung von Kaderleuten, Propaganda und Geheimdienstaktivitäten aufzuwenden.
Der in Washington erwartete Zerfallsprozess habe aber nicht stattgefunden. Russland sei nach dem Untergang der Sowjetunion wohl in eine schwere Krise gestürzt, aber nicht zerfallen. Auch ein „Regime Change“ habe nicht stattgefunden. Im Gegenteil. Gordon M. Hahn erinnert: Als Folge der Krise hätten sich in Moskau die Fronten verhärtet. Ein wichtiger aussenpolitischer Grund dafür sei der Entscheid gewesen, das westliche Verteidigungsbündnis Nato bis an die Grenzen zu Russland zu erweitern. Dies habe in Moskau die antiwestlichen Hardliner gestärkt und Russland in die Arme von China getrieben. Der Westen habe diese Entwicklungen in Moskau einfach nicht ernst genommen.
Ist Putin an allem schuld?
Eine wichtige Ursache von Fehleinschätzungen in der Russlandpolitik des Westens sieht Gordon M. Hahn in der Personifizierung. Die westlichen Medien machten den russischen Präsidenten zu einer Dauerzielscheibe und reduzierten den neuen Ost-West-Konflikt auf Putin. Das führe zu folgenden falschen Schlüssen: Der Kremlchef verfolge eine neoimperiale Aussenpolitik mit dem Ziel, die Sowjetunion wieder zu errichten. Wenn Putin nicht bereit sei, seine aggressive Politik aufzugeben, dann werde in Russland als Folge der Wirtschaftskrise das Volk auf die Strasse gehen. Eine Palastrevolution mit einem Regimewechsel, so die Überlegung westlicher Strategen, sei unvermeidbar. Und ein Russland ohne Putin werde notwendigerweise ein anderes Russland sein.
Gordon M. Hahn stellt die Strategie des Westens in Frage und kommt zu einem anderen Schluss: „Putins Russland gibt es nicht, wohl aber Russlands Putin.“ Mit anderen Worten: Bei seinem Aufstieg zum Präsidenten hat Putin erfahren, wie das Machtsystem funktioniert. Er hat das Machtsystem nicht erfunden. Die Loyalität des Newcomers aus St. Petersburg wurde vom damals herrschenden Jelzin-Clan getestet. Und Putin verstand es, sich den Machtstrukturen anzupassen.
Hahn erinnert an die Protestbewegung im Winter 2011–2012, die ein „Russland ohne Putin“ gefordert habe, was sich als Trugschluss erwiesen habe. Eine auf Putin fokussierte Analyse übersieht das politische Umfeld, die russische Bevölkerung, Russlands historische Realitäten.
Ein Politik-Wechsel unter Trump ...
Welche Sicherheits- und Russlandpolitik ist vom künftigen US-Präsidenten Donald Trump zu erwarten ? Der an der Universität Chicago lehrende John J. Mearsheimer (The National Interest, 27. November 2016) erinnert: Die amerikanische Führung habe seit dem Untergang der Sowjetunion geglaubt, die ganze Welt dominieren zu können („liberal hegemony“). Ihre Doktrin habe folgendes Ziel gehabt: Jede Region der Welt ist für Amerikas Sicherheit entscheidend und muss unter Amerikas „Sicherheitsschirm“ kommen. Für Mearsheimer steht heute aber fest: „Die Politik der 'liberal hegemony' hat die USA in eine Sackgasse geführt.“ In insgesamt sechs Ländern des grösseren Mittleren Ostens (Afghanistan, Ägypten, Irak, Libyien, Syrien, Jemen) hätten die USA versucht, Regime zu stürzen und „Demokratie aufzubauen“. Das sei misslungen. Ausser in Ägypten, das wiederum eine Militärdiktatur geworden sei, herrsche in den erwähnten Ländern Krieg. Amerika sei mit dem Terrorismus und dem „Islamischen Staat“ konfrontiert, einer Folge der amerikanischen Invasion des Iraks.
