Iranerinnen und Iraner, die in westlichen Ländern leben und eine Gemeinschaft von etwa sechs Millionen bilden, sind irritiert, oft sogar empört über das «Abseitsstehen» westlicher Regierungen gegenüber der Gewalt, die in ihrer früheren Heimat das Regime gegen die demonstrierenden Frauen und Männer verübt. «Warum», so lese und höre ich immer wieder, «engagiert ihr euch so klar für die Ukraine und kaum für Iran? – Was ist der Unterschied?»
Es ist ein Unterschied: Die Ukraine wurde das Opfer der Aggression eines anderen Staates – in Iran rollt ein interner Konflikt ab, ein Konflikt zwischen einem verknöcherten, brutal agierenden und gut organisierten Herrschaftsapparat und einem Teil der Bevölkerung.
Wie gross dieser Teil ist, entzieht sich unserer Kenntnis – an den Demonstrationen nahmen im Verlauf der vergangenen vier Wochen mindestens Zehntausende teil, vielleicht sogar mehr. Und wenn es Hunderttausende, gar ein oder zwei Millionen wären?
«Volksaufstand»?
Der Vergleich mit dem so genannten Arabischen Frühling im Jahr 2011 drängt sich auf, auch wenn Vergleiche (fast immer) hinken. Dennoch: Damals beteiligten sich, beispielsweise, in Ägypten zwischen zweieinhalb bis drei Millionen Menschen an den Kundgebungen gegen das Mubarak-Regime. Die Medien in europäischen Ländern verwendeten dafür, grenzüberschreitend, den Ausdruck «Volksaufstand».
Die kalte Dusche folgte Anfang 2012, bei den ersten freien Wahlen im Land am Nil: Keine drei Prozent der Stimmen und der Abgeordneten für die Nationalversammlung erhielt das progressive, liberale Lager, also das Lager jener Kräfte, die sich, opferreich, auf dem Tahrir-Platz in Kairo und anderen Grossstädten Ägyptens, für den Sturz des Regimes eingesetzt hatten. Grob umgerechnet entsprach das etwa dem Zahlenverhältnis zur Gesamtbevölkerung (damals rund 85 Millionen). Den grossen Sieg trugen die Moslembrüder davon (47 Prozent), gefolgt von den islamistischen Salafisten (24 Prozent).
Könnte sich in Iran mit seinen rund 85 Millionen Menschen, im Fall von (leider nicht absehbaren) freien Wahlen Ähnliches abspielen?
«Der Herrscher muss weg»
Es gibt Parallelen, aber auch Unterschiede. Die Parallelen sind offenkundig: Ein autoritär, ja oft diktatorial agierendes Regime, das sich durch Machtmissbrauch und Unterdrückung unbeliebt gemacht hat. Der wichtigste Unterschied: In den Ländern des «Arabischen Frühlings» gab es praktisch nirgendwo ein Programm für eine Zeit «danach», also nach dem Sturz der betreffenden Regierung. «Der Herrscher muss weg», lautete die Parole, die sich, dank Social Media, rasant schnell von Marokko im Westen bis nach Bahrain am Golf ausbreitete.
Was dann folgen könnte oder sollte, blieb bestenfalls schwammig. Nur sehr skeptische Kommentatoren warnten, dass womöglich islamistische Kräfte, vor allem die Moslembrüder, die Macht dank Volks-Unterstützung übernehmen würden. So kam es bekanntlich in Ägypten – Libyen versank, nach dem Gewalt-Tod Ghaddafis, im Chaos der Kämpfe zwischen den Milizen; Tunesien sackte nach einer hoffnungsvollen Zwischenzeit zurück in den Autoritarismus; in Syrien hält sich Diktator Assad, dank Loyalität der Armee und Waffenhilfe durch Russland und Iran, auch nach elf Jahren Krieg auf eigenem Boden weiterhin an der Spitze – und die Monarchien errichteten, mit Mini-Reformen oder auch nur mit Reform-Versprechen, Mauern gegen irgendwelche «Frühlinge».
Frau, Leben, Freiheit
Auf «Der Herrscher muss weg» beschränkte sich, wie erwähnt, der Forderungskatalog im Arabischen Frühling. In Iran ist mehr erkennbar, auch wenn es sich da vorläufig nur um einen Slogan handelt: Zan, Zendegi, Aazadi, also Frau, Leben, Freiheit. Also geht es zunächst darum, die Diskriminierung der iranischen Frauen (deren sichtbarer Ausdruck der Hijab-Zwang, also das Obligatorium des Kopftuchs im öffentlichen Raum, ist) zu beenden, dann auch darum, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und das in Freiheit.
