„Was ist Wahrheit?“, soll Pontius Pilatus gefragt haben; als Entgegnung auf Jesus’ von Nazareth selbstbewusste Aussage „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeuge. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.“ (Joh. 18,38)
Der in unüberbietbarer Verdichtung protokollierte Wortwechsel am Beginn der Passionsgeschichte Christi lässt sich als Paradigma eines für die condition humaine grundlegenden Gegensatzes lesen, als dramatische Vergegenwärtigung der Opposition zwischen handlungsleitender Überzeugung und erkenntnissuchendem Zweifel, als Zusammenstoss von Dogma und Reflexion, von Glauben und wissendem Nicht-Wissen.
Zweierlei Einstellungen
So gedeutet, wird der Jesus des Johannesevangeliums zum Helden religiöser (Selbst)Bestimmtheit, Pontius Pilatus hingegen (mit leichter Übertreibung) zum Vertreter einer Haltung, die für jede Wissenssuche charakteristisch ist: für die rationale Skepsis, die nichts gegen individuell verankerte Gewissheiten, aber alles gegen deren generelle, oft mit Zwang verknüpfte Verbindlichkeitserklärung hat.
Persönliche Wahrheitsgewissheiten sind etwas prinzipiell anderes als auf intersubjektive Überprüfbarkeit bezogene Annahmen. Damit ist nicht schon ein Werturteil verbunden, denn beide Einstellungen besitzen ihre eigene Notwendigkeit.
Man kann kein Handeln beginnen, wenn man nicht (wenigstens stillschweigend) glaubt, damit das Fällige zu tun. Und man kann Neues nicht entdecken, wenn man nichts Altes bezweifeln will. Ohne Überzeugungen gibt es keine praktische Tätigkeit und ohne Kritik am bisher Geltenden keinen Erkenntnisfortschritt.
Das scheint so klar wie unproblematisch. Dennoch fängt genau hier die elementare Beunruhigung an, die das Verhältnis zwischen kollektiv-religiösen Orientierungen und dem herrschenden, auf das Recht der persönlichen Freiheit ausgerichteten Staatsverständnis mit Spannung auflädt. Wer meint, diese Sache sei durch die Wirklichkeit des auf die Grundrechte der Person verpflichteten modernen Verfassungsstaates erledigt, muss sich angesichts aktueller Problemlagen eines Besseren belehren lassen. Darauf hat vor einiger Zeit ein bemerkenswertes Buch des Luzerner Kirchenrechtlers Adrian Loretan mit grosser Deutlichkeit hingewiesen.
Rechtsstaat und Religionsgemeinschaften
Die Studie „Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte“ erinnert eindringlich daran, dass die verfassungsstaatlich garantierte Autonomie des Individuums nichts anderes ist als ein Kanon scharfer Verhaltenskriterien, nach denen gegebene Religionen, aber auch wirksam organisierte Weltanschauungsgemeinschaften zu beurteilen und nötigenfalls zur Rechenschaft zu ziehen sind. Von der öffentlichen Gewalt wird durch diese Kriterien ein Handeln verlangt, das sich in „neutraler“ Gleichgültigkeit gegenüber jeglichen kirchlich-religiösen Praktiken nicht beruhigen darf. Deshalb ist genau zu prüfen, wie religiöse Wahrheitsansprüche und menschenrechtliche Freiheitsgarantien wechselseitig zuzuordnen, besser gesagt: einander unterzuordnen sind.
Dass bei solchem Nachdenken über das Verhältnis von Rechtsstaat und Religionsgemeinschaft sofort die Differenz mit der nach wie vor einflussreichen fundamentalistischen Auslegung des Islam auffällig wird, überrascht nicht. Wer die institutionell entscheidende Souveränität zuletzt und allein bei „Gott“ – soll heissen: bei dessen durch die Tradition legitimierten Sprechern – verankert sieht, kollidiert unmittelbar mit dem hierzulande geltenden liberal-säkularen Rechtsverständnis. Schariarecht kann in eine Verfassung, die sich von allen Bezügen auf „göttliche Weisungen“ emanzipiert hat, niemals integriert werden.
Was allerdings nicht heissen muss, dass unter dem Gesichtspunkt politisch pragmatischer Sozialarbeit jegliche Kooperation mit islamischen Rechtsautoritäten ausgeschlossen ist. Loretan ist weder im Fall Islam noch sonst am Pathos kulturkämpferischer Frontenbildung interessiert. Wem die Rangordnung der Rechte klar ist, hat Platz für vernünftige Diskurse. Auch innerhalb des Islams gibt es ja Reformideen, die traditionell theokratische Politikvorstellungen in Frage stellen.