Mearsheimer fordert von Washington unter Präsident Trump eine „realistische Aussenpolitik“. Das heisst konkret: „Die USA müssen die Souveränität anderer Staaten respektieren, auch wenn sie mit ihrer Innenpolitik nicht einverstanden sind.“ Die Amerikaner seien ja auch darauf erpicht, eigener Herr und Meister zu sein, und hätten Versuche russischer Hacker, die Präsidentschaftswahlen in den USA zu beeinflussen, mit Recht verurteilt. „Die USA“, so Mearsheimer, „müssen aber andere Länder nach dem gleichen Masstab behandeln und auch ihre Souveränität respektieren.“ Amerika sollte darauf verzichten, unter dem Vorwand von „democracy promotion“ sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen und auf der ganzen Welt Truppen zu stationieren.
Zu einer „realistischen Aussenpolitik“ gehören für Mearsheimer auch wieder normale Beziehungen mit Moskau. Russland stelle für Amerikas Sicherheitsinteressen keine Bedrohung dar. Auch falls Russland fähig wäre, nach einer Modernisierung und Diversifizierung die Wirtschaftsleistung zu steigern und die demographische Krise zu überwinden, bilde Russland keine militärische Gefahr für Europa. Mearsheimer ist überzeugt, die Europäer hätten genügend Mittel, für ihre eigene Sicherheit mehr Verantwortung zu übernehmen.
… oder bleibt alles beim Alten?
Mearsheimer befürchtet allerdings, eine „realistische Aussenpolitik“ habe auch unter einer Regierung Trump wenig Chancen. Eine starke Phalanx von Hardlinern sowohl im republikanischen wie im demokratischen Lager werde ein Umdenken in der Aussenpolitik blockieren. Es könnte also alles beim Alten bleiben.
Am Weihnachtstag vor 25 Jahren wurde die Rote Fahne über dem Kreml eingeholt und die russische Trikolore gehisst. Mit dem Ende der Sowjetunion verschwand auch der Feind. Das Interesse an Russland nahm in Europa und in den USA ab. Viele Lehrstühle, ganze Universitätsinstitute für Osteuropa verschwanden, in Moskau wurden Korrespondentenbüros westlicher Medien geschlossen. Die Sowjetologie machte der sogenannten Transitions-Theorie Platz. In den USA und Westeuropa herrschte die Meinung vor, in Russland würden Demokratie und Marktwirtschaft einziehen, Moskau werde sich automatisch als Juniorpartner in die transatlantische Ordnung eingliedern.
Heute wissen wir: Russland hat sich nicht an die Prämisse dieser Theorie gehalten. Hat Russland damit aber einen „falschen Weg“ eingeschlagen, wie viele Russlandbeobachter behaupten? Oder anders gefragt: Können Transformationsprozesse nur in einer, der vom Westen bestimmten Richtung verlaufen ?
Russland war immer „Unser liebster Feind“
Russland hat schon seit Jahrhunderten einen „anderen Weg“ eingeschlagen und erweckte deshalb in Westeuropa und den USA immer wieder Misstrauen. Weil das Russland der 90er Jahre kein potenter Feind mehr war und am Tropf der westlichen Kreditinstitute hing, hat es im Westen kurfristig sogar Sympathie genossen. Anfang der 90er Jahre herrschte im Westen eine Russland-Euphorie und in Russland eine West-Euphorie. Die „Verwestlichung“ Russlands hat sich aber als Wunschdenken erwiesen. Russland wird im Westen wieder als Feind wahrgenommen.
Für die Osteuropa-Historikerin Nada Boskovska (Universität Zürich) ist das nichts Neues: „In historischer Perspektive war der Kalte Krieg nichts anderes als die besonders ausgeprägte Form eines älteren Phänomens: des Gegensatzes zwischen dem Westen und Russland.“ Schon seit Jahrhunderten sei Russland „Unser liebster Feind“ gewesen (Tages Anzeiger, 30. Oktober 2014).
Gegensteuer aus den USA
In der grössten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges, in der wir eigentlich über die Gegenseite mehr wissen sollten, verstehen wir, dass der Abbau an Berichterstattung und Forschung ein Fehler war. Gegensteuer gibt die amerikanische Stiftung „Carnegie-Endowment for international Peace“. Das weltweite Netzwerk von Denkfabriken, das auch in Moskau ein Zentrum unterhält, will an drei amerikanischen Universitäten (Columbia, Indiana, Wisconsin-Madison) mit je einer Million Dollar „Russian Studies“ fördern. Die Stiftung gibt ein klares Zeichen. Denn es waren fehlendes Wissen und Angstmacherei, die auf beiden Seiten Feindbilder verstärkt und die schwerste Krise seit dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst haben.