‚Mit Indien wird die Zeit knapp‘, lautete am 24. Januar 2014 der Titel eines Berichts der NZZ. Die Schweiz verhandelt seit sechs Jahren mit Indien über ein Freihandelsabkommen. Ein gutes Dutzend Verhandlungsrunden haben beide Länder hinter sich, und ein Abschluss ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, die bevorstehende Parlamentswahl in Indien bringt eine mehrmonatige Ruhepause, und wer weiss, wie die nächste indische Regierung die Nützlichkeit eines solchen Abkommens einschätzt.
Ich hatte mir den Artikel damals ausgeschnitten, weil er mich zum Lachen gebracht hatte. Es war nicht etwa, weil in einer Zeit globaler Handelsströme, für deren Freiheit die Welthandelsorganisation zuständig ist, immer noch bilaterale Handelsverträge nötig sind. Das ist eher ein trauriges Kapitel. Richtig lachen liess mich das Lamento, dass für die Schweiz ‚die Zeit mit Indien knapp‘ wird. Wer so denkt, riskiert unnötigerweise Stress und blanke Nerven.
„Ihr habt die Uhren …“
Denn für Indien ist Zeit nie knapp. Im kollektiven Unbewussten bleibt sie im Grunde statisch, ähnlich wie die Kategorie des Raums. Dass sich gemäss Hinduismus der Kosmos im letzten von vier Zeitaltern befindet – dem ‚Schwarzen Zeitalter‘ – rüttelt nicht an dieser Immobilität. Und wenn die Zeit weder fliegt noch flieht, sondern bestenfalls ungeheuer langsam vorüberzieht, wird sie auch nie knapp: ‚You have the watches, we have the time‘.
Deutet man solche kulturellen Hintergründe an, reagieren unsere Beamten verärgert. Viele der Verhandlungsthemen liegen ja auch im Interesse Indiens, nicht nur dem schweizerischen, erklärte mir letzten Herbst ein Berner Handelsdiplomat. Ein Abkommen würde das Land bei seiner überfälligen Integration in den Welthandel weiterbringen und davon zu profitieren. Er verwies voller Stolz auf den raschen (und viel umfassenderen) Freihandelsvertrag mit China.
Fehlender nationaler Konsens
Doch seit wann sind die Interessen des eigenen Landes oberstes Gebot für indische Politiker? Zehn Jahre sind es nun, dass die Zentralregierung mit seinen Gliedstaaten über eine nationale Warenumsatzsteuer streitet. Alle sind sich einig, dass sie der Gesamtwirtschaft einen enormen Wachstumsschub brächte; doch in mehreren Staaten sind Oppositionsparteien am Ruder, und sie mögen es der Regierungspartei nicht gönnen, diese Lorbeeren zu ernten.
Alle Bereiche der Politik sind von diesem fehlenden nationalen Konsens gezeichnet. Infrastrukturprojekte dauern manchmal zehn Jahre, bevor sie spruchreif sind, andere werden gestoppt, weil die Vorgängerregierung sie initiiert hatte. Das grosse Gaskraftwerk von Dabhol südlich von Bombay, das von der bankrotten Firma Enron in staatlichen Besitz überführt wurde, ist eingemottet. Die Regierungspolitiker mögen nicht zugeben, dass sein Bau vielleicht doch gerechtfertigt war. Statt 1500 Megawatt Strom zu produzieren, laufen seine Maschinen leer, nur um das Einrosten zu verhindern; sie kosten den Steuerzahler jeden Monat 20 Millionen Dollars.
Umarmung
Der erwähnte NZZ-Artikel erschien während des Davoser WEF-Treffens. Auch Handelsminister Sharma nahm daran teil, und er traf sich mit seinem Schweizer Kollegen, Bundesrat Schneider-Ammann. Dies stimmte den Berichterstatter zuversichtlich. Sharma, so schrieb er, ‚scheint sich mit Schneider-Ammann bestens zu verstehen. Zum Auftakt der Gespräche umarmten sich die beiden‘.
Wenn der Titel der Geschichte – ‚die Zeit mit Indien wird knapp‘ – schmunzeln liess, dann erst recht dieser herzhafte Schlusssatz. Seit wann ist eine Politiker-Umarmung ein Indiz, dass zwischen den beiden Ländern der Honigmond leuchtet, oder zumindest eine tiefe Freundschaft besteht? Umarmungen gehören gerade heute, wo auch Männer öffentlich Gefühle zeigen dürfen, zum Vokabular der eingespielten Körpersprache westlicher Politiker.
