Herrliche Sätze kommen da manchmal aufs Papier, berauschende Wortkaskaden, die durch die Schönheit ihres Rhythmus und ihrer Melodie den Schreibenden dazu verführen, sie für die Wahrheit zu halten, aber die er nach genauerem Hinsehen verwirft – verwerfen sollte –, weil ihre Aussagen den Kriterien der Vernunft nicht standhalten.
Wittgensteins Geständnis
Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um jene vor hundert Jahren vom französischen Arzt Pierre Janet entwickelte Methode, zur psychiatrischen Behandlung von Patienten automatisches Schreiben gewollt herbeizuführen. Auch nicht um das automatische Schreiben der Surrealisten, mit dem sie die Welt des Unbewussten ans Licht bringen wollten.
Es geht um das Phänomen, dass manchmal im Laufe des Schreibens die Sprache sich plötzlich von alleine, aus sich selber heraus, verselbständigt. Unter Wittgensteins „Vermischten Bemerkungen“ findet sich das Geständnis: „Ich denke tatsächlich mit der Feder, denn mein Kopf weiss oft nichts von dem, was meine Hand schreibt.“ Er verstand Philosophie als „Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“.
Meinungen von Karl Kraus und Paul Valéry
Viele haben über das Thema geschrieben, Dichter, Sprachgelehrte, Philosophen, Psychologen. Man findet bei ihnen lauter verschiedene, teils gegensätzliche Meinungen dazu. Karl Kraus war der Auffassung, die Sprache sei die Mutter, nicht die Magd des Gedankens. Er gestand: „Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht habe und nicht in Worte fassen könnte, aus der Sprache geschöpft“. Lichtenberg dagegen wollte, dass der Gedanke das Wort erzeuge. Er schrieb: „Bei unsern Modedichtern sieht man so leicht, wie das Wort den Gedanken gemacht hat, bei Milton und Shakespeare zeugt immer der Gedanke das Wort.“ .
Der französische Dichter und Philosoph Paul Valéry, der ununterbrochen über das Schreiben nachdachte, rang ebenfalls mit der Frage: „Aber wer spricht denn eigentlich in einem Gedicht?“ Er zitiert seinen Freund und Lehrer: „Mallarmé wollte, dass es die Sprache selber sei.“ Valéry dagegen war bestrebt, seine Kreativität voll und ganz dem Bewusstsein zu unterstellen. „Im Bereich der Literatur war es mein Traum, ein vollständig überlegtes Werk zu schaffen.“ Jedes Wort eines Gedichtes oder Prosatextes sollte, so Valéry, bei vollem Bewusstsein gewählt und hingesetzt, jede Zeile, jede Strophe, jeder Absatz bei vollem Bewusstsein gestaltet werden.
Sokrates und Schiller
Es gelang ihm nie. Er gestand, dass sich immer ein unbewusstes, „inspiriertes“ Element einschlich. „Einige meiner Verse gaben mir das Gefühl, sie seien durch die musikalische Kontinuität geschaffen worden und hätten diese auch selber geschaffen.“ Genau dies erwartete Sokrates bei den Dichtern. Er erläuterte dem Geschichtenerzähler Ion (was Goethe allerdings als Persiflage, als ironisch gemeint verstanden wissen wollte ): „So wie die Korybantentänzer nicht bei Sinnen sind, wenn sie tanzen, so dichten auch die Liederdichter ihre schönen Lieder nicht bei Sinnen, sondern sobald sie eintreten in den Strom von Harmonie und Rhythmus und in göttlicher Ergriffenheit und Besessenheit schwärmen.“ Schiller warnte in seinen Votiftafeln unter dem Titel „Dilettant“vor der Fragewürdigkeit solchen Dichtens:
"Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein.
Die Sprache, die für dich dichtet und denkt!"
Der Wiener Sprachwissenschaftler Friedrich Kainz gelangte in seiner Studie über die Sprachverführung des Denkens zum Schluss, die Sprache sei kein passiv-indifferentes, kein gefügiges Medium der geistigen Arbeit, sondern bringe ihre Eigengesetzlichkeit, ihre ihr innewohnende Dynamik mit ins Spiel und damit die Möglichkeit einer sprachinduzierten Missleitung des Denkens.
Einwände gegen Hannah Arendts "Banalität des Bösen"
In der Tat: Gottfried Benn postulierte: "Stil ist der Wahrheit überlegen“, und verfasste Lobschriften auf Hitler. Hannah Arendt erlag im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess der Versuchung, das plakative Schlagwort von der „Banalität des Bösen“ zu prägen, das mehr der dichterischen Gepflogenheit des Alliterierens als den Erfordernissen zuverlässigen Denkens gehorcht. Der Schriftsteller Jean Améry wies denn auch sofort darauf hin, dass wohl Eichmann und alle andern Nazi-Schergen banal gewesen sein mögen, aber dass das Böse, das sie taten, alles andere war als banal.
Heideggers Schüler Karl Löwith schrieb mit Bezug auf seinen Lehrer von der Gefahr, dass man „die Sprache nicht nur sprechen, sondern auch für uns denken“ lasse, und Karl Jaspers bemerkte in seinen kritischen „Notizen zu Martin Heidegger“ , dessen Sprache habe die „Anziehungskraft der geheimnisvollen Formulierung – der dunklen Tiefe“, aber es frage sich, was das philosophisch bedeute. Sich selber gab Jaspers dort die Maxime: „Herr seiner Gedanken bleiben.“