Er polarisierte wie kaum ein anderer Politiker. Seine Anhänger sahen in Chávez eine Art Messias, einen unerschrockenen Kämpfer wider Unrecht und Elend. Seine Gegner hingegen brandmarkten ihn als selbstsüchtigen Tyrannen, als roten Teufel in Menschengestalt.
Weniger Armut
Der ehemalige Fallschirmspringer-Oberst war weder das eine noch das andere. Er hat in den vierzehn Jahren, in denen er Venezuela regierte, einiges erreicht, aber auch vieles versäumt oder blockiert. Unter ihm ist die Armut, eine der schlimmsten Geisseln vieler lateinamerikanischer Länder, von 45 auf 28 Prozent gesunken. Bei der Bildung, im Gesundheitsbereich und im Rentenwesen hat die Regierung Reformen in die Wege geleitet, die heute handfeste Ergebnisse zeigen.
Dank des hohen Erdölpreises verfügte die Regierung über genügend Geld, um mit zahlreichen Sozialprojekten die Not kurzfristig etwas zu lindern. Sie entwickelte jedoch, im Kampf gegen die Armut keine nachhaltigen Strategien. Letztlich reduzieren nur Arbeitsplätze die Armut längerfristig. Aber das, stellte vor ein paar Wochen Toni Keppler in einem Kommentar in der WOZ treffend fest, „geht langsamer und ist mühsamer, als einfach nach Gutsherrenart das Geld unter den Armen zu verteilen“.
Mehr Inflation
Die Fortschritte hin zu einer gerechteren und partizipativeren Gesellschaft können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter Chávez viele Probleme ungelöst blieben oder sogar noch verschärft wurden. In Venezuela wuchs die Wirtschaft, die nach wie vor extrem von den Erdölexporten abhängig ist, in den letzten Jahren weit weniger stark als in anderen lateinamerikanischen Staaten.
Dafür leidet das Land unter einer der weltweit höchsten Inflationsraten. In den kommenden Monaten wird die Teuerung von gegenwärtig etwa 20 Prozent weiter ansteigen, nachdem der geschäftsführende Vizepräsident Nicolás Maduros vor ein paar Wochen die Landeswährung um ein Drittel abwerten musste.
Die absolute Fixierung auf Chávez
Chávez hatte nie Zweifel aufkommen lassen, dass er nur sich selbst für fähig hielt, die Geschicke des Landes zu lenken und die vom ihm propagierte und stets nur vage definierte Bolivarische Revolution voranzutreiben. Er verfügte über Charisma und eine beachtliche Führungskapazität. Die absolute Fixierung auf Chávez stiess aber mehr und mehr selbst vielen seiner Anhänger im In- und Ausland sauer auf. Die von ihm angestrebten Reformziele sind nie unabhängig von seiner Person diskutiert worden. Selbst Debatten innerhalb der Bolivarischen Bewegung wurden meist im Keim erstickt, weil alle Kritik als Kritik am selbst ernannten Revolutionsführer aufgefasst wurde.
Der eigenwillige Linksnationalist steigerte sich immer mehr in seine Rolle als unentbehrlicher Heilsbringer für ganz Lateinamerika hinein. Das machte ihn aber noch nicht zum Diktator, als den ihn seine politischen Gegner verschrien. Er verfügte zwar über einen ausgeprägten Machttrieb und ein enormes Sendungsbewusstsein, nach mehreren eindeutigen Wahlsiegen aber auch über eine stärkere demokratische Legitimation als die meisten anderen lateinamerikanischen Präsidenten.