Die Wahrheit, eine biegsame Grösse
Dies gilt noch mehr für ihre indischen Kollegen. Hier umarmen sich auch politische Gegner, und es kann das Gegenteil der Geste bedeuten. Auch dies hat, wie das Verhältnis zur Zeit, mit kulturellen Eigentümlichkeiten zu tun. Die Wahrheit ist in Indien eine biegsame Grösse, ‚kontextsensitiv‘: Sie kann je nach Umstand variieren. Im ‚Manusmriti‘, dem klassischen Kodex des indischen Kastensystems, gibt es ganze Listen von Fällen, wo ein Brahmane lügen darf, oder wo ein Kshatriya sogar lügen muss, will er nicht gegen seine Kastenmoral (das ‚Dharma des Kriegers‘) verstossen.
Opportunismus ist eines der wenigen Prinzipien, in denen viele Inder wirklich prinzipientreu sind. Niemand spielt besser auf dieser Klaviatur der flexiblen Ehrlichkeit als der Politiker. Dies sieht man wieder in diesen Tagen, wenn Wahlen anstehen und Politiker die Nase in den Wind halten. Diesmal ist es die BJP, die rechtsnationale ‚Indische Volkspartei‘ und ihr Volkstribun Narendra Modi, die die besten Gewinnchancen haben. Gestern noch war Modi ein politischer Pariah, weil er verdächtigt wird, die Pogrome gegen Muslime in Gujerat auf dem Gewissen zu haben. Heute strömen ihm reihenweise ‚säkularistische‘ Politiker zu, die Modi noch eben das Etikett eines Mörders angehängt hatten. ‚Aaya Ram Gaya Ram‘ nennt sie der Volksmund, in Anlehnung an einen Politiker aus den sechziger Jahren, der innerhalb von zwei Wochen seine Partei dreimal gewechselt hatte.
Hypocrisy
Auch Narendra Modi übt sich in ‚Doublespeak‘. Er schimpft über die Gandhi-Familie, die mit ‚Kronprinz Rahul‘ die indische Demokratie mit dynastischen Ansprüchen pervertiert; und vergisst hinzuzufügen, dass seine eigene Partei ‚ein Wald von Stammbäumen‘ ist, wie eine Zeitung schrieb. Rahul Gandhi sagt der Korruption den Kampf an und wählt gleichzeitig Kandidaten aus, die tief im Sumpf stecken. Selbst der neue Kreuzritter Arvind Kejriwal geisselt den Nexus zwischen Politikern und Geschäftsleuten, wurde aber abgehört, als er einem Journalisten versicherte, die Firmen, die er öffentlich geisselte, werde er nach gewonnener Wahl mit Samthandschuhen anfassen.
Der englische Sprachgebrauch nennt solches Verhalten ‚Hypocrisy‘. Leider hat das Deutsche dieses Fremdwort nicht eingebürgert. Das Synonym schwankt zwischen ‚Frömmelei‘ und ‚Scheinheiligkeit‘. Doch Hypokrisie hat nichts mehr mit vorgetäuschtem religiösen Verhalten zu tun, sondern mit jeder Einstellung, die sich unter falschen Vorgaben anbiedert.
Twelveish, threeish, sixish, nineish
Darin seien die Inder Meister, behauptete der verstorbene Kulturforscher A.K.Ramanjuam. In einem berühmten Essay (‚Is there an Indian Way of Thinking?‘) zitierte er aus einer Umfrage unter indischen Experten, die auf die Frage nach dem indischen Charakter nur in einer Eigenschaft alle einig waren, der Hypokrisie. Und er nannte als Ursache dieses Wahrheitsverständnisses das Kastensystem, denn jede Kaste hat den ihr gemässen Moralkodex von Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge.
Ich weiss, Pauschaletiketten für so gewichtige Dinge sollten eigentlich vermieden werden. Vielleicht gilt dies auch für das indische Zeitverständnis. Letzthin erwähnte ich hier meine neue indische Armbanduhr, mit ihren vier variabel verteilten Zeitangaben – ‚twelveish‘, ‚threeish‘, ‚sixish‘ und ‚nineish‘. Nun hat sie mich belehrt, dass diese Einteilungen eigentlich eine Illusion sind und damit strenggenommen auch die Zeit selber. Sie tat dies mit einer drastischen Geste, denn vor einer Woche (mehr oder weniger) hat sie ihren Dienst gekündigt.