Francis Alÿs (*1959 in Antwerpen) wandert durch Städte und dokumentiert die Wanderungen in Videos. Sie lassen uns die politischen, sozialen und poetischen Schichten einer komplexen Stadtwirklichkeit erleben.
Ein Mann wandert durch Jerusalem, in der Hand eine Büchse mit grüner Farbe, die er auf den Weg tropfen lässt («The Green Line», 2004).
Ein Mann bessert einen gelben Streifen auf einer Strasse aus, mitten im Verkehr, in meditativen Bewegungen mit den Pinseln. Autos fahren vorbei, im Hintergrund ein mit Containern beladenes Schiff («Retoque/Painting», 2008).
Ein Mann geht, die Augen verbunden, auf dem flachen Dach eines Gebäudes jeweils bis an den gefährlichen Rand («Prohibited Steps» 2020).
Ein Mann misst unablässig in regelmässigen Schritten die Dimension eines kleinen Raumes aus («Albert’s Way», 2014).
Ein Mann geht mit einem Stock in der Hand durch London und schlägt die Gitterstäbe der Vorgärten an. Er erzeugt damit eine ganze Sinfonie rhythmisierter metallener Klänge («Railings», 2004).
Ein Mann schiebt lange, insgesamt neun Stunden, einen grossen Eisblock durch die Stadt, bis vom Eis nur mehr eine kleine Wasserlache übrig bleibt («Paradox of Praxis 1», 1997).
Im grossen Ausstellungssaal im zweiten Geschoss des Musée Cantonal des Beaux Arts in Lausanne finden wir uns mitten in diesen und weiteren Video-Projektionen. Wir haben mehrere der bewegten Bilder gleichzeitig im Blickfeld. Mit unserer Bewegung im Raum ergeben sich immer neue Bildkombinationen. Die Geräusche, welche die bewegten Bilder begleiten, überlagern sich so, dass wir sie kaum auseinander halten können.
Der wandernde Künstler Francis Alÿs
Der grosse schlanke Mann, den die Videos zeigen, ist der belgische Künstler Francis Alÿs. Er nennt die Ausstellung «As Long as I’m Walking». Francis Alÿs war Architekt, als er 1986 im Zuge eines Wiederaufbauprogramms nach dem 1985er Erdbeben nach Mexico City fuhr. Er entschied sich bald, hier zu bleiben und Künstler zu werden – zu einem Künstler der besonderen Art allerdings: Er wollte der urbanen und damit politischen, sozialen und kulturellen Realität, die er hier vorfand, nicht etwas Neues, eine Skulptur zum Beispiel, hinzufügen, sondern täglich auf ausgedehnten Wanderungen die Realität dieser Stadt bis in kleinste Verästelungen hinein für sich entdecken, ihren Gegebenheiten gerade im Unscheinbaren nachspüren und sein Erleben in Videos festhalten. Wandern als Wirklichkeitsaneignung, als Form der Kunst ist sein Thema bis heute, begleitet nicht nur von Videos, sondern teils auch von Zeichnungen, Skizzen, Texten und kleinen Malereien von ausgesucht kostbarer Schönheit. Francis Alÿs ist unterwegs in weiten Teilen der Welt. Er findet mit seinen oft am Rande des Wahrnehmbaren angesiedelten und damit ephemeren, aber nicht weniger intensiven Arbeiten weltweites Echo – an Biennalen und in unternationalen Ausstellungsinstituten.
Mit «As Long as I’m Walking» richtet die Kuratorin Nicole Schweizer Francis Alÿs eine grosse Retrospektive aus, welche einem Teil dieser Stadtwanderungen seit den 1990er Jahren dokumentiert und mit ihrer Präsentationsform die Besucherinnen und Besucher gleichsam in einen imaginären Stadtraum versetzt. Es erfordert einige Beharrlichkeit, bis man sich in den Überlagerungen der Bilder und in der Gleichzeitigkeit der die Bilder begleitenden Geräusche und Klänge zurechtfindet und bis man die komplexe Stadt-Atmosphäre des abgedunkelten Raumes nicht nur emotional spürt, sondern sie auch reflektieren kann. Dabei hilft die Lektüre der Saaltexte mit den für das Verständnis der Hintergründe der Arbeiten nötigen Informationen. Überdies schlüsseln sie Francis Alÿs’ künstlerische Intentionen, die über Ästhetik und Poesie hinaus auch ins jeweilige politische Umfeld einer Aktion führen.
