77 türkische Kampfflugzeuge haben am Samstagmittag Einsätze gegen die syrische Enklave Afrin geflogen. Sie wird von den kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) gehalten. Die Türkei versucht, die kurdischen Kräfte in Syrien zu zerschlagen. Am Sonntag drangen türkische Panzer in die Provinz ein.
Die türkische Presse, die stark der Regierungskontrolle untersteht, schrieb schon zwei Tage zuvor, der Angriff habe bereits begonnen. Dies sagte auch der türkische Verteidigungsminister. Er fügte allerdings ein „de facto“ hinzu: „Der türkische Angriff hat de facto begonnen“, was immer er damit sagen wollte. Erdogan selbst wiederholte dieses „de facto“ in einer seiner Erklärungen. Der Verteidigungsminister gab auch bekannt, sein Land habe die politischen Vorbedingungen für den Eingriff in der syrischen Kurdenenklave „minutiös vorbereitet“, um mögliche Verluste minimal zu halten. Jeder Schritt der Operation werde sorgfältig umgesetzt.
Beratungen mit Moskau
Die türkische Presse erklärte, der türkische Generalstabschef sei am vergangenen Donnerstag in Moskau gewesen, um dort Besprechungen zu führen. Über das Resultat dieser Unterredungen wurde nichts bekannt. Die Russen hatten gegen 300 Mann als Beobachter an der Grenze zwischen der syrischen Provinz Afrin und der Türkei stehen. Die türkische Presse behauptete, Russland habe begonnen, 180 dieser Beobachter abzuziehen. Der russische Aussenminister Sergei Lawrow sagte allerdings in New York vor den Medien: „Der Abzug der russischen Beobachter aus Afrin wurde dementiert“, ohne klar zu machen, wer das dementiert hat. Lawrow erklärte auch, ebenfalls etwas rätselhaft: „Die türkischen Streitkräfte hätten 23 bis 24 Kontrollposten in Idlib errichten sollen.“ Wollte er damit sagen, dass die Türkei dieser Verpflichtung oder diesem Versprechen nicht nachgekommen sei?
Idlib ist die südlich angrenzende Nachbarprovinz von Afrin. Laut türkischen Angaben sind dort Kräfte der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) eingedrungen. Diese werden von der Türkei unterstützt. Ob und wie viele türkische „Beobachter“ sich in Idlib befinden, ist unklar.
Drohungen aus Damaskus
Damaskus hatte seinerseits gewarnt, die syrische Luftwaffe würde türkische Flugzeuge abschiessen, falls diese in Afrin, auf syrischem Staatsgebiet, eingreifen sollten. Damaskus hatte allerdings eine vergleichbare Warnung schon im vergangenen August veröffentlicht, als die Türkei während der Operation „Euphrat-Schild“ in Nordsyrien einmarschierte. Doch es gab damals keine Versuche, türkische Flugzeuge abzuschiessen. Der türkische Verteidigungsminister erklärte als Antwort auf die syrische Drohung, Syrien sei von sich aus nicht in der Lage, etwas Wirksames zu unternehmen. Alles hänge von der russischen Unterstützung ab.
In den letzten Tagen wurden türkische Panzerkonzentrationen an der Grenze zwischen der Türkei und der syrischen Afrin-Provinz gemeldet. Andere Berichte sprachen davon, dass türkische Soldaten einen mit Zementmauern verstärkten Grenzzaun an vier Stellen geöffnet hätten, damit türkische Panzer freie Fahrt Richtung Afrin hätten. Auch Artillerieduelle über die Grenze hinweg wurden gemeldet.
Nicht ohne grünes Licht aus Moskau
Aus alledem geht hervor, dass die Türkei Afrin und die dortigen kurdischen YPG-Milizen, die in Ankara als Terroristen gelten, angreifen will. Dazu brauchten sie jedoch die Zustimmung der Russen. Ob ihnen Moskau dieses grüne Licht gegeben hat, blieb lange Zeit unklar.
Die Russen wollen einen Kurdenkrieg in Syrien, besonders wenn er von den Türken geführt wird, vermeiden. Denn sollte er stattfinden, wird sich die Situation in Syrien weiter verkomplizieren und verlängern. Dies ist nicht im Interesse Russlands, das den Syrien-Krieg offensichtlich beenden will. Die Russen stehen deshalb der Vorstellung einer kurdischen Teilautonomie in einem künftigen Syrien nicht ablehnend gegenüber. Doch Damaskus ist ohne Zweifel sowohl gegen eine kurdische Autonomie wie auch gegen ein Einschreiten der Türken gegen die Kurden auf syrischem Boden.