Wobei wohl anzunehmen ist, dass «Freiheit» in verschiedenen Schichten der Gesellschaft unterschiedlich verstanden wird, allerdings mit dem wohl verbreiteten gemeinsamen Nenner, dass der Staat sich nicht ins Private einmischen sollte.
Keine Führungspersönlichkeit
So weit so gut, aber auch so unklar. Dieser Bewegung fehlt, und das ist wohl entscheidend, eine Führungspersönlichkeit oder wenigstens eine für die Allgemeinheit erkennbare «Formation». Namen, die noch vor ein paar Jahren als aussichtsreiche Alternativ-Kräfte gegen die «Nomenklatura» im Staat galten (etwa Mir Hossein Moussawi oder Mehdi Karroubi) haben in Iran keinen Einfluss mehr – auch der letzte Staatspräsident, Hassan Ruhani, hat keine erkennbare Gruppe von Anhängern. Die meisten so genannten Reformer haben sich in den letzten Jahren dadurch diskreditiert, als sie sich (selbst in den Jahren, als sie im Parlament eine Mehrheit hatten) vor klaren Voten, bei wesentlichen Fragen, duckten und so die von ganz oben vorgegebene Linie indirekt unterstützten.
Also, wenn nicht innerhalb des Landes, gibt es dann allenfalls draussen, beim Exil, irgendwelche ernst zu nehmende Kräfte, die das Geschehen beeinflussen könnten? Eine Exil-Iranerin pries, vor rund zwei Wochen, in einem Interview in der «SonntagsZeitung» die Volksmujahedin als Hoffnungsträger. Nur: genau diese Gruppierung hat sich längst, auch aus der Perspektive der hoffenden Iranerinnen und Iraner, selbst diskreditiert – sie nahm auf der Seite des irakischen Diktators Saddam Hussein zwischen 1980 und 1988 am Krieg gegen Iran teil, verübte zahlreiche Attentate im Ausland und wird verdächtigt, wieder für Saddam, Gruppen von Kurden unterdrückt zu haben. Mit dieser Gruppe ist also «kein Staat» zu machen.
Der Sohn des Schahs?
Und sonst? Bei Gesprächen rund um das Thema Iran höre ich hier, in der Schweiz, immer wieder die Meinung, der Sohn des Schahs, Reza Pahlavi, geboren 1960, sei DIE Alternative für Iran. Aber wann immer ich in Iran (letztes Mal war ich dort im Jahr 2019, also noch vor Corona) die Sprache auf dieses Thema oder auf die Frage der Wiederbelebung der Monarchie brachte, stiess ich nur auf helles Lachen oder mindestens auf mildes Lächeln. Das wollen die nach Freiheit und Gleichberechtigung dürstenden Iranerinnen und Iraner flächendeckend auch nicht – so wenig, wie sie sich je gewünscht hätten, dass ihnen die Freiheit, also die Befreiung vom System der Islamischen Republik, auf US-amerikanischen Panzern gebracht oder geschenkt würde.
Grundlegende Veränderungen eines Herrschafts-Systems müssen von innen kommen – wenn das nicht gelingt, sind sie letzten Endes zum Scheitern verurteilt.
Immer mehr Proteste
Für Iran bleibt immerhin eine Langzeit-Hoffnung: Auch wenn die jetzige Protestwelle von oben unterdrückt wird (das ist zu befürchten), wird der Widerstand gegen die Herrschenden bleiben. Es wird weitere Wellen geben, und wahrscheinlich wird die Frequenz der Demonstrationen und des öffentlich geäusserten Unwillens steigen. Eine der in Norwegen beheimateten NGOs, die sich mit Iran befassen, zählte kürzlich, für das Jahr 2021, rund 4000 kleinere, mittlere und grössere Anti-Regime-Proteste. Für 2022 gelangte das gleiche Institut schon für das erste Halbjahr auf mehr als 2200 – das heisst, die Frequenz stieg (übrigens erneut gegenüber noch früheren Jahren) an, und die Kundgebungen nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini zeigen deutlich, dass sich die Stimmung weiter zuspitzt.