Basel hatte in früheren Zeiten zwei besonders reizvolle Punkte: den Bahnhof SBB mit dem französischen Bahnhof und den Badischen Bahnhof im Norden in der Stadt. Vom SBB aus war man mit ein paar Schritten, allerdings nach einer Kohntrolle, bereits in Frankreich. Sofort traf man auf blau uniformierte Zöllner, die französischen Plakate und Ansagen und den Kiosk mit all seinen französischen Köstlichkeiten.
Das war eine andere Welt mitten in der Stadt und im gleichen Gebäude. Ähnliches war, nur diesmal als Übertritt nach Deutschland, im Badischen Bahnhof zu erleben. Beide Bahnhöfe - in der Hochzeit der Eisenbahn gebaut - sind mächtige Gebäude mit weiten Hallen und hohen Räumen, die damals auch noch der Repräsentation dienten wie die prächtigen Buffets der 1. und der 2. Klasse.
Das Imperium der Deutschen Bahn
Diese sind im SBB nun von Dienstleistungsunternehmen besetzt. Der französische Bahnhof ist verwaist und wird nicht einmal mehr zur Abfertigung der TGV-Passagiere nach Paris betreten. Doch der badische Bahnhof zeigt, neben einem weiterhin regen Betrieb, noch neues Leben. Seine Buffets sind in den letzten zehn Jahren zu einem anregenden Zentrum für zeitgenössische Musik geworden.
Vorher lagen auch diese Buffets und Salons im Dornröschenschlaf, wurden nur sporadisch vom Theater Basel als Probenräume oder Garderoben gebraucht, oder von einer Zirkusschule genutzt. Doch dann bereitete dort die Schauspielerin, Sängerin und Regisseurin Desiree Meisel das Tangoprojekt Palacio de la danza für das Basler Theater vor, verliebte sich in die Atmosphäre der Räume und handelte.
Meisel: "Ich setzte mich hin und schrieb ein Konzept für einem Kulturort, wo Jazz, Klassik und Moderne ihrem Platz haben könnten. Ich zeigte es dem Bahnhofsmanager, der erfreulicherweise sehr angetan davon war. Doch dann begann der lange Weg durch alle Instanzen. Die Deutsche Bahn ist ein riesiges Imperium, in dem die verschiedensten Leute gewonnen werden mussten."
Spielort, Plattform, Schmelztiegel
Doch nach drei langen Jahren konnte am 28.2.2002 der Kulturort "Gare du Nord" seine Pforten öffnen. Allerdings ist er mit einem verfestigten Konzept auf die zeitgenössische Musik ausgerichtet. Der Kanton Baselland gibt dafür achtzig Prozent der notwenigen Subventionen, die gemeinnützige Gesellschaft Basel schiesst zu, wie auch der Kanton Basel-Stadt einen kleinen Beitrag. Der Auftrag an Desiree Meiser und ihre Weggefährtin Ute Haferburg lautet, ein Spielort für die zeitgenössische Musik in möglichst grosser Vielfalt zu sein, eine Plattform für Ensembles der Region sowie ein Schmelztiegel, wo Verschiedenes zu Neuem zusammen kommt.
Über 1000 Konzerte fanden in den letzten Jahren unter dieser Ägide statt. Uraufführungen von jungen Komponisten, Festivals spanischer, argentinischer und mexikanischer Musik. Zeitgenössisches Musiktheater. Mischprogramme von Klassik und Zeitgenössischem, die auch ein der zeitgenössischen Musik gegnüber eher abwartend eingestelltes Publikum anzieht. Spezielle Kinderprogramme werden angeboten sowie der elektronischen Musik gewidmete DJ Abende, die vor allem durch Studierende an der Basler Hochschule für Musik bestückt werden, die der "Gare du Nord" sehr nahe steht.
Meisel: "Von den durchschnittlich 100 Konzerten pro Jahr sind 80 Pflichtkonzerte, ganz der kontemporären Musik gewidmet. Da gibt es dann schon mal Veranstaltungen, die nur die "Happy Few" interessieren. Doch in den andern 20 Konzerten können wir experimentieren. So haben wir jetzt eine durchschnittliche Auslastung von 70 Prozent, und das Publikum hat sich seit der Anfängen deutlich verjüngt. Da half auch das Musiktheater mit den grossen Namen Helmut Lachenmann und Christoph Marthaler."
Letzterer hatte für die "Gare du Nord" das äusserst atmosphärische "Ankunft Badischer Bahnhof" inszeniert. Mit der Situation im Bahnhof beschäftigt sich auch das 2008 mit der Videokünstlerin Nives Widauer entwickelte Projekt "Dreizehn 13 - ein visuelles Oratorium über die Geschichte des Badischen Bahnhofs". Der Grenzbahnhof im Dreiländereck ist doch ein besonderer Spielort.
Intensive Lehrjahre
Meiser: "Es gibt ein spezielles Energiefeld, wenn die Zollgrenze direkt durch das Gebäude führt, es hat Parallelen zur zeitgenössischen Musik. Auch sie muss immer wieder Grenzen überschreiten, Gewohntes hinter sich lassen, Neuland erobern und in neue Klang-und Hörzonen führen. Insofern passt das unglaublich gut."
Auch für Meisel bedeutete die Hinwendung zur zeitgenössischen Musik eine Grenzüberschreitung. So bezeichnet sie denn die letzten zehn Jahre als intensive Lehrjahre, die sie mit Mentoren und ihrem Programmbeirat verlebt hat. Ihre Erfahrungen beschreibt sie so:
"Diese Musik appelliert viel stärker an mein Unterbewusstsein als solche, die ich emotional voll zu erfassen glaube. Auch reagiert sie wirklich auf das aktuelle Zeitgeschehen. Man kann sie nicht passiv, zur Erholung hören. Sie fordert. Diese Musik trägt ein Geheimnis in sich, das ich erforschen, durchdringen möchte. Natürlich verlangt mir das Einiges ab. Doch sind es diese Konzerte, die eine vitale Auseinandersetzung mit dem, was jetzt gerade passiert, reflektieren."
Ein rauschendes Fest
Eine Erfahrung, die Desiree Meisel auch durch spezielle Matineen weitervermitteln möchte. Dort bearbeiten junge Komponisten Werke der klassischen Moderne neu, so dass dem Publikum, das diese Werke gerade im Konzertsaal des Casino von der Basler "Sinfonietta" gespielt gehört hat, die Unterschiede nahegebracht werden, die dann anschliessend bei einem ausgedehnten Brunch mit dem Komponisten in der stilvollen Brasserie diskutiert werden können.
Auch in der sehr gut besuchten Brasserie, vormals Buffet 2. Klasse, herrscht die Vielfalt. Es wird vor und nach den Konzerten zusammen gesesssen und diskutiert. Musiklehrer der Hochschule referieren für ihre Schüler. Doch man kann auch einfach nur essen, ein Bier trinken, auf der Grossleinwand einen Stummfilm schauen oder Miroslav Kloses Siegestor in der 94. Minute beim letztjährigen Römer Lokalderby in unzähliger Wiederholung bewundern, das ihn bei seinem Verein zum Instanthelden, beim Gegner zum gefährlichen Matador machte.
Hier wird am Freitagabend ein rauschendes Fest zum zehnjährigen Jubiläum stattfinden. Doch am Morgen danach steht wieder die lustvolle Arbeit am "stetigen Vorwärts".
Meisel: "Die Arbeit am nächsten und übernächsten Spielplan und die Bemühungen mit sehr wenigen Mitteln ein spannendes Programm zusammen zu bringen."