Die kurdischen Führer ihrerseits haben die USA und Russland aufgerufen, die Türkei von dem Angriff abzuhalten. In Afrin sollen sich gegenwärtig gegen eine halbe Million Menschen aufhalten. Die Hälfte davon sind kurdische Einwohner, die andere Hälfte Flüchtlinge aus dem übrigen Syrien, die in Afrin, wo bisher Ruhe geherrscht hatte, Unterschlupf suchten. Die kurdischen Sprecher in Afrin erklären sogar, in ihrer Provinz würde eine Million Menschen leben.
Amerikanische Widersprüche
Was die Amerikaner betrifft, so ist ihre Haltung unklar. Die amerikanischen Offiziere, die mit den „Syrischen Demokratischen Kräften“ (SDF) zusammenarbeiten, erklärten, sie wollten den SDF-Kämpfern helfen, eine Grenztruppe aus 30’000 Mann zu bilden. Die SDF sind aus kurdischen und arabischen Truppen zusammengesetzt, wobei die Kurden die führenden Kräfte sind. Die Ausbildung der Grenztruppe habe bereits begonnen. Als erstes würden 230 Mann trainiert.
Diese Erklärungen dürften der Anlass für die Türkei gewesen zu sein, ihr Vorgehen gegen die „Terroristen“ von Afrin anzukündigen. Der amerikanische Aussenminister, Rex Tillerson, flog nach Ankara, um die Türkei zu beruhigen. Dort erklärte er, die Ankündigung der Grenztruppe sei „falsch ausgedrückt und falsch dargestellt“ worden („misspoken and misrepresented“). Doch der türkische Aussenminister wies die amerikanische Erklärung als „unannehmbar“ zurück. Die Amerikaner hätten die Türkei schon zuvor mehrmals belogen. Über Membij hätten sie ebenfalls falsche Versprechungen abgegeben.
Arfin und Membij „reinigen“
Die Stadt Membij war ursprünglich das Ziel der türkischen Operation „Euphrat-Schild“, die im vergangenen Sommer in Nordsyrien ablief. Die Eroberung der Stadt wurde von den Amerikanern verhindert.
In Membij, einer Stadt, in der meist Araber und nicht Kurden leben, wurde dann ein lokaler Rat, eine Art Lokalregierung, eingesetzt. Die Türken dürften recht haben, wenn sie behaupten, dieser Rat sei von den kurdischen YPG-Milizen abhängig, obgleich er aus Einheimischen von Membij besteht. Eine ähnliche Lösung wurde in Raqqa getroffen, nachdem die Stadt von den SDF mit amerikanischer Unterstützung erobert worden war. Ein lokaler Rat wurde gebildet, um die Ruinenstadt zu verwalten. Doch hinter diesem lokalen Rat stehen die SDF-Kräfte als die eigentliche Machtstütze.
Die Türkei sah sich gezwungen, die Operation „Euphrat-Schild“ als erfolgreich zu erklären, obwohl sie Membij nicht eingenommen hat. Sie hatte ihr Hauptziel erreicht, indem sie die Lücke zwischen den kurdischen Kantonen von Hassakeh und Kobane im Osten und dem westlichen Afrin mit ihren Truppen besetzte. So verhinderte sie, dass die Kurden die Lücke schliessen konnten. Erdogan hat in seinen jüngsten Erklärungen zu Afrin auch an Membij erinnert. Er sagte, nicht nur Afrin, auch Membij werde nun von „YPG-Terroristen“ „gereinigt“ werden.
Tragbare amerikanische Raketen
Um die Verwirrung noch zu steigern, erklärte eine Sprecherin des Aussenministeriums in Washington: „Wir haben mit Afrin nichts zu tun. Wir operieren dort nicht. Unsere Aufgabe ist es, den IS in bestimmten Regionen zu bekämpfen und auch dafür zu sorgen, dass er nicht wieder aufersteht. Wir wollen die nötige Stabilität schaffen.“
Dennoch gibt es Berichte aus kurdischen Quellen, nach denen die Amerikaner den YPG-Milizen von Afrin grössere Mengen von „manpads“ geliefert hätten. Das sind tragbare Raketen, die geschultert werden können. Sie werden gegen Panzer und Helikopter eingesetzt. An die Adresse der Türken gerichtet sagte die Sprecherin: „Wir würden ihnen nahelegen, derartige Handlungen (gegen die Kurden) zu unterlassen. Wir wollen nicht, dass sie Gewalt anwenden. Wir möchten, dass sie sich weiterhin auf den IS konzentrieren.“
Was tun mit den Kurden?