Der uncharismatische Kronfavorit
Jetzt ist er tot, mit 58 Jahren an Krebs gestorben. Und nicht nur seine Landsleute fragen sich, wie es ohne ihn in Venezuela weitergehen wird. Gemäss der Verfassung sind innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen anzusetzen. Ginge es nach Chávez, müsste sein geschäftsführender Vize Nicolás Maduro in seine Fussstapfen treten. Im ehemaligen Aussenminister sah er den zuverlässigsten Garanten dafür, dass die „Bolivarische Revolution“ auch ohne ihn weiterlebt. Der ehemalige Buschauffeur und Gewerkschaftschef gilt als sehr loyal und linientreu, verfügt jedoch über wenig Ausstrahlung. In den vergangenen Wochen versuchte er sich allerdings ähnlich kämpferisch zu gebärden wie früher Chávez. Auch er beschimpfte Andersdenkende hemmungslos als Landesverräter, geldgierige Oligarchen und Steigbügelhalter der verhassten US-Regierung,
Maduro hat hoch und heilig versprochen, auf dem von Chávez vorgezeichneten Weg weiterzugehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Venezuelas nächster Präsident wird, ist gross. Chávez hat in auf seinem Krankenlager zum Kronfavoriten erkoren, und das dürfte für die Mehrheit der Wähler Grund genug sein, ihm allen möglichen Vorbehalten zum Trotz ihre Stimme zu geben. Kommt dazu, dass die Opposition mittlerweile zwar geschlossener auftritt, für Venezolaner aus den unteren sozialen Schichten aber nach wie vor nicht als eine glaubwürdige Alternative angesehen wird.
Auch wenn vieles darauf hindeutet, dass die Chávisten auch ohne Chávez vorläufig an der Macht bleiben, ist damit nicht automatisch das politische Erbe des verstorbenen Staatschefs gesichert. Für Chávez waren er und die Bolivarische Revolution eins. Und auch viele seiner Landsleute identifizierten ihre mehr oder weniger konkreten Vorstellungen von einer gerechteren und partizipativeren Gesellschaft mit seiner Person. Maduro hat zugesichert, an den Projekten zur Armutsbekämpfung, den Reformen im Bildungsbereich und im Gesundheitswesen sowie den Plänen zur Verminderung der Wohnungsnot festzuhalten. Fragt sich nur, wie lange genug Geld dafür vorhanden ist und ob Maduro sich in der Regierungspartei ebenso durchsetzen kann wie Chávez.
Der Sonderfall Kuba
Chávez war nicht bloss die einigende Überfigur der venezolanischen Linken, er prägte bis zu einem gewissen Grad auch die politischen Entwicklungen in Ecuador, Bolivien und Nicaragua mit. Diese Länder werden heute ebenfalls von Politikern regiert, die mehr oder weniger ausgeprägt den Vorstellungen eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts huldigen.
Besonders eng war die Beziehung von Chávez zur kubanischen Führung. Er war nicht nur der politische Ziehsohn von Fidel Castro, sondern hat die Karibikinsel auch wirtschaftlich massiv unterstützt. Venezuela liefert zu absoluten Freundschaftspreisen Erdöl nach Kuba und hat mit vergleichsweise hohen Kosten Tausende von kubanischen Ärzten, Lehrern und andern Fachleute ins Land geholt. Sollten solche Hilfen künftig ausfallen, wäre dies ein schwerer Schlag für Havanna.
Ein Liebesbrief zum Abschied
Chávez hat polarisiert. Die einen haben ihn abgrundtief gehasst. Andere haben ihn verehrt. So wie das zehnjährige Mädchen, das vor ein paar Jahren bei einem Besuch des Staatschefs in einem Aussenquartier von Caracas dem Chronisten aus der Schweiz ein Briefchen in die Hand drückte und ihn bat, es dem Präsidenten zu übergeben. Das Schreiben ist nie bei ihm angekommen, aber Chávez hätte bestimmt Freude daran gehabt. „Chávez“, stand auf dem aus einem Schulheft herausgerissenen Blatt, „ich habe dich sehr gern, weil du mein Präsident bist, aber nicht nur, weil du mein Präsident bist. Ich bewundere Dich. Paola.“