Wir leben in einem Meer schlechter Nachrichten. Nicht nur, dass Gewalt zunehmend an die Stelle vorausschauender Politik tritt. Vielmehr ist auch das Wirtschaftssystem aus den Fugen geraten. Schulden wachsen, Volkswirtschaften trudeln, die Massenarbeitslosigkeit frisst die Zukunft der Jugend.
Die neue Solidarität
In Zeiten wie diesen nicht nur einen Silberstreif am Horizont zu sehen, sondern eine geradezu glänzende Zukunft zu prophezeien, erfordert entweder ein extremes Mass an Ignoranz oder umgekehrt einen geradezu genialen Blick. Der Amerikaner Jeremy Rifkin ist vielleicht nicht genial, aber er hat die Gabe, Trends zu erfassen, die anderen entgehen.
Seine neueste These: Wir steuern auf das Ende des Kapitalismus zu, und das ist gut so. Denn nach diesem Ende erwarten uns nicht Chaos und Not, sondern eine solidarische Gesellschaft, in der es keinen Mangel mehr gibt. Wie es dazu kommt? Ganz einfach: Da die Maschinen immer mehr Arbeit verrichten, verursachen Produkte immer weniger Kosten. Damit entfallen aber auch die Gewinne, also das Motiv des unternehmerischen Egoismus. Güter sind nun frei zugänglich, zumal da sie dank der 3-D-Drucker und anderer Technologien von jedem immer einfacher zu produzieren sind.
Lebhafte Debatten
Das ist das Eine. Der zweite Faktor besteht für Rifkin darin, dass dank der modernen Informationstechnik vieles, was man früher teuer erwerben musste, um es zu nutzen, heute sehr billig und einfach geliehen werden kann. Das Internet ist auch zu einer riesigen Tausch- und Verleihagentur geworden. Insgesamt käme die Gesellschaft also mit deutlich weniger Produkten aus. Statt Besitzdenken macht sich nun der Geist des Teilens breit.
Diese neue These Rifkins hat, zuerst in den USA und neuerdings auch in Deutschland, zu lebhaften Debatten angeregt. Der Gedanke, dass wir auf kein Ende mit Schrecken, wohl aber auf ein Ende mit neuer Morgenröte zugehen, ist ebenso faszinierend wie irritierend. Rifkin spricht selbst davon, dass diese Voraussage gegen tief verwurzelte Überzeugungen steht.
Falsche Vorhersagen
Das Problem, das bei Prognosen dieser Art regelmässig übersehen wird, liegt dabei gar nicht in der Prophezeiung Rifkins, sondern in der Frage, ob überhaupt noch irgendwelche Vorhersagen möglich sind. Es geht also gar nicht darum, ob eine Voraussage utopisch anmutet oder nur bestehende Tendenzen in die Zukunft verlängert, also eher konservativ ist. Die Frage nach der Zuverlässigkeit von Prognosen ist keine theoretische Spielerei. Denn Massnahmen von grösster Bedeutung hängen an Vorhersagen. Das prominenteste Beispiel dafür ist die Geldpolitik der internationalen Notenbanken.
Da muss man leider feststellen, dass sich zumindest in den vergangenen Jahren keine einzige Annahme bewahrheitet hat. Und das, obwohl die Wirtschaftswissenschaften in voller Blüte stehen sollten, nimmt man einmal die Nobelpreise als Massstab, von denen gerade jetzt wieder einer "für herausragende Leistungen" verliehen worden ist. Und auch für die Politik gilt: Erwartungen und tatsächliche Verläufe oder Resultate haben, wenn überhaupt, nur höchst selten etwas miteinander zu tun.
Bauch statt Kopf
Die Tatsache, dass Prognosen selten oder nie zutreffen, hat desaströse Folgen. Wenn es keine glaubhaften Prognosen mehr gibt, lassen sich auch keine Ziele mehr angeben, die es anzusteuern gilt. Politiker übernehmen dann keine Führung, sondern moderieren nur noch. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist darin sehr konsequent. Den Massstab ihres Handelns bestimmen Meinungsumfragen, für die sie die teuersten Institute in Anspruch nimmt.
