Der langjährige, leider inzwischen verstorbene „Spiegel“-Reporter und feinsinnige Beobachter der Bonner und Berliner Polit-Bühne, Jürgen Leinemann, schilderte in seinem Buch „Macht“ folgende Szene: „Als Johannes Rau, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, gerade sein Amt angetreten hatte, da wurde er, zusammen mit seinen zehn Kollegen aus den anderen Bundesländern, zu einer Routinebesprechung ins Kanzleramt Helmut Schmidts gebeten (Das Buch erschien 1983, also sieben Jahre vor der Wiedervereinigung, d. Red.). Die Besprechung begann mit einem furchterregenden Dauerlamento des Kanzlers: die Staatsfinanzen, die Weltwirtschaft, die Amerikaner, die Russen, die Gewerkschaften, die Parteien, die Jugend, die Renten – wohin Schmidt-Kosmos blickte, sah er Unheil und Zusammenbruch. ‚Mein Gott‘‚ dachte der fromme Johannes Rau da, ‚dass es schlimm steht, war mir ja klar. Aber wenn ich gewusst hätte, dass es so schrecklich ist, dann hätte ich mich vielleicht doch besser nicht wählen lassen sollen.‘ Als seine Verzagtheit den tiefsten Punkt erreicht hatte, stupste ihn sein Nachbar an. ‚Heute ist er guter Laune‘, flüsterte Bernhard Vogel, Unions-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz dem Neuling zu. ‚Heute behauptet er das nur von der Bundesrepublik. Sonst sagt er immer, die Welt sei unregierbar.‘“
Alles schon mal dagewesen
Was dieser Griff in die Anekdotenkiste unseres Landes soll? Na, ganz einfach: „Alles schon mal dagewesen“, wie der kluge Rabbi Ben Akiba in Karl Gutzkows „Uriel Acosta“ zu sagen pflegte. Oder kommen einem die Schmidtschen Klagen nicht bekannt vor? Eben. Und doch gibt es eine Veränderung. Eine bedeutende sogar. Zwar hat sich der Inhalt der Beschwerden im Verlauf der Zeiten nicht wesentlich verändert. Sehr wohl jedoch der Absender. Und natürlich der Klageweg. Abgesehen von der inner- und aussenpolitischen Opposition (zu deren natürlichem Geschäft das Kritisieren ja gehört), kommen derartige Fundamentalbeschwerden jetzt nicht mehr in erster Linie aus dem Bereich der Politikmacher. Sondern aus der breit gefächerten Schar derer, für die und in deren Namen ja angeblich Politik gemacht werden soll. Also aus dem breiten Pulk der Bürgerschaft. Logisch, dass man sich dort dafür inzwischen auch der modernen, digitalen Transmission durch die diversen „sozialen“ Medien bedient.
Es steht die Wahl zum nächsten Deutschen Bundestag vor der Tür. Ein Ereignis, von dessen Ausgang jeder Einzelne zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz betroffen sein wird. Ein Vorgang, der mithin mehr Interesse verdient als bloss die Frage, ob das jüngst medial so hochgejazzte TV-„Duell“ zwischen den beiden Spitzenkandidaten – Angela Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD) – die Unterhaltungserwartungen der Zuschauer erfüllt hat oder nicht.
Politische Schwarzmaler werfen in diesem Zusammenhang gern ihr pessimistisches Weltbild von der „gespaltenen Gesellschaft“ an die Wand. Dem mag man durchaus zustimmen, jedoch aus einem ganz anderen Blickwinkel als diese Unheilspropheten. Während diese nämlich in den diversen Netzwerken die Meinungsführerschaft im Kassandrarufen beanspruchen (und sich dabei nicht selten auch noch in direkten Beschimpfungen von und geradezu unglaublichen Hassausbrüchen vor allem gegen Politiker überbieten), weisen nahezu sämtliche seriösen Meinungsbefragungen gleichbleibend eine relativ hohe Zufriedenheit der Bürger mit ihren allgemeinen Lebensumständen aus.
