Der Irak wählt am 30. April ein neues Parlament. Dies geschieht unter besonderen Umständen. Einerseits ist die Sicherheitslage schlecht. Die Regierung hat seit Januar dieses Jahres die Macht über die beiden grössten Städte und viele Dörfer der Wüstenprovinz Anbar verloren. Sie hat der irakischen Armee befohlen, die Städte und Dörfer zurückzuerobern. Doch dies ist nicht geschehen. Die Armee schiesst, meist aus der Distanz, auf die Aufständischen und auf die verbleibenden Zivilisten. Doch sie hat die Bewaffneten nicht aus Anbar vertrieben.
ISIS und Stammeskämpfer regieren in Anbar
Die beiden Städte Falludscha und Ramadi sowie viele Dörfer und Distrikte werden von wenig durchsichtigen Koalitionen regiert, die aus lokalen Stammeskämpfern, lokalen Würdenträgern und Kämpfern von ISIS gebildet sind. Alle sind sie Sunniten. ISIS ("Islamic State in Irak and Syria") ist jene islamistische Gruppierung, die auch in Syrien kämpft, und die von Al-Kaida ausgeschlossen wurde, weil sie sogar für Al-Kaida allzu fanatisch auftritt. In Syrien führt ISIS Krieg nicht nur gegen Asad sondern auch gegen alle anderen Kämpfer des syrischen Widerstandes, weil sie Syrien alleine zu regieren beansprucht.
Die gleiche Terrorgruppe, jedoch in Zusammenarbeit mit anderen unzufriedenen sunnitischen Elementen, sorgt im Irak dafür, dass so gut wie jeden Tag eine Bombe hochgeht, die Todesopfer verursacht, manchmal in kleineren Zahlen, andere Male in Dutzenden. Die Wahlen werden dennoch durchgeführt.
Ungewöhnliche Regelung der Regierungsbildung
Dies ist die erste Anomalität der irakischen Wahlen. Die zweite ist wenigen Leuten ersichtlich, weil sie auf komplexen Zusammenhängen beruht. Im Irak erhält nicht jener Politiker eine Chance, zur Regierungsbildung zu schreiten, der die Partei oder Parteienallianz mit den meisten Stimmen anführt, sondern jener, der nach den Wahlen die grösste Koalition von Abgeordneten um sich zu scharen vermag.
Diese Regelung geht auf einen Entscheid des Irakischen Obersten Gerichtes zurück, der 2010 gefällt wurde. In den damaligen Parlamentswahlen erlangte das Parteienbündnis von Ayad Allawi, des wichtigsten Konkurrenten Malikis, mit 91 Parlamentssitzen zwei mehr als Maliki. Doch Maliki war in der Lage, mehr der neu gewählten Parlamentarier anderer Parteien für sich zu gewinnen als Allawi.
Koalitionen vor oder nach den Wahlen?
Die Verfassung erklärt: Die Partei oder die Parteienkoalition, die am meisten Sitze im Parlament aufweist, schreitet zur Regierungsbildung. Die Verfassung sagt nichts darüber, ob die Allianzen, die zum ersten Versuch einer Regierungsbildung führen, vor oder nach den Wahlen zu bilden sind. Allawi beanspruchte als erster eine Regierung zu bilden, wie dies in so gut wie allen parlamentarischen Regimen normal ist, denn er hatte die Wahlen, wenn auch knapp, gewonnen.
Doch Maliki erklärte, er habe ein Recht darauf, die Regierungsbildung als erster zu unternehmen, weil er – nach der vollzogenen Wahl – die Möglichkeit habe, am meisten Abgeordnete hinter sich zu vereinigen. Das Obergericht musste entscheiden, und es sprach sich für die These Malikis aus. Das heisst dafür, dass die erste Gruppierung, die zugelassen werde, um eine Regierung zu bilden, jene sei, die nach den Wahlen die meisten der gewählten Abgeordneten um sich zu scharen vermöge.
Politischer Bazar und Korruption
Ob das Gericht die Folgen seines Entscheides durchschaute, wissen wir nicht. Sie waren schwerwiegend. Die Wähler wurden eines Teils der Bedeutung ihrer Entscheidung beraubt, denn mit der nun geltenden Regelung überliessen sie den Gewählten den Entscheid darüber, ob sie sich diesem Hauptpolitiker anschliessen wollten oder seinem Hauptgegner. Erst diese Stellungnahmen der Gewählten – nicht die Stimmen der Wähler – entscheiden, wer schlussendlich die Regierungsmacht ausüben darf.
Da der Grundentscheid für die Regierungsbildung von den Abgeordneten abhängt, nicht von den Stimmen der Wähler und schon gar nicht von den den Wählern vorgelegten Parteiprogrammen, öffnete diese Regelung der Korruption weite Schleusen. Ein jeder Anwärter auf Regierungsbildung muss versuchen, möglichst vielen Abgeordneten Zückerchen anzubieten, die sie veranlassen, sich hinter ihm aufzureihen. Wer die besten Versprechungen macht, wird Regierungschef.
