Der schon oft fast zustande gekommene aber dann doch mehrmals von Präsident Ali Saleh Abdullah hintertriebene Kompromiss, der zur Abdankung des Staatschefs, zu Neuwahlen und einem politischen Neubeginn in Jemen führen soll, ist im vergangenen November endgültig ausgehandelt und unterzeichnet worden. Die Golfstaaten unter politischer Führung durch Qatar, den allerkleinsten von ihnen, jedoch von Saudi-Arabien angetrieben und gestützt durch die USA, haben den jemenitischen Staatschef schliesslich überredet, seinem Rücktritt zuzustimmen. Dies jedoch nicht, ohne seinen Wünschen und Anliegen breiten Raum einzuräumen.
Amnestie für Ali Saleh
Ali Abdullah Saleh bleibt Staatschef für weitere drei Monate. Doch er tritt seine Amtsvollmachten an seinen Vizepräsidenten, Abdel Rabbo Mansour Hadi, ab. Er erhält Amnestie für alle Verbrechen, die er in seiner Amtszeit möglicherweise begangen hat. Vizepräsident Mansour Hadi bildete eine Übergangsregierung, "Nationale Einheitsregierung" genannt, die bis nach den Wahlen im Amt bleiben soll. Sie besteht zur Hälfte aus den Anhängern des abtretenden Staatschefs und zur Hälfte aus der politischen Opposition, die sich in den langen Monaten der Demonstrationen und Kämpfe gegen die Macht des Staatschefs gebildet hat.
Diese Opposition heisst "Joint Meeting Party". Sie besteht aus Politikern, nicht aus den Demonstranten, die in Strassen gegen den Machthaber protestiert haben. Die Hauptmasse dieser Politiker, zusammengeschlossen in der Partei "Islah" (Reform), bildete vor den Demonstrationen die offizielle und zahme Opposition in dem von der Partei des Staatschefs ("General Peoples Congress") dominierten Parlament. Diese "Oppositionspartei" arbeitete in der Praxis mit der Regierungspartei zusammen. Einige andere oppositionelle Gruppen, die in den früheren Parlamenten keine oder nur ganz geringe Vertretungen besassen, haben sich mit dieser offiziellen Opposition von "Islah" zusammengeschlossen und gemeinsam mit ihr unter dem Eindruck der Strassendemonstrationen (man kann sagen der "Volksopposition" im Gegensatz zur Opposition "der Politiker"), eine politische Front gebildet, die sich nun gegen den Staatschef richtete und seinen Rücktritt forderte.
Die Opposition der Politiker und jene der Demonstranten
Es ist wichtig zu erkennen, dass diese "politische Opposition" nicht die gleiche ist wie jene "der Bevölkerung" auf den Strassen, welche die gesamte gegen den Staatschef und seine Macht gerichtete Kontestationsbewegung ausgelöst und während fast einem Jahr getragen hatte.
Die "politische Opposition" besteht aus Personen, die schon unter Ali Saleh Abdullah soziale Führungsstellungen einnahmen. Sie führen und vertreten irgendeine der vielen Klientel: religiösen oder Stammesgruppierungen, aus denen sich die jemenitische Gesellschaft zusammensetzt. Als solche Interessenvertreter sahen sie sich veranlasst, mit dem Staatschef und seiner Partei zusammenzuarbeiten, solange diese allmächtig waren. Sie haben sich erst von ihnen getrennt, als die Massendemonstrationen in Sanaa und in den anderen Städten Jemens klar machten, dass die Bevölkerung den Präsidenten (und sein Regierungssystem) loswerden wollten.
Die neue "Nationale Einheitsregierung"
Die von dem Kompromissvertrag geforderte Übergangsregierung ist am 7. Dezember von Vizepräsident Mansour Hadi ernannt worden. Regierungschef ist Mohammed Basindwa, ein Politiker, einstiger Aussen- und Informationsminister, der die Partei Ali Saleh Abdullahs schon vor zehn Jahren verlassen hatte und seither keiner Partei mehr angehörte. Zwölf der Anhänger Ali Abdullah Salehs haben in der Einheitsregierung Ministerien inne, wie das Verteidigungs-, das Erdöl- und das Aussenministerium. 15 der neuen Minister sind Unabhängige oder stammen aus dem Zusammenschluss der Oppositionsparteien, der "Joint Meeting Party". Ihnen unterstehen unter anderen das Innenministerium, die Finanzen und die Information.