Die Folgen dieses politischen Mangels zeigen sich am Erstarken rechter und populistischer Parteien. Denn wenn es keine glaubwürdig vermittelbaren politischen Ziele mehr gibt, die rational nachvollziehbar sind, treten Emotionen in den Vordergrund, für die alles, was nicht direkt erlebbar ist und Vorteile bringt, sowieso Spinnerei ist.
Access
Gruppendenken, Abgrenzung, Abschliessung sind die Folgen. Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu aberwitzig an, dass Jeremy Rifkin eine Kultur der Empathie und des Teilens anbrechen sieht. Trotzdem ist dieser Mann ein anerkannter politischer Berater und kann sich nicht über mangelnde Wertschätzung beklagen. Wie geht das zusammen?
Für seine neueste Prognose kombiniert Rifkin zwei Gedanken, mit denen er früher schon höchst erfolgreich an die Öffentlichkeit getreten ist. Im Jahr 2000 kam sein Buch, „Access. Das Verschwinden des Eigentums“, heraus. Darin beschrieb er sehr anschaulich einen schon seit Jahrzehnten ablaufenden Prozess. Der besteht darin, dass der unmittelbare Besitz an Produktionsmitteln weniger wichtig ist als der Zugang zu ihnen. So haben die grossen Filmproduzenten in Hollywood konsequent ihre eigenen Studios aufgegeben und ihre eigenen Kameraleute und Techniker entlassen, um Studios und Personal jeweils zu mieten, wenn ein neues Filmprojekt ansteht. Und auch der Normalverbraucher mietet im Zweifelsfall, anstatt immer gleich zu kaufen.
Neue Empfindsamkeit
Genau zehn Jahre später sah Rifkin „Die empathische Zivilisation“ anbrechen. Damit meinte er, dass die Menschheit insgesamt sensibler geworden sei. Die Menschen fühlten sich in ihre Mitmenschen tiefer ein als früher und hätten auch mehr Sinn für die Empfindungen der Tiere. Geschickt nutzte Rifkin für seine Diagnose neueste Ergebnisse der Neurobiologie. Zudem legte er ausführlich dar, dass in den zahllosen Filmen, Büchern und Illustrierten kein Thema so wichtig sei wie die Frage, was Menschen empfinden, wie sie denken und handeln.
Die Prognosen von Rifkin enthalten also einen hohen Anteil an scharfsichtiger Gegenwartsanalyse oder Zeitdiagnostik. Dabei kann man ihm vorhalten, dass er die Tendenzen, die seine These stützen, in grelles Licht taucht, während er das, was nicht dazu passt, in wohltätiges Dunkel hüllt. Aber dieser Einwand liesse sich auch gegenüber anderen profilierten Autoren erheben.
Positive Ressourcen
Gewichtiger sind zwei Probleme. Das eine besteht in einem Grundsatz der Trendforschung: Jeder Trend erzeugt seinen Gegentrend. So kann dem Trend zum Teilen ein Trend zum Besitzen entgegentreten. Das ist ökonomisch zudem einsichtig. Denn was geschieht mit dem Geld, das beim Leihen und Tauschen eingespart wird? Wird man es nicht für exklusive Güter oder Freizeitaktivitäten ausgeben, die zudem den Vorteil haben, das eigene Prestige zu heben?
Und so sehr sich das Internet, die damit verbundenen Technologien und Aktivitäten auch ausbreiten, so wenig lassen sie sich auf das ganze Leben übertragen. Zwar ist es richtig, dass unzählige Menschen unentgeltlich für Open-Source-Projekte arbeiten, Musik, Fotos und Texte teilen und sich in Social Networks engagieren. Aber es bleiben doch eine Menge Arbeiten übrig, die so aufreibend, gefährlich oder unangenehm sind, dass man ohne Bezahlung für sie niemanden findet.
Sind Prognostiker wie Jeremy Rifkin am Ende bloss geschickte Unterhaltungskünstler, ihre Inhalte aber wertlos? Das wäre ein Fehlschluss. Denn es ist sehr wertvoll, Gegenwartsanalytiker zu haben, die nicht nur auf künftige Gefahren und nahende Katastrophen verweisen, sondern auch auf positive Ressourcen aufmerksam machen.
Jeremy Rifkin, Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft - Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus, Campus, Frankfurt / New York 2014
GDI Impuls, maximal - minimal, Nummer 3 . 2014