Wunsch nach starker Führung
Was stimmt denn nun? Geht alles den Bach hinunter? Oder dominiert im Volke mehrheitlich das „Weiter so“? Die erste Frage kann man wahrscheinlich getrost vernachlässigen und sie den notorischen Spökekiekern und Schwarzsehern überlassen. Kein vernünftiger Mensch wird schliesslich behaupten, dass alle Verhältnisse im Lande optimal oder gar ideal wären. Das könnte ja ohnehin nur dann der Fall sein, wenn die Welt insgesamt und – vor allem – ihre Bewohner diese Kriterien erfüllten.
Bleibt also die Frage nach dem „Weiter so“. Klares Nein. Natürlich nicht. Denn das würde wiederum bedeuten, dass unsere Gesellschaft die rasanten, abenteuerlichen, ja revolutionären wirtschaftlichen, technischen, militärischen und damit auch machtpolitischen Veränderungen überhaupt nicht zur Kenntnis nähme und stattdessen glaubte, sich national einigeln und auf einer Insel der Glückseligkeit gemütlich tun zu können.
Verständlicherweise sind in diesen Vorwahltagen viele mediale Fragen, aber auch solche aus dem Publikum, direkt an die Spitzenbewerber Merkel und Schulz gerichtet: „Was werden Sie tun?“ Also doch wohl persönlich gemeint. In der Flüchtlings- und Asylfrage, hinsichtlich der Renten, gegenüber der Türkei und Erdogan, Trump und Putin, zur Bekämpfung des Terrors und, und, und … Manifestiert sich in solchen Direktansprachen Vertrauen in, Glauben an und Hoffnung auf die Fähigkeit der Frau oder des Mannes an der Staatsspitze, diese Probleme zu lösen – oder sie wenigstens zu regeln? Kann daraus vielleicht sogar der Wunsch nach einer starken Führungspersönlichkeit gelesen werden? Das erschiene nicht unverständlich, weil eine solche Konstellation einfach und überschaubar wirkt. Und es würde wenigstens teilweise den Zulauf zu politischen Kräften erklären, die selbst für die kompliziertesten Fragen und Vorgänge scheinbar einfache Antworten haben und Lösungen anbieten.
Von Adenauer bis Merkel
Gewiss, es hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland immer wieder Vorgänge gegeben, die auf einsame Entschlüsse politischer Persönlichkeiten (jedenfalls auf deren wesentlichen Einfluss) zurückgehen. Ludwig Erhard gehört dazu, der – sogar gegen die damalige Mehrheitshaltung von CDU und CSU – nach dem Krieg die Soziale Marktwirtschaft gegen Planwirtschaft durchpaukte. Konrad Adenauer (allerdings unterstützt von wichtigen SPD-Kräften) nahm Mitte der 50er Jahre zum Ärger der westlichen Sieger eigenmächtig diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf und bekam auf diese Weise die letzten deutschen Kriegsgefangenen frei. Mit dem Namen Willy Brandt ist die Umsetzung der seinerzeit heftigst umstrittenen Ostpolitik verbunden, während Helmut Schmidt zu Recht als Vater des sich am Ende als richtig erwiesenen Nato-Doppelbeschlusses gilt. Und mögen bei der deutschen Wiedervereinigung auch viele Faktoren mitgespielt haben – ohne das energische Zupacken von Helmut Kohl wäre sie vermutlich nicht (oder nicht so) zustande gekommen. Ob Angela Merkels Name in den Geschichtsbüchern einmal – positiv oder negativ – allein mit dem Stichwort „Flüchtlingskrise“ auftauchen wird, muss die Zukunft zeigen. Aber in die Aufzählung der einsamen Entschlüsse gehört der Vorgang allemal.
Politische Normalität in einer Demokratie ist das freilich keineswegs. Und hier sei noch einmal der schon eingangs erwähnte Helmut Schmidt zitiert, der mehr als einmal klagte, als Bundeskanzler „nichts machen“ zu können. Sicher, der Regierungschef ist, der Verfassung („Richtlinienkompetenz“) und der allgemeinen Auffassung zufolge, die mächtigste Person in Deutschland. Aber auch Willy Brandt empfand in seiner Regentschaft diese mächtige Person oftmals mitunter bis zur persönlichen Ohnmacht umstellt und eingefangen von Sachzwängen, Mehrheitsbeschlüssen, Koalitionsrücksichten, Kostenrechnungen und dergleichen mehr. Was auch ein Kanzler gern machen möchte, irgendwie gehe es immer nicht – wegen der Verbündeten, einer Uno-Sitzung, einer Landtagswahl, mit Blick auf einen bevorstehenden Parteitag oder auch nur wegen der neuesten Umfrage-Ergebnisse und deren alarmierende Auswirkungen auf die Stimmung der eigenen Parlamentsfraktion.