Überspielte Volksbewegung
Die Kontestationsbewegung (= "Volksopposition") ist nicht vertreten. Sie lehnt die Straffreiheit für den abtretenden Präsidenten ab und wurde daher nicht an dem Kompromiss beteiligt. Was vermutlich den saudischen Interessen entsprach. Denn die Saudis sind keine Freunde der Strassenkonfrontation.
Machtmässig stehen die Massen auf den Strassen, die immer noch weiter demonstrieren, gegenwärtig im Schatten der bewaffneten Auseinandersetzung. Seitdem es zwei bewaffnete Parteien in den verschiedenen jemenitischen Städten gibt, die periodisch aufeinander - und auch auf die unbewaffnete Bevölkerung - schiessen, sind die gewaltfreien Demonstranten trotz ihrer grossen Masse und ihrer Todesbereitschaft an den Rand gedrängt. Die Schüsse der Bewaffneten verursachen Tote und Verwundete und treiben die Demonstranten regelmässig auseinander.
Zwei bewaffnete Gruppierungen
Die bewaffneten Parteien sind einerseits die Elite-Einheiten der jemenitischen Armee, die vom Sohn und zwei Neffen des abtretenden Staatschefs kommandiert werden. Sie besitzen die besten Waffen und geniessen eine stillschweigende Unterstützung durch die Amerikaner und Saudis, weil diese auf sie angewiesen sind, um die Qaida-Aktivisten in Schach zu halten, die in der südlichen jemenitischen Wüste operieren und gelegentlich Dörfer oder kleinere Städte besetzen.
Auf der Gegenseite stehen die Armeeeinheiten, die im vergangenen März unter General Ali -Mohsen die Armee verliessen und auf die Seite der Demonstranten getreten sind. Zu ihnen sind weitere Einheiten von "Deserteuren" gestossen. Diese regulären Armeeeinheiten werden unterstützt durch bewaffnete Stammeskrieger der Hashed Stammeskonföderation, die zu den Gefolgsleuten der al-Ahmar-Familie gehören. Die Stammesführer der Ahmar-Familie haben ebenfalls für die Strassenopposition Partei ergriffen.
Tawakkol Karman auf verlorenem Posten
Die bekannteste Anführerin dieser Strassenopposition ist die Nobelpreisträgerin Tawkkol Karman. Diese Journalistin und Politikerin - sie gehörte einst auch zum Volkskongress Ali Saleh Abdullahs - befindet sich gegenwärtig in Europa. Sie hat im Haag versucht, den Internationalen Gerichtshof dazu zu bewegen, den abtretenden Staatschef unter Anklage zu stellen. Sie versucht auf diesem Wege das Amnestieversprechen zu überspielen, das einen Teil des Kompromissvertrages der Golfstaaten bildet.
Die "revolutionären" Ziele der Protestbewegung
Ihre eifrigsten Mitstreiter befinden sich immer noch in den Protestlagern in Sanaa, in Taez und in anderen Städten. Sie möchten nicht nur den bisherigen Staatschef absetzen und bestrafen, sondern auch darüber hinaus das ganze politische und soziale System des Landes "umwandeln". Was sich jedoch leider nicht mit dem Zauberstab der Strassenproteste bewirken lässt.
Klientelstrukturen als Basis der Politik
Die jemenitische Politik beruht aus lauter Machtpyramiden. An den Spitzen dieser pyramidenförmigen Machtkonstellationen sitzen grössere oder kleinere "Chefs". Sie können Stammeschefs sein, oder auch Anführer und Kontrolleure von städtischen Klientelnetzen religiöser oder wirtschaftlicher Natur - oder sogar militärische Chefs, die "ihre" Einheiten versorgen, kontrollieren und nach ihrem Befinden einsetzen.
