Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die das Französische in der Primarschule unterrichten, aber die Sprache zu mangelhaft beherrschen, um den Weg nach einer Bus-Haltestelle erfragen zu können. Die fehlende Fähigkeit als Folge der fehlenden Freude, sich ennet der Saane barrierenfrei zu bewegen, ist der wesentliche und nie eingestandene Grund für die Ablehnung des Frühfranzösischen. Hätte die Lehrerschaft die Schönheit, den Reichtum und die Nützlichkeit des Französischen, die Faszination der französischen Welt und die enormen Leistungen der Romandie für die Schweiz entdeckt, wäre unsere zweite Amtssprache ein begeistert erteiltes Schulfach. Die Wirklichkeit besteht aus Ächzen und Stöhnen und aus der verzweifelten Suche nach Ausreden, um das Frühfranzösisch zu bodigen. Aktuell steht der Kanton Thurgau im Begriff, es abzuschaffen.
Entscheid aus dem Bauch heraus
Für die Liquidation und gegen den regierungsrätlichen Kompromissvorschlag, Französisch ab der 6. Klasse zu unterrichten, engagiert sich die vorberatende Kommission des Grossen Rates. Die Argumente sind so stabil wie ein Kartenhaus. Verwiesen wird auf die Wissenschaft, die sich uneinig sei, ob das Frühfranzösische den Kindern zum Segen oder zum Fluch gereiche. Das Patt trifft zu.
Alles andere als zwingend ist jedoch die Ableitung, es sei das Französische von der Primarschule fernzuhalten. Die divergierenden Studien würden auch den gegenteiligen Schluss gestatten. Die Kommission entschied sich aus dem Bauch heraus willkürlich.
Hilft die Wissenschaft bequemerweise nicht weiter, wäre es geboten, Pro und Contra aufgrund der eigenen Lebenserfahrung, mit einem Blick über den Gartenhag hinaus und in Berücksichtigung der Kantonsverfassung und die Regierungsrichtlinien sorgfältig gegeneinander abzuwägen und eine in sich stimmige Lösung zu erarbeiten.
Kooperation als Verfassungsauftrag
Die Verfassung legt den Kanton u. a. darauf fest, „den Bund in der Erfüllung seiner Aufgaben“ zu unterstützen und „die Zusammenarbeit mit anderen Kantonen“ anzustreben.
Die Richtlinien für die Legislatur 2016–2020 nennen als Thurgauer Eigenschaften „traditionell und innovativ, pragmatisch und visionär“ und geloben unter den Schwerpunkten, „Wissen und Können“ zu erschliessen und zu nutzen und „Chancen“ zu erkennen.
Im Lichte dieser Beteuerungen hätte es sich aufgedrängt, das Frühfranzösisch und mit ihm sowohl die Sprachenpolitik des Bundes als auch der Erziehungsdirektorenkonferenz freundeidgenössisch zu bejahen.
Nationale Gemeinschaft fördern
Auf kürzere Frist ist die Vermutung der vorberatenden Kommission richtig, der Thurgauer Sonderzug gefährde den nationalen Zusammenhalt nicht. Dafür braucht es in der Tat mehr als einen trötzelnden Kanton, der der Romandie die kalte Schulter zeigt.
Allerdings beruht die verharmlosende Prognose auf einem irrigen Verständnis der Willensnation Schweiz. Ihr Bestand und Gedeihen hängen nicht von Kantonen ab, die auf Störmanöver verzichten, sondern von Bundesgenossen, die jede Gelegenheit wahrnehmen, die nationale Gemeinschaft zu fördern.
Von dieser Aufgabe fühlen sich die gleichen Kreise dispensiert, die noch vor kurzem für die „Expo Ostschweiz“ kämpften. Mal Gastgeber für alle sein zu wollen und mal die Romandie brüskieren, passt wie die Faust aufs Auge.
Gerade der Thurgau müsste Zeichen setzen
Immer wieder beklagen sich die Thurgauer über Auswärtige, für die die Schweiz östlich von Winterthur endet. Das Gefühl, unbeachtet, wenn nicht gar verachtet in einer Randzone zu leben, nagt am Selbstbewusstsein, was zuweilen an rituell gepflegtes Selbstmitleid gemahnt. Jedenfalls so lange, als sich die Thurgauer der Frage verschliessen, was aus eigener Kraft gegen die – mehr eingebildete als tatsächliche – Isolation zu tun wäre.
Die Aufraffung aus berechtigtem Stolz könnte beginnen mit der interessierten Kenntnisnahme einer auch westlich von Winterthur vorhandenen Schweiz, die sich bis an den Lac Léman und den Lago Maggiore fortsetzt und den stummen Wechsel der Landschaft mit wechselnden Sprachen wunderbar vertont.
Das Ja zum Frühfranzösischen mit einem thurgauischen Akzent wäre ein Zeichen der Verbundenheit und die Einsicht in die Notwendigkeit eines Brückenbaus, für den beide Seiten die Ärmel hochkrempeln.
Politische Zielformulierung
Das Hickhack um das Frühfranzösische ist Kleingeisterei. Mag die Wissenschaft für die Suche nach Vorteilen und Nachteilen ihren orientierenden Dienst versagen: einig ist sie sich im Urteil über den hohen kulturellen und impulsgebenden Wert eines viersprachigen Landes und den daraus zu ziehenden Gewinn für den Einzelnen.
Es müsste eine Selbstverständlichkeit sein, die Schülerinnen und Schüler früh mit unserem spannenden Lebensraum vertraut zu machen und ihnen den sprachlichen Zugang zu erleichtern. Diese Zielformulierung mit staatslenkender Beherztheit wäre Sache der Politik. Die Pädagogik hätte sich um die praktische Umsetzung dieser Vorgabe zu kümmern und um die Überwindung bedenkenträgerischer Verzagtheit.
Zum Thema lesenswert ist das „Dossier Mehrsprachigkeit“ im „Bulletin SAGW“ 1/2017, das die Schweizerische Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften viermal jährlich herausgibt.