Misstrauen, aber auch offene Kritik gegenüber Benjamin Netanjahu sind in Israel in letzter Zeit an der Tagesordnung. Selbst wenn dem Regierungschef im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie durchaus auch bescheinigt wird, durch sein entschlossenes Vorgehen wahrscheinlich das Schlimmste noch verhindert zu haben. Entschlossenes Vorgehen ist allerdings auch in anderen Bereichen Netanjahus Markenzeichen. Wobei „entschlossen“ durchaus auch durch „rücksichtslos“ ersetzt werden könnte.
Und es sind diese Fragen, die Misstrauen und Skepsis in den Kreisen nähren, die sich nach 14 Jahren Netanjahus Rechtsaussenkurs immer weniger – oder überhaupt nicht mehr – politisch repräsentiert fühlen.
„Linksradikal“? „Mitte-links“?
Die letzten Wahlen (gleich drei davon binnen eines Jahres) belegen, dass sie keine Mehrheit in der Bevölkerung darstellen, sie zeigen aber auch, dass ihre alten Parteien praktisch nicht mehr existent sind.
So war es für viele Israelis ein Signal der Erlösung, als Ende 2019 das Parteienbündnis „Blau-Weiss“ entstand und als Hauptziel die Ablösung Netanjahus proklamierte. Dieser giftete die neue Partei unter ihrem Chef Benny Gantz als „linksradikal“ an, „Blau-Weiss“ gefiel sich aber in der Rolle „Mitte-links“. Bis zu den letzten Wahlen im März und den Herausforderungen der gleichzeitig einsetzenden Pandemie.
Eingriff der Justiz in die Politik?
Unter dem Vorwand, man brauche eine starke Einheitsregierung, um sich Corona zu widersetzen, einigten sich Netanjahu und Gantz nach langen Verhandlungen auf eine solche Grosse Koalition. „Blau-Weiss“ zerfiel darüber, und die Gruppe um Gantz stand plötzlich als kleiner und (zahlenmässig) machtloser Partner Netanjahus da. Ein Grund mehr für viele, dem Konstrukt der geplanten Regierung nicht zu trauen. Weil man Netanjahu nicht über den Weg traut. So zogen frustrierte Israelis vor das Oberste Gericht, um von diesem Klarheit in zwei Punkten zu erbitten: Ob eine Koalitionsvereinbarung wie die zwischen Netanjahu und Gantz überhaut rechtens ist und vor allem: ob der wegen Korruption verklagte Netanjahu, dessen Prozess Ende Mai beginnt, überhaupt eine Regierung bilden darf.
Das Oberste Gericht nahm sich für jede dieser Fragen einen Tag Zeit, und die Sitzungen wurden sogar live im Fernsehen übertragen. Sicher ein beeindruckendes Beispiel für Offenheit und Transparenz, aber der Eindruck von Insidern war, dass das Gericht nichts an den Dingen ändern werde. Unter anderem, weil dies ein Eingriff der Justiz in die Politik sei. Die offizielle Entscheidung sei nicht vor Donnerstag zu erwarten.
Annektierung weiter Teile des Westjordanlandes
Wie auch immer aber die Entscheidung ausfallen würde – es stand doch längst fest, dass Netanjahu schon in den Startlöchern steht zur Umsetzung eines Plans, den er möglichst rasch nach Bildung der neuen Regierung in Angriff nehmen will: Die Annektierung weiter Teile des 1967 von Israel eroberten Westjordanlandes, das trotz intensiver jüdischer Besiedelung weiterhin mehrheitlich von Palästinensern bewohnt ist und bisher als Kernland des bei einer „Zweistaaten-Lösung“ entstehenden palästinensischen Staates neben Israel betrachtet wurde. „Bisher“, weil Netanjahus Annektierungspläne dieses international befürwortete Lösungskonzept endgültig zu Makulatur machen würde. Und aus Sicht Netanjahus auch soll.
Verschiedene Staaten, auch aus der EU, haben die geplante Annektierung bereits kritisiert, es steht aber zu befürchten, dass es bei Erklärungen bleibt und Netanjahu schliesslich durchsetzen kann, was er sich vorgenommen hat. Der Grund hierfür liegt vor allem in der unberechenbaren Aussenpolitik von US-Präsident Trump, besonders im Nahen und Mittleren Osten, und ist ausführlich beschrieben im „Jahrhundertwerk“, einem vermeintlichen Friedensplan für Nahost.
Palästinensisches Nein
Netanjahu sah sich schon am Ziel seiner territorialen Träume, aber das Weisse Haus bremste ihn: Zuerst müssten noch Details ausgearbeitet werden und dann solle er den Plan auch mit den Palästinensern diskutieren. Die freilich hatten schon abgewinkt: Der Plan komme nicht in Frage, denn er beraube sie ihrer letzten Rechte. Netanjahu hatte ausserdem das Problem, dass die Annektierung kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen im November Trump vielleicht schaden könnte.
Führende Demokraten hatten den Plan jedenfalls bereits kritisiert. US-Aussenminister Pompeo erklärte inzwischen, die Annektierung sei ausschliesslich Sache Israels, wiederholte aber die Aufforderung, es solle mit den Palästinensern darüber sprechen. Wie gesagt: ein aussichtsloses Unterfangen. Hier wäre die EU gefordert, die sich aber mehr als bisher gegen Annektierung und für die Einhaltung des Völkerrechts einsetzen müsste. Vielleicht in einer umfassenderen Aktion, die auch noch einen weiteren Punkt von Trumps Nahostpolitik beträfe: Washington fordert, dass im Oktober ein Waffenembargo gegenüber dem Iran wiederbelebt werden solle.
Trumps Inkonsequenz
Als Teil des Atomabkommens mit Teheran hatten die Vertragspartner Irans 2015 zugestimmt, dass das Embargo nach fünf Jahren auslaufen solle. Also im Oktober 2020. Washington versucht nun, unter Berufung auf seine damalige Teilnahme am Abkommen, das Embargo über Oktober hinaus zu verlängern. Und das, obwohl Trump vor zwei Jahren den Rückzug der USA aus dem Abkommen verkündet und Iran erneut mit Sanktionen belegt hatte.
Trumps Inkonsequenz wird noch absurder dadurch, dass Washington Waffen im Wert von über 8 Mrd $ an Saudi-Arabien verkauft. Und das auf Betreiben von Trump, der dabei den Kongress umging. Diese Waffen werden natürlich auch im Jemenkrieg eingesetzt und im Fall einer militärischen Auseinandersetzung Riads mit Teheran würde Saudi-Arabien diese amerikanischen Waffen ebenso einsetzen. Irgendwelche höhere moralische Ziele scheinen Trump bei diesem Waffengeschäft jedenfalls nicht gerade zu leiten: Als Saudi-Arabien angesichts sinkender Ölpreise die Produktion erhöhen wollte, da drohte Trump Riad mit einer Kürzung der amerikanischen Waffenlieferungen.