Die Widersprüche und gewundenen, unklaren Reden der Russen und der Amerikaner zeigen, dass in Washington und wahrscheinlich auch in Moskau keine Klarheit darüber besteht, was mit den Kurden geschehen soll. Man kann vermuten, dass die hohen amerikanischen Offiziere weiter mit den Kurden zusammenarbeiten wollen. Die Amerikaner haben zusammen mit den kurdischen SDF-Kräften Raqqa erobert. Jetzt wollen die USA offenbar aus der kurdischen Streitmacht eine Grenzwärter-Truppe bilden. Die amerikanischen Offiziere sagen, sie seien auf unbestimmte Frist weiterhin in Syrien im Einsatz – dies auch nach dem Zusammenbruch des „Kalifats“ des „Islamischen Staats“. So wollten sie verhindern, dass sich der IS neu organisiert. Präsident Trump gewährt seinen Offizieren in Syrien offenbar grosse Entscheidungsfreiheit, dies im Gegensatz zu Obama, der verlangte, dass jeder Schritt, den die Offiziere in Syrien taten, zuerst in Washington abgesprochen werden musste.
Doch die Türkei reagierte dermassen wütend auf den angekündigten amerikanischen Schritt, dass der amerikanische Aussenminister den Versuch unternahm, sie zu beruhigen. Er behauptete, die USA hätten nichts mit Afrin zu tun. Die Türkei akzeptierte jedoch das amerikanische Dementi nicht.
Russische Besorgnis über die türkische Offensive
Als die türkischen Luftangriffe auf Afrin am Samstag um 14 Uhr begannen, erklärten die Russen, sie würden ihrerseits nicht eingreifen und ihre Beobachter abziehen. Moskau zeigte sich auch „besorgt“ über die türkische Aktion. Ein russischer Parlamentarier erklärte, die türkische Offensive werde im Sicherheitsrat der Uno zur Sprache gebracht.
Auch die Russen sehen die Kurdenfrage unter widersprüchlichen Aspekten. Einerseits besteht ihr Verbündeter und Schutzbefohlener, Asad, darauf, dass Syrien die Kurdenfrage ohne die türkischen Truppen lösen will. Andrerseits weiss Moskau, dass die syrischen Kurden, wenn ihre Anliegen kein Gehör finden, oder wenn sie teilweise unter türkische Besetzung kommen, nicht aufgeben und weiterhin für ihre Sache kämpfen.
Die Amerikaner könnten dann die Unzufriedenheit der syrischen Kurden dazu ausnützen, um Nordsyrien in einem Dauerzustand der Unruhe zu halten. Was für Moskau bedeuten würde, dass die russischen Soldaten und Flugzeuge weiterhin in Syrien bleiben und dort Krieg führen müssten. Dies würde der russischen Absicht zuwiderlaufen, die darauf ausgeht, in Syrien Ruhe zu schaffen, um die russischen Gewinne zu bewahren und abzusichern. Aus solchen Gründen zieht Moskau – wie die russischen Sprecher gelegentlich andeuten – mindestens in Betracht, dass die Kurden ihre Autonomie oder Teilautonomie innerhalb eines zukünftigen syrischen Staates bewahren könnten.
Moskau als künftiger Schutzherr der Kurden?
Doch andrerseits wird sich Moskau hüten, eine „Lösung“ der Kurdenfrage in Syrien mit allen Mitteln durchzudrücken, solange die Amerikaner in Syrien stehen und dort als Verbündete der Kurden handeln. Wenn die Türken den Kurden Angst einjagen und vielleicht ganz Afrin besetzen, kann dies den Russen insofern recht sein, als es den Kurden zeigt, dass auf ihre amerikanischen Verbündeten kein Verlass ist. Dies dürfte die Zusammenarbeit der beiden untergraben.
Moskau könnte dann die Amerikaner als Schutzherr der Kurden ablösen und versuchen, sie mit einer eingeschränkten Autonomie, nach dem Vorbild der russischen Föderation, in einem künftigen unter russischer Hegemonie stehenden Syrien zufriedenzustellen.
Offensive in Idlib
Während in Afrin eine neue Front entsteht, haben die Truppen Asads, unterstützt von Hizbullah und pro-iranischen Hilfstruppen, eine Offensive in Idlib begonnen. Dass sie früher oder später das letzte grössere Gebiet Syriens angreifen würden, das noch von den Rebellen beherrscht wird, war zu erwarten. Möglicherweise haben sie ihre Offensive beschleunigt, um den Türken in Idlib zuvorzukommen.
Die syrischen Streitkräfte melden, sie hätten den Militärflughafen von Abul Dhur, südöstlich der Stadt Idlib, den Rebellen entrissen. Der Flughafen fiel 2015 in die Hände der Aufständischen. Jetzt gelang es der syrischen Armee, mit Angriffen aus Süden und Nordosten den Flughafen zurückzuerobern und den südöstlichen Teil der Provinz abzuschneiden. Die syrische Offensive wird durch heftige Luftangriffe unterstützt. Die Uno erklärt, in Idlib befänden sich zurzeit über 200’000 Menschen auf der Flucht vor den Bombenangriffen.