Um das ganze Land zu regieren, verhandeln diese Chefs miteinander. Der oberste Chef mit dem Titel "Präsident" ist jene Person, welche unter ihnen vermittelt und seine Machtmittel einsetzt, um sie alle, oder mindestens grosse Blöcke von ihnen, zum Zusammenwirken zu bringen. Dies führt dazu, dass die Häupter der unteren Machtpyramiden sich ihm unterordnen und seinen Weisungen folgen. Doch kann es auch vorkommen, dass sie sich von ihm lossagen und einzeln oder kollektiv ihren eigenen Zielen nachgehen.
Auflösung des Machtgefüges des Präsidenten
In Jemen hat sich, ausgelöst durch die Strassenkontestation und durch die allzu blutige Niederschlagung derselben durch die bewaffneten Anhänger des Präsidenten, ein grosser Teil der bisher untergeordneten Machtpyramiden vom bisherigen Präsidenten gelöst. Doch die untergeordneten Machtstrukturen mit ihren Führungspersonen bestehen weiter. Nur die Demonstranten haben sich (viele gewiss nur vorübergehend) von diesen Strukturen emanzipiert und versuchten als Individuen, gewissermassen auf eigene Faust und aus eigenem Antrieb, zu agieren.
Rivalisierende militärische Etablissements
Die mächtigsten aller Machtpyramiden sind die militärischen. Sie sind grosso modo gespalten in die einander entgegenstehenden Kräfte des abtrünnigen Generals Ali Mohsen und seiner Freunde und in die waffenmässig wohl stärkere Macht der "regulären" Einheiten unter dem Kommando des Sohns und der Neffen des abtretenden Staatschefs.
Nur wenn diese Kräfte wieder zusammengeschweisst werden können, kann Jemen einen Bürgerkrieg vermeiden. Darüber, wie die Armee wieder vereinigt werden soll, schweigt der Kompromissvertrag. Doch Vizepräsident Hadi hat ein Versöhnungskomitee aus 35 hohen Offizieren ernannt, die meisten im Rang von Generalleutnants und Majoren, die diese Aufgabe bewältigen sollen. Ihr Gelingen oder Scheitern wird in erster Linie davon abhängen, ob sie die Söhne und Neffen Ali Saleh Abdullahs und deren langjährigen und bitteren Gegenspieler, General Ali Mohsen, dazu bringen können, entweder zurückzutreten oder sich zu versöhnen.
Wahlen angesetzt auf den Februar
Hadi hat auch einen Termin für die Wahlen angesetzt, den 21. Februar 2012. Damit in der Tat Wahlen durchgeführt und nach ihnen die gegenwärtige Übergangsregierung einer gewählten Regierung weichen kann, muss zuerst diese grundlegende Versöhnung der Streitkräfte verwirklicht werden.
Saleh weiter an einem Schalthebel
Der abtretende Staatschef Ali Abdullah Saleh befindet sich noch in Sanaa in seinem Präsidentenpalais. Es gibt Gerüchte, nach denen er gedenke, das Land zu verlassen, um in New York weitere Behandlung für die Verletzungen zu suchen, die er am 4. Juni durch einen Bombenanschlag erlitten hat. Doch zunächst ist er im Lande. Sein Einfluss in den Kulissen dürfte entscheidend wichtig dafür werden, ob eine militärische Versöhnung stattfindet oder nicht.
Wenn er seine Verwandten dazu ermuntert, hart zu bleiben, wird es wahrscheinlich nicht zu einer Versöhnung kommen. Wenn er sich für eine Versöhnung einsetzt, könnte sie möglicherweise zustande kommen.
Die letzte Gelegenheit
Wenn es nicht zu einer Versöhnung kommt und die Wahlen hinausgeschoben werden müssen, wäre dies katastrophal. Denn Jemen steht wirtschaftlich und sozial am Rande des Abgrunds. Das Land ist zusammengesetzt aus einer Reihe von heute sehr gross gewordenen Städten, die weit auseinander liegen. Wüste oder wüstenähnliche Berglandschaften liegen dazwischen. Die Hunderte von Kilometern, welche die Bevölkerungszentren trennen, werden überbrückt durch Strassen, durch Erdölleitungen und durch Elektrizitätsleitungen. Gegenwärtig ist sowohl das Benzin, wie auch die Elektrizität knapp geworden. Die Rohölexporte (Hauptdevisenbringer) sind auf die Hälfte reduziert, weil die Rohrleitungen immer wieder beschädigt werden und der Unsicherheit wegen schwer zu reparieren sind.
