Aus der Gewissheit rückwärts schreibt es sich ertragreicher und gültiger als aus der Ungewissheit vorwärts. Das aus der zeitlichen Distanz verfasste Buch schlägt die aktuelle Kritik. Im Allgemeinen. Auf jeden Fall trifft es zu auf die Monografie „Claude Goretta – Der empathische Blick“ von Martin Walder.
Klärende Gesamtschau
Heute ist die überragende Bedeutung des Romands Claude Goretta, der 88-jährig in Carouge lebt, für das neue Schweizer Filmschaffen unbestritten. Aber wer konnte im 1957 gemeinsam mit Alain Tanner gedrehten Erstling „Nice Time“ eine auf Dauer sich bestätigende Begabung erkennen und erst noch den Ausgangspunkt einer Entwicklung, die mit dem überkommenen Schweizer Film radikal brechen und die Siebente Kunst hierzulande neu denken und neu formulieren sollte?
Niemand konnte es damals wissen. Erst in der Gesamtschau der von Claude Goretta fürs Kino und Fernsehen realisierten Arbeiten wird dessen umwälzende Wirkungskraft als bleibende Tatsache fassbar.
Ungewöhnlich differenzierend
Retrospektiv bewältigte Martin Walder souverän die Aufgabe, die Erfolgsursachen zu ergründen und ein Lebenswerk zu würdigen. Am Beispiel Claude Gorettas entstand gleichzeitig eine Geschichte des neuen Schweizer Films. Sie ist insofern ungewöhnlich, als sie den Fallen der Stereotypen ausweicht. Das Lamento über die angebliche schicksalhafte Schwierigkeit, in unserem Land Filme zu drehen, fehlt ebenso wie der zur Erklärung aller Widrigkeiten gerne verwendete Generalschlüssel, die Filmförderung des Bundes habe versagt.
Walder, als Redaktor beim „Schweizer Radio DRS2“, bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „NZZ am Sonntag“ ein genau beobachtender Zeitzeuge der schweizerischen Filmszene, entschied sich für eine differenzierende Sichtweise. Der auf Goretta bezogene Buchtitel „Der empathische Blick” charakterisiert auch den Autor, weil er sich in sein Thema mit Respekt einfühlt und sich die Untrüglichkeit im Urteil bewahrt.
Präzise Analysen und erhellende Hintergründe
Der Autor geht aus von den Filmen Gorettas – etwa „Le fou“, „Le jour des noces“, „L'invitation“, „La dentellière“, „L'ombre“ –, die er präzis analysiert und nach Themen wie auch Gestaltungen systematisiert. Walder schält die ethischen und dramaturgischen Prinzipien heraus, legt die Entwicklungsstränge frei und erhellt die Persönlichkeit des Regisseurs und dessen Motivation.
Goretta, der mit Alain Tanner, Michel Soutter, Jean-Louis Roy und Jean-Jacques Lagrange, später Yves Yersin den legendären und innovationsstarken „Groupe 5” bildete, ist für Walder „der vielleicht vielseitigste Schweizer Filmemacher seiner Zeit“. Selber bezeichnete er sich im Gegensatz zum „poetischen“ Soutter und „politischen“ Tanner als „cinéaste-cinéaste“, der sich mal vom „coeur chaud“, mal vom „regard froid“ leiten liess.
Filmförderndes Westschweizer Fernsehen
Zu Recht ist für Walder wichtig, dass das Westschweizer Fernsehen unter Direktor René Schenker den Filmschaffenden und mithin auch Goretta vertrauensvoll und weitblickend Freiräume sicherte und dadurch – anders als das Fernsehen der deutschen und rätoromanischen Schweiz – den kinematografischen Aufbruch und Durchbruch ermöglichte.
Goretta wiederum schuf Fernsehbeiträge von künstlerischem Rang und prägte Sendungen wie „Télé-théâtres“ und „Continents sans visa“, die ihrerseits dem Westschweizer Fernsehen zu Reputation und Popularität verhalfen.
Direkte Begegnung
Im Ergebnis liegt keine klassische Biografie vor, sondern eine Bio-Filmografie, die sich Goretta im Licht seines Schaffens nähert, neugierig, nachfragend, reflektierend – und stilsicher geschrieben. Das Buch vermittelt das Gefühl, der Leser begegne Goretta direkt und persönlich.
Ob der Titel ausreicht, zur verdienten Verbreitung des Buches beizutragen? Wem ist der Name Goretta, der seine Tätigkeit vor zehn Jahren beendete, noch geläufig? Wer erinnert sich an den Stillen unter den Grossen und vermag den „empathischen Blick“ als Merkmal einzuordnen? Die besorgten Fragen sind ein Lob für das bemerkenswerte Buch.
Martin Walder, „Claude Goretta – Der empathische Blick“. Schüren Verlag und Edition Filmbulletin, herausgegeben von Tereza Fischer und Josef Stutzer, Marburg und Zürich 2017, 240 Seiten