Drei Jahre vor seinem Tod im Jahre 2010 veröffentlichte der britisch-jüdische Historiker Tony Judt in der Zeitung „Haaretz“ einen fulminanten Artikel über die israelische Politik unter dem Titel „Ein Land, das nicht erwachsen werden will“. Es war eine scharfe, aber fundierte Kritik an der fortgesetzten Besatzung und Besiedlung palästinensischer Gebiete und dem mangelnden Willen Israels, sich für eine faire und haltbare Lösung der Palästinenserfrage einzusetzen. Eine Folge davon sei nicht zuletzt der Zerfall von Israels Goodwill rund um den Globus. Diese Vorwürfe sind gegenüber der Regierung Netanyahu aktueller denn je.
Leere Versöhnungsrituale
Ähnliche Anschuldigungen sind aber auch gegenüber der palästinensischen Führungsriege am Platz. Wie soll man den Führungsleuten der rund dreieinhalb Millionen Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen die Schaffung eines gemeinsamen Staates zutrauen, wenn dieses Chef-Personal völlig zerstritten ist? Das gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen den beiden grossen politischen Machtblöcken – der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas und der im Westjordanland dominierenden Fatah -, sondern auch innerhalb dieser Machtgruppen.
Nicht zum ersten Mal haben sich der nominelle Fatah-Führer Mahmoud Abbas und der im Ausland lebende Hamas-Chef Khaled Meshal vor einigen Wochen in Doha darauf verständigt, endlich eine einheitliche palästinensische Übergangsregierung zu bilden. Diese sollte dann gesamtpalästinensische Wahlen durchführen, die eigentlich schon seit zweieinhalb Jahren fällig wären. Verwirklicht ist von diesen feierlich verkündeten Vorhaben bisher gar nichts. Salam Fayyad, der in Ramallah noch amtierende Ministerpräsident für das Westjordanland, der wegen seiner kompetenten wirtschaftlichen Aufbauarbeit vor allem von den Geldgebern im Westen und am Golf geschätzt wird, hat unlängst in einem Interview mit der „Washington Post“ erklärt, seiner Meinung nach sei vor allem die Hamas-Führung nicht ernsthaft an Neuwahlen unter den Palästinensern interessiert.
Unproduktive Verschwörungsgeschichten
An dieser Unfähigkeit der palästinensischen Führung, angesichts eines so übermächtigen Gegenspielers wie Israel zumindest bis zur Durchsetzung eines eigenen Staatswesens am gleichen Strick zu ziehen, wird auch die Exhumierung von Arafats Leiche in Ramallah und die Prüfung des Verdachts auf eine mögliche Vergiftung durch radioaktiven Stoff gar nichts ändern. Denn selbst wenn sich der Verdacht auf eine solche Todesursache einwandfrei belegen liesse, wäre damit noch längst nicht geklärt, wer für den Einsatz eines solchen Giftstoffes die Verantwortung trägt.
Natürlich würden die Palästinenser sofort auf Israel zeigen. Doch damit wäre noch nichts bewiesen. Immerhin ist bekannt, dass die palästinensischen Machtclans schon zu Lebzeiten Arafats zum Teil tödlich miteinander im Streit lagen. Ausserdem hat Arafats dubiose Gattin Suha - der viele Palästinenser vorwerfen, mit illegalen Geldern aus Arafats Geheimkonten ein Luxusleben im Westen zu führen - noch kurz vor dem Tod ihres Mannes finsterste Verschwörungsgeschichten gegen die Fatah-Führung verbreitet. Dass in diesem nahöstlichen Dickicht von gegenseitigen Beschuldigungen, Intrigen, Legenden und disparaten Fakten je eine eindeutige Wahrheit über die Ursachen von Arafats Tod herausgefiltert werden kann, ist höchst unwahrscheinlich.
Warten auf einen de Gaulle
Viel wichtiger und dringlicher für die wahren Interessen des palästinensischen Volkes wäre es jedenfalls, wenn deren zerstrittene Führer sich den Rat des Historikers Tony Judt an die Israeli zu Herzen nehmen würden: Endlich erwachsen zu werden, am gleichen Strick zu ziehen, über den Schatten falscher Mythen zu springen (Hamas klammert sich noch immer an das weltfremde Dogma, das Israel als Staat verschwinden müsse und das gesamte ehemalige britische Mandatsgebiet den Palästinensern gehöre). Ausserdem wäre es sehr viel klüger, die Weltmeinung nicht durch kontraproduktive Gewalt (wie die Raketenangriffe aus dem von Israel geräumten Gazastreifen) vor den Kopf gestossen, sondern durch eine souveräne Politik der inneren und äusseren Versöhnung zu beeindrucken.
Als ein leuchtendes Beispiel reifer Einsicht in historische Unausweichlichkeiten und konsequenten Handels nennt Tony Judt im erwähnten Aufsatz den von de Gaulle durchgesetzten Rückzug Frankreichs aus Algerien. Sowohl für Israel als auch für die Palästinenser wäre ein Staatsmann vom Format eines de Gaulle ein Geschenk des Himmels.