Man kann sie mögen oder nicht. Man kann ihr Fehler vorhalten und sie für das Schlamassel mitverantwortlich machen. Aber ihre Beharrlichkeit und ihr Stehvermögen sind in der Politik einmalig.
Was macht diese Frau durch! Sie schläft kaum mehr, ihre Augenringe werden von Tag zu Tag schwärzer. Sie wird von der britischen Presse erniedrigt und gedemütigt. Der Daily Mirror schreibt: „Keine Hoffnung, keine Ahnung, kein Vertrauen.“ Doch sie macht weiter. Wieder ist sie in Brüssel, wieder verhandelt sie mit den europäischen Regierungschefs, wieder ruft sie ihr Kabinett zusammen, und wieder streitet sie mit ihren eigenen Leuten.
Die britischen Medien verwenden die Metapher vom „English Bulldog“. Der Hund gebe nie auf und sei beharrlich. Englische Züchter beschreiben ihn so: „His tenacity and resolve mean that it’s difficult to change his mind once he decides to do something.“ So wie Theresa May.
Angst vor Neuwahlen
Sie kämpft an vielen Fronten: Gegen Boris Johnson, gegen einen grossen Teil ihrer eigenen Partei, gegen Labour, gegen populistische Scharfmacher – und vor allem gegen die EU. Und es gibt Besonderheiten und Erstaunliches in diesem Durcheinander.
118 Abgeordnete der Tories (Konservative) stimmten gegen die EU-Politik von Theresa May, aber gleichzeitig stützen sie sie. Sie bescheren ihr die schlimmsten Demütigungen, aber sprechen ihr anschliessend das Vertrauen aus. Einer der Gründe ist wohl, dass die Partei Angst vor einem Sturz der Regierung und vor Neuwahlen hat. Laut jüngsten Meinungsumfragen liegen die Konservativen und Labour etwa gleichauf.
Ein „Unfall“?
Die Brexit-Abstimmung vom Juni 2016 wird von vielen als „Unfall“ bezeichnet. 51,89 Prozent stimmten für den Austritt aus der EU. Sicher ist, dass vielen „Brexiteers“ die konkreten Konsequenzen eines Austritts nicht bewusst waren. Die Abstimmung war auch ein allgemeiner Protest gegen die damalige Regierung Cameron.
In der Zwischenzeit ist viel geschehen. Die Konsequenzen sind deutlich geworden. Der Austritt birgt die Gefahr von mehr Armut, das Pfund könnte erheblich an Wert verlieren, grosse internationale Firmen verlassen das Königreich, die Arbeitslosigkeit könnte steigen, das Land wird isoliert, der Zugang zu den Märken wird schwierig und bürokratisch. Selbst Versorgungsengpässe drohen.
Kein gigantischer Meinungsumschwung
Da sollte man meinen, dass all dies einen riesigen Stimmungsumschwung bringt: dass jetzt, wo die Folgen langsam bekanntwerden, das Lager der Brexit-Befürworter ausgedünnt wird.
Doch was geschieht: Zwar ist die Stimmung gekippt. Knapp 52 Prozent waren vor drei Jahren für den Austritt. Laut letzten Umfragen sind jetzt 52 Prozent gegen den Austritt. Das Erstaunliche ist: „Nur“ 52 Prozent. Also: Trotz des Debakels, das Britannien jetzt ereilt, ist noch immer fast die Hälfte, 48 Prozent, für den Austritt. Das ist kein gigantischer Stimmungsumschwung.
Hass auf die EU?
Wie ist das zu erklären? Da gehen die Analysen weit auseinander. Ist die EU mit ihrer unnachgiebigen und unflexiblen Haltung schuld? Ist der Hass auf die EU so ausgeprägt, dass man selbst mehr Armut und Arbeitslosigkeit in Kauf nimmt? Ist alles eine neue Aufwallung des englischen Nationalismus und Chauvinismus? Spielt das sprichwörtliche englische „Wir sind eben anders als die Festland-Europäer“ wieder eine grössere Rolle? Glauben die Austrittswilligen ihren Anführern, dass es England bessergeht, wenn es sich auf der Insel verschanzt?