Die Grüne Linie in Jerusalem
Zum Beispiel «The Green Line»: Die grüne Farbe, die Alÿs aus der Büchse auf die Strassen und Wege Jerusalems tropfen lässt, markiert die Demarkationslinie, die im Waffenstillstand von 1949 die Grenze zwischen israelischen und arabischen Gebieten bildete und die mit der heutigen Realität in Jerusalem nichts mehr zu tun hat. Oder «Retoque/Painting»: Die Strasse, deren Mittellinien-Markierung Francis Alÿs in ruhigen Bewegungen und ungestört von allem Verkehrslärm ausbessert, führt dem Panama-Kanal entlang und markiert symbolisch die Grenze zwischen Nord- und Südamerika.
«Prohibited Steps»: Auf dem Flachdach dreht Francis Alÿs seine gefährlichen Runden, während ihn die Corona-Quarantäne in Hongkong gefangen hält. Es ist wohl kein Zufall, dass Francis Alÿs just daneben «Albert’s Way» zeigt: Sieben Tage lang legte der Künstler in seinem Atelier in Mexico von 9 Uhr bis 19 Uhr die Strecke von 118 km zurück. Diese Distanz hatten die englischen Pilger zurückzulegen, die mit dem Schiff nach Ferrol in Nordspanien – Ferrol ist der Geburtsort Francos – fuhren und dann nach Santiago wanderten. Alÿs nahm mit dem ins eigene Atelier verlegten «Pilgerweg» Bezug auf Albert Speer, der in seiner Zeit als Gefangener in Spandau in seiner Zelle insgesamt die Strecke vom Ausmass eines Erdumfangs zurückgelegt haben soll.
«Paradox of Praxis 1» bringt die Dimension von Zeit, aber auch die Spannung zwischen der Hitze Mexico Citys und der Kälte des Eisblocks ins Spiel. «Railings» zeigt die Stadt als Musikinstrument, rührt aber mit dem starken Akzent auf den die Öffentlichkeit ausschliessenden Gitterstäben an Politisches.
Poesie und Politik
Eine grosse Schriftarbeit an der Wand führt den Titel der Ausstellung, «As Long as I’m Walking», vertiefend weiter. «As long as I’m walking», liest man da …, «I’m not smoking», … «I’m not making», …“«’m not painting, not hiding, not crying, not asking, not believing» usw. Und am Ende: «I will not repeat», «I will not remember». Nur wandern also will Francis Alÿs und dabei sich und die städtische Umwelt ohne eigenes Zutun neu erfahren – wandernd und dabei offen für alles, was ihm begegnet.
Mit dieser Schriftarbeit, aber auch mit dem Untertitel zu «The Green Line» gibt Francis Alÿs Einblick in den Kern seiner künstlerischen Absichten. «Sometimes Doing Something Poetic Can Become Political, and Sometimes Doing Something Political Can Become Poetic» lautet dieser Untertitel: Poesie kann politisch werden, Politisches wiederum gewinnt durch die Ausweitung ins Poetische an Überzeugungskraft. Alÿs’ Kunst – und darin liegt ihre besondere Qualität – verbindet generell Politisches mit Poesie und gibt der Poesie einen eminent politischen Hintergrund.
Alles Belehrende ist ihm dabei fremd. Spielerisches, mitunter auch Ironie setzt er bewusst ein. Das zeigt sich eindrücklich im zweiten Teil der Retrospektive im Museum in Lausanne. Hier steht, neben den umfangreichen Dokumenten zu Francis Alÿs’ Arbeit in Afghanistan, wohin ihn zahlreiche Reisen führten, die Serie «Children’s Games» im Vordergrund: Der Künstler hielt in vielen Ländern – von Mexico und Venezuela über Tanger und Afghanistan bis nach Nepal – Ausschau nach Kindern und hielt ihre Spiele mit der Videokamera fest.
Beispielhaft ist «Papalote» (das spanische Wort bedeutet Schmetterling oder Papierdrache) von 2011. Wir sehen einen Buben, der einen Papierdrachen in den stahlblauen Himmel Afghanistans steigen lässt – und aus seinem schönen spielerischen Tun unsanft aufgeschreckt wird vom Lärm eines aufsteigenden Kampfhelikopters. «Wolf and Lamb» (2011) zeigt, ebenfalls in Afghanistan, spielende Buben: Ein «Wolf» jagt ein «Lamm», dem aber eine Gruppe Schutz bietet. Wohl unbewusst spiegeln die Kinder in ihrem Spiel die politische Realität, der sie ausgesetzt sind. Beide Videos überzeugen durch die Poesie der Schilderung der Spiele, denen sich die Kinder selbstvergessen hingeben. Zugleich verweisen beide Videos wie beiläufig, doch mit Nachdruck auf den von Schrecken und Gewalt geprägten Alltag der Kinder.
Musée cantonal des Beaux-Arts Lausanne. Bis 16. Januar. Katalog CHF 45.00.