Iso Camartins neues Buch geht einer hypothetischen Frage nach. Sie führt zu Einblicken in die Kunstgattung der Oper und zu Annäherungen an den wohl grössten der Komponisten, Johann Sebastian Bach.
Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass in der unerhörten Vielzahl der von Bach überlieferten Werke bei weitem nicht alles enthalten ist, was er zeitlebens an Musik komponiert hat, selbst wenn man also weiss, dass viele seiner Stücke verloren gegangen sind: auch dann gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass er jemals eine Oper geschrieben haben könnte.
Mit diesem Befund lässt sich der Opernliebhaber und Bach-Bewunderer Iso Camartin jedoch nicht davon abhalten, dennoch der Frage nachzugehen, ob Bach nicht mindestens mit Opern seiner Zeit in Berührung gekommen sein könnte und ob es ihn nicht hätte reizen können, sich im Opernfach zu versuchen. Solchen Hypothesen geht der Autor mit detektivischem Scharfsinn nach. Es gelingt ihm nachzuweisen, dass die Frage nach Berührungen Bachs mit der Opernwelt keineswegs abseitig ist. Wiewohl Deutschland nicht zu den grossen Opernnationen zählte, lebte das Musikdrama doch an Höfen und in grossen Städten. Dass Bach nie die Richtung dahin einschlug, hat auch mit biografischen Zufälligkeiten zu tun.
Noch interessanter als diese historische Spurensuche ist indessen der Blick auf die dramatischen Facetten von Bachs Musik. Seine Oratorien erzählen die biblischen Stoffe als bewegende Geschichten. Die Kirchenkantaten sind hoch emotionale musikalische Predigten. Arien, Rezitative und Chorpartien dieser Werke bedienen sich der gleichen gestalterischen Mittel wie ihre Pendants in der Opera seria, dem ernsten Musikdrama. Die barocke Affektenlehre ist Basis nicht nur sämtlicher Künste der Zeit, sondern im besonderen der Musiktheorie. Das Repertoire positiver und negativer Gefühle drückt sich in Figuren und Handlung, Text und Musik, Melodik und Harmonik in einer Weise aus, dass die Hörenden, entsprechend emotional bewegt, zum Verstehen angeleitet und menschlich geläutert werden.
Iso Camartin entschlüsselt sorgfältig die musikalische Grammatik der Affekte sowohl in barocken Opern wie in Bachs kirchenmusikalischen Werken. Die Nähe der Kompositionsprinzipien bei den scheinbar so weit auseinander liegenden musikalischen Welten ist erstaunlich. Da mag denn die Hypothese plausibel erscheinen, dass es nur an ein paar Weggabelungen von Bachs Vita einen anderen als den tatsächlich eingetroffenen Zufall gebraucht hätte, um ihn statt zum Thomaskantor zu einem Opernkomponisten zu machen.
Die Hypothese bleibt eine reizvolle intellektuelle Spielerei. Sie provoziert geradezu die Annahme, dass Bachs lebensgeschichtlicher Weg untrennbar verbunden ist mit seiner künstlerischen Entwicklung hin zur absoluten Spitze der europäischen Musik. Die Antwort auf die Titelfrage könnte deshalb lauten: Weil er Johann Sebastian Bach werden musste.
Iso Camartin: Warum Johann Sebastian Bach keine Oper schrieb. Rüffer & Rub, Zürich 2022, 160 S., CHF 28.00