Erstaunlich ist auch, dass alles kein Links-rechts-Problem ist: nicht Konservative gegen Labour und Labour gegen Konservative. Beide Parteien sind gespalten. Gäbe es nicht andere ideologische Differenzen, könnten die Brexit-Gegner von Tories und Labour eine eigene Partei bilden – und umgekehrt.
Wenig beliebter Corbyn
Natürlich geht es wie immer auch um politische Machtkämpfe. Der umtriebige Wirrkopf Boris Johnson, zurzeit der beliebteste Politiker der Tories, kämpft gegen alles, was Theresa May will. Er hat nur ein Ziel: Er will May stürzen und selbst Premierminister werden.
Das gleiche Ziel verfolgt der linke Labour-Parteichef Jeremy Corbyn. Er bezog lange keine Position und spielte ein eher undurchsichtiges Spiel. Jetzt, nach Mays gigantischer Niederlage im Parlament, fordert er deren Kopf, verlangt Neuwahlen und hofft, an die Macht zu gelangen. Labour steht zwar in Umfragen gut da, doch der doktrinäre Corbyn ist wenig beliebt. Dass er ein Gespräch mit Theresa May verweigert, kommt auch in der eigenen Partei schlecht an. Vielleicht hat er da den Bogen überspannt.
Die EU am Pranger
Bleibt die Frage: Hat die EU alles richtiggemacht? Hätte sie mit einer konzilianteren Haltung England in der EU halten können? Diesen Vorwurf muss sich Brüssel heute häufig gefallen lassen. Nicht zu unrecht.
„Ich verstehe nicht, weshalb die EU den Briten nicht ein besseres Angebot gemacht hat“. Dies erklärte am Donnerstag der Münchner Nationalökonom Hans-Werner Sinn in der Sendung „Tagesgespräch“ des Schweizer Radios SRF 1.
Der frühere Premierminister David Cameron habe ja versucht zu erreichen, dass Migranten aus andern EU-Staaten nur eine verzögerte Integration in das britische Sozialsystem gewährt würde. „Die EU aber sagte, nein, das machen wir nicht. Wir haben unsere Regeln, wir verhandeln nicht darüber. Also ging er mit leeren Händen nach Hause. Und das Resultat war schliesslich der Brexit.“
Aber man hätte doch auch mit einem Angebot über veränderte soziale Migration in Europa auf die Briten zugehen können, sagte Sinn. Ein Angebot, das London nicht hätte ablehnen können.
„Wir sollten jetzt die EU ändern“
Brüssel sei hart gewesen, erklärte Hans-Werner Sinn im SRF-Interview weiter. „Brüssel hat gesagt, es gibt kein Rosinenpicken. Weil die Briten die Freizügigkeit für Arbeitskräfte nicht wollten, hat Brüssel gesagt, dann kriegt ihr gar nichts. ... Diese harte Haltung stiess den Briten auf. Denn sie wollten schon noch Freihandel für Güter, Dienstleistungen und Kapital, aber nicht, dass Arbeitskräfte einwandern. Viele haben sich darüber geärgert, weil sie ihre Jobs gefährdet sahen – ob zu Recht oder nicht.“
Sinn fährt fort: „Wenn man Angst hat davor, dass es Nachahmer gibt, dann ist das doch der beste Beweis dafür, dass da was faul ist in der EU. Die Briten zeigen uns, dass nicht alles so gut funktioniert. Brüssel verletzt das Subsidiaritätsprinzip, reguliert, wo sie gar nichts regulieren muss. Die Briten haben den Finger in die Wunde gelegt. Deswegen sollten wir jetzt die EU ändern. Wir sollten diese Gelegenheit nutzen und den Briten das Angebot machen, die EU so zu verändern, wie sie es wollen, sodass wir insgesamt ein besseres System haben.“
Während über die Gründe des jetzigen Debakels diskutiert wird, kämpft Theresa May weiter. Die Fronten scheinen festgefahren. Das Schlamassel ist da. Doch die englische Bulldogge gibt nicht auf. Im Moment sieht es nicht gut aus für sie. Doch sie wird kämpfen, sich beleidigen lassen, sich diffamieren, anpöbeln und verspotten lassen. So lange, bis sie etwas erreicht hat – oder bis sie endgültig gescheitert ist. Was für eine Frau!