Elimination der sunnitischen Bundesgenossen
Maliki hat, nachdem er Regierungschef wurde, einen weiteren Kunstgriff angewandt: Er bootete die wichtigsten der sunnitischen Politiker aus, die er zur Zeit der Regierungsbildung auf seine Seite gelockt hatte. Er tat dies, indem er sowohl den sunnitischen Vizepräsidenten des Staates, Tareq Hashemi, wie auch etwas später den sunnitischen Finanzminister anschuldigen liess, sie stünden mit den sunnitischen Terroristen im Bunde. In beiden Fällen wurden die Leibwächter der Beschuldigten eingekerkert und «veranlasst», gegen ihre Brotherren auszusagen. Welcher Art die Veranlassung war, kann man ahnen.
Die gleichen Richter, die Maliki auf den Stuhl des Ministerpräsidenten halfen, haben später den von ihm ausgebooteten Vizepräsidenten Hashemi, der geflohen war, in Abwesenheit fünffach zum Tode verurteilt.
Scheinparteien als Mehrheitsbeschaffer
Die Regelung der Regierungsbildung hat auch Folgen für die gegenwärtigen Wahlen. Maliki treibt eine doppelte Politik. In seinen Wahlreden erklärte er, diesmal strebe seine politische Formation, «Rechtsstaat» benannt, nach alleiniger Regierungsgewalt. Die Unvollkommenheiten, so sagt er, die seinem bisherigen Regime anhafteten (die Iraker kennen diese nur zu wohl, viele haben sie am eigenen Leibe erfahren) seien nämlich darauf zurückzuführen, dass er mit einer heterogenen Koalition habe regieren müssen, die sich mehr stritt als dass sie regierte. Alles werde viel besser werden, wenn er mit seinen Anhängern alleine regieren könne.
Doch gleichzeitig sorgt Maliki vor für den Fall, dass die Wähler sich nicht für ihn entscheiden sollten. Er hat eine ganze Reihe von Scheinparteien aufstellen lassen und in den Wahlkampf entsandt, die als Konkurrenten seiner Koalition auftreten, jedoch von Politikern angeführt werden, die als seine Kreaturen zu gelten haben. Die Rechnung dabei ist: Jene Leute, die mit den Resultaten der fünf Regierungsjahre Malikis nicht zufrieden sind, dürften mindestens teilweise die Scheinparteien wählen. Ihre Führer sind nach dem Kriterium ausgewählt, dass sie gewisse Sympathien der Wähler geniessen. Sie werden sich aber, wenn es um die Regierungsbildung geht, hinter Maliki stellen.
Langwieriger und untransparenter Vorgang
Allgemeiner gesehen bewirkt die Regel der Ausmarchung nach erfolgten Wahlen, dass der Wahlvorgang sich auf Personen konzentriert statt auf Programme, weil in Tat und Wahrheit erst die Gewählten, nicht ihre Wähler, darüber entscheiden, welcher politischen Ausrichtung sie sich anschliessen. In einer normalen Demokratie findet die Ausarbeitung eines politischen Angebotes vor den Wahlen innerhalb der Parteien statt. In der irakischen beginnt sie erst nach der Wahl der Abgeordneten, weil sie erst dann aufgefordert sind, ihre endgültigen politischen Entscheide zu treffen.
Dieser Umstand erklärt auch die äusserst langen Prozesse der Regierungsbildung. Nach der Wahl von 2010 hat die Regierungsbildung neun Monate lang gedauert. Ein vergleichbarer Prozess ist auch diesmal zu erwarten. Erst nachdem die Abgeordneten gewählt sind, werden sie beginnen, die Regierungsangebote zu prüfen, die rivalisierende potentielle Regierungschefs ihnen vorlegen.
Die Wahl ist nicht unwichtig. Sie entscheidet über das Verhandlungspotential, über das diese oder jene Führungsperson unter den gewählten Abgeordenten verfügt. Denn dieses hängt davon ab, wieviele Abgeordnetenstimmen er garantieren kann. Je mehr es sind, desto höhere Forderungen kann ihre Führungsperson für die Unterstützung eines der potentiellen Regierungschefs stellen. Um seinerseits möglichst viele Abgeordnete hinter sich aufzureihen, muss ein Anführer diesen Versprechungen machen. So wird ausgemarcht, wer das Land schlussendlich regieren darf. Das heisst auch: wer letztlich über dessen gewaltiges Erdöleinkommen verfügt. Wie gut oder schlecht dann das Land regiert werden wird, ist für die an die Herrschaft gelangten kleinen und grossen Machthaber nur allzusehr – Nebensache.