„Prüfstein der Glaubwürdigkeit“
Unerwarteter als diese wohlbekannten Thesen sind jedoch Loretans Argumente und normativen Postulate im Hinblick auf christliche Religionsgemeinschaften. Ein Zitat belegt das lakonisch nüchtern: „Der Rechtsstaat wird Grundrechtsverletzungen innerhalb (kursiv GK) der Religionsgemeinschaften (z. B. religiöses Austrittsverbot, Gleichstellung der Geschlechter und sexuelle Übergriffe) in Zukunft nicht übergehen können.“ Brisant für die hiesigen Kirchen sind nicht nur die in Klammern aufgeführten Konkretisierungen, sondern ebenso der Zusatz „in Zukunft“. – Was heute ungeahndet ist, darf es nicht länger bleiben.
Loretan zielt in vielen Punkten – als Katholik – auf die katholische Kirche. Diese hat sich zwar, Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, ausdrücklich vom „Primat der (besser: ihrer) Wahrheit“ gegenüber der persönlichen Freiheit abgewandt, dennoch besitzt ihre vorkonziliare Doktrin noch immer Einfluss.
Das zeigt sich nicht im Verhältnis zum liberalen Staat, umso mehr aber im Umgang mit dem Freiheits- und Gleichstellungsanspruch in der Kirche selbst. Denn auch hier muss (oder: müsste) das Autonomierecht der Person – der Männer wie der Frauen – an die Stelle einer kanonischen Wahrheitsprätention treten.
Die Beachtung der Menschenrechte auch in der Kirche wird damit zum „Prüfstein der Glaubwürdigkeit“ der Institution als solcher, will sie sich nicht der Widersprüchlichkeit und Doppelzüngigkeit überführen lassen.
Religion und Geschlechtergerechtigkeit
Eine harmlose Feststellung ist das nicht. Denn aus dieser Forderung ergeben sich massive Umorientierungen der Kirchenorganisation, deren Reichweite noch kaum ausbuchstabiert und noch viel weniger verwirklicht ist. Im Kapitel „Religion und Geschlechtergerechtigkeit“ skizziert das Buch, was das für die katholische Kirche – und für den Staat, der sie schützen, aber auch an die bürgerschaftlichen Verpflichtungen binden muss – bedeutet.
Insofern die Wertvorstellungen, die in die liberalen Grundrechte eingefügt sind, nicht nur das Verhältnis von hoheitlichem Staat und Bürgerschaft, sondern die gesamte Rechtsordnung bestimmen – also auch auf privatrechtliche Beziehungen anwendbar sind –, wird vieles von dem fraglich, was derzeit zwar nicht stillschweigend, aber sanktionslos hingenommen wird. Der Autor verweist ausführlich auf den österreichischen Rechtsphilosophen Köck, um diesem Punkt Nachhaltigkeit zu verleihen: „Unverständlich ist es, dass hohe Funktionäre der Religionsgemeinschaften sich auf ein angebliches göttliches Recht (...) berufen, um Verstösse gegen (die) Grundwerte (...) zu rechtfertigen und sich von deren Beachtung (...) für dispensiert zu halten.“ (Köck)
Loretan bezieht das auf die kirchliche Missachtung der Geschlechtergleichstellung; natürlich nicht in Belangen der Liturgie, doch im Hinblick auf im Grunde rein weltlich-administrative Leitungsfunktionen. Er zielt aber ebenso auf den skandalös laxen Umgang von staatlichen Behörden mit Delikten gegen das Sexualstrafrecht, die bisher lediglich in Australien einen Würdenträger der Amtskirche vor ein öffentliches Gericht und in den Strafvollzug gebracht haben. Solche Verstösse gegen das für alle geltende staatliche Recht hingehen zu lassen oder gar als Beweis für die Achtung der Religionsfreiheit zu halten, sei heute nicht mehr zu akzeptieren.
Lessings Ringparabel
Das Buch „Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte“ verdient Beachtung, nicht allein für die mutige Klugheit, mit der es ein oft unterschätztes Gegenwartsproblem behandelt; die katholische Kirche und ihr Tun sind auch in der säkularen Gesellschaft ein Faktor von erheblicher Relevanz.
Es konfrontiert uns darüber hinaus mit dem fundamentalen Problem, wie sich Überzeugungen, die Idee der Wahrheit und die Freiheit der Einzelnen vereinen lassen und in der liberalen Ordnung aufeinander beziehen sollen. Und nicht zuletzt mag es uns dazu ermuntern, wieder einmal Lessings unübertreffliches Lehrstück zu dieser Sache zu lesen: die Ringparabel des weisen Nathan.
*Adrian Loretan, Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte. Religionsgeschichtliche Studien, Theologischer Verlag Zürich, 2017, 308 S.