Wenig Elektrizität
Die Elektrizität fehlt mancherorts, etwa in einigen Aussenquartieren von Sanaa, 20 bis 23 Stunden im Tag, weil die Hochspannungsleitungen sabotiert werden und ebenfalls nicht repariert werden können. Die Elektrizitätswerke können ihre Schulden bei den Staatsbanken nicht mehr verzinsen, obwohl die Preise für Elektrizität so hoch angestiegen sind, dass die einfachen Leute sie nicht mehr zu entrichten vermögen, falls Strom überhaupt erhältlich sein sollte. Die Arbeiter der Elektrizitätswerke werden nicht mehr oder nur teilweise bezahlt, weil diesen das Geld fehlt...
Fehlendes Wasser, Kochgas und Geld
Auch das Wasser ist knapp geworden, weil es für den Verbrauch in den Städten und für die Landwirtschaft mit Dieselpumpen aus dem Untergrund gepumpt werden muss, und zwar aus immer tieferen Schichten. In den Städten fehlt Butan-Gas, mit dem die ganze Bevölkerung kocht. Die Preise der Lebensmittel steigen rasch ins Unermessliche, weil die Transporte über die Strassen wegen Benzinmangels und Unsicherheit immer schwieriger werden. Die gesamte technische Infrastruktur von Millionenstädten wie Sanaa und Taez droht zusammenzubrechen.
Das Gespenst des "failed state"
Dank der Zähigkeit und dem Überlebenswillen der Bevölkerung kann das städtische Leben sich vielleicht weiter schleppen bis zum Wahltermin des 21. Februars. Die Leute auf dem Land sind möglicherweise etwas länger überlebensfähig. Doch wenn der Wahltermin hinausgeschoben werden muss, könnte es zu einem vollen Zusammenbruch des Staates kommen. Die Gefahr heisst Somalia. Das bedeutet, eine jede der oben erwähnten Machtpyramiden für sich und eine jede gegen die anderen. Schon gegenwärtig ist ein Gebiet im Norden mit 1,5 Millionen Bewohnern von Hungersnot bedroht.
Die Sezessionsbewegung im Norden
Die Abspaltungsbewegungen im Norden und im Süden des Landes sind so stark geworden, dass Sanaa künftig eine Neuordnung mit deren Oberhäuptern wird aushandeln müssen. Eine neue Zentralregierung von Sanaa wird sich gezwungen sehen, in beiden Fällen Autonomielösungen auszuarbeiten und zuzugestehen. Die Houthi-Bewegung hat im März dieses Jahres den Gouverneur von Saada besiegt und vertrieben. Sie hat daraufhin ihren eigenen Gouverneur eingesetzt, der sich "gewählt" nennt. Es ist Fares Manna, ein schwerreicher Mann und der bekannteste Waffenschmuggler des Nordens. Er tritt als Versöhner auf und ist gegenwärtig damit beschäftigt, neue Kämpfe beizulegen, die im Norden ausgebrochen sind. Sie spielen sich ab zwischen salafistischen Gruppen, das heisst Anhängern der in Saudi Arabien vorherrschenden und wohl auch von dort her unterstützten Religionsrichtung der Wahhabiya und den zaiditisch schiitischen Houthis. Sanaa hat offensichtlich in Saada nichts mehr zu sagen.
Das Unabhängigkeitsstreben im Süden
Die südliche Separatisten-Bewegung ist noch nicht ganz so weit. Gegenwärtig findet in Kairo ein Kongress statt, an dem die gegen die zentrale Herrschaft gerichteten Kräfte des jemenitischen Südens teilnehmen. Er versucht Einigkeit unter diesen Kräften zu erreichen. Vorsitzender des Kongresses ist Ali Nasser Mohammed, einer der wichtigsten Politiker aus der Zeit (1968-1990). Damals bildete Südjemen mit der Hauptstadt Aden einen eigenen, pro-kommunistischen und von der Sowjetunion unterstützten Staat.