Politisch Lied, garstig Lied?
Ist „politisch Lied“ in Tat und Wahrheit also wirklich jenes „garstig Lied“, wie 1842 Heinrich Hoffmann von Fallersleben dichtete, der Schöpfer der deutschen Nationalhymne? Nein, das ist es nicht. Zumindest nicht in einem demokratisch verfassten Staat, in dem nicht ein Mensch oder eine Partei die Marschrichtung vorgibt, sondern wo darum gerungen wird, möglichst viele der unterschiedlichen, ja nicht selten sogar auseinanderstrebenden Interessen, Anliegen und Bedürfnisse in der Gesellschaft irgendwie zu bündeln. Das ist mühsam, meistens mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner verbunden und damit niemanden wirklich zufriedenstellend. Aber eine alles in allem gerechtere Methode hat leider noch niemand gefunden.
Damit sind die Deutschen (zumindest die im Westen) in den beinahe siebzig Jahren Bundesrepublik gut gefahren. Vielleicht auch deshalb, weil zumindest in der ersten Hälfte dieser Zeit noch viele Menschen mitarbeiteten, welche die unheilvolle Alternative zu diesem System am eigenen Leib erlitten hatten. Diese Generation ist inzwischen abgelöst. Auch in der Politik. Wer die Zusammensetzungen früherer Bundes- und Landtage mit den neueren vergleicht, mag sich wundern, wie viele der damaligen Parlamentarier aus handfesten Berufen stammten, mithin beispielsweise bei sozialpolitischen Themen tatsächlich wussten, wovon sie sprachen. Blättert man indessen heute durch die Lebensläufe von Abgeordneten und Kandidaten, finden sich in zunehmender Zahl Karrieren, die sich so zusammensetzen: Kreisssaal, Hörsaal, Plenarsaal. Also politische Gestaltung unter Umgehung jeglicher irgendwie gearteten bürgerlich-beruflichen Tätigkeit.
An der Wirklichkeit vorbei
So verlaufen denn leider auch viele Debatten im Bundestag. Nur in den seltensten Fällen hat der Betrachter den Eindruck, dort werde tatsächlich noch um die besten Lösungen gerungen. Das ist vorgestanzt, da sind die Ecken und Kanten abgeschliffen, da werden leblose Statistiken zitiert, wenn es um Schicksale geht. Auch diese Politikergeneration muss in Schutz genommen werden vor den Anwürfen der unflätigen Prolls in den digitalen Medien, die ihnen vorwerfen, nichts anderes im Sinn zu haben als die persönliche Bereicherung. Problematisch ist vielmehr, dass – von Ausnahmen abgesehen –man nicht mehr genügend nahe an „den Menschen draussen im Lande“ ist.
Das gilt nicht allein für die politische Klasse. Auch in manch anderen Bereichen des öffentlichen Lebens ist es nicht anders. Oft genug ist ganz einfach verlorengegangen, was früher zwar altväterlich, aber treffend bezeichnet wurde als „das tut man, und das tut man nicht“. Was ist, zum Beispiel, von Industriemanagern zu halten, die – etwa bei Volkswagen – sich an unglaublichen Betrügereien beteiligen und dennoch gleichzeitig ohne jeglichen Gewissensbisse riesenhafte Tantiemen einstreichen? Was sollen Arbeitslose oder geringfügig Verdienende im Ruhrgebiet von der „Wirklichkeit“ halten, wenn sie lesen und hören, welche Summen „ihre“ Fussballvereine für Edel-Balltreter ausgeben oder einstreichen?
Freilich, noch einmal zur Erinnerung: Auch das ist nicht auf Deutschland beschränkt und mithin auch nicht national zu lösen. Aber „politisch“ ist es schon.