Ich staune immer wieder, mit welcher Besessenheit viele Inder die Unzahl von demokratischen Wahlen verfolgen. Seien es National-, Regional, Bezirks- oder Gemeindewahlen, sie stellen sicher, dass sechs Monate im Jahr irgendeine Wahl stattfindet. Sie färbt dann wochenlang Alltagsgespräche, lässt die sozialen Medien heisslaufen und bildet die Hauptmahlzeit des täglichen Medienkonsums.
Als Schweizer Journalist sollte ich damit vertraut sein, dennoch zähle ich es zu den Gnaden des Ruhestands, diesen Zirkus nicht mehr mitverfolgen zu müssen. Ich empfinde eine schelmische Freude, die Seiten um Seiten von Wahlprognosen, -kämpfen, -tagen, -analysen zu ignorieren und die stundenlagen Rundtisch-Diskussionen mit der Fernbedienung zum Schweigen zu bringen.
Doch dann kommt eine Wahl daher, die jede Idee eines politischen Zweikampfs derart ad absurdum führt, dass man ihr in einer Mischung von Faszination und Horror erliegt. Vor anderthalb Wochen gingen die Wähler im südindischen Karnataka an die Urnen. Das Wahlresultat: BJP 104 Sitze, Kongress 78, die Regionalpartei Janata Dal 38, plus zwei Unabhängige. Die einfache Mehrheit im Parlament von Bangalore beträgt 112.
Schuldenerlass
Kaum zeichnete sich dieser Trend ab, d. h. die Niederlage der bisher regierenden Kongresspartei, bot diese dem Janata Dal ein Regierungsbündnis an, in der Letztere den Regierungschef stellen durfte. Die beiden gingen zum Gouverneur, dem Vertreter der neutralen Verfassungsautorität, um als mehrheitsfähige Koalition den Regierungsauftrag zu erhalten.
Noch schneller hatte die BJP reagiert. Obwohl ohne Parlamentsmehrheit, beanspruchte sie als grösste Partei den Auftrag. Der Gouverneur, ein alter Parteifreund von Premierminister Modi, gab der BJP den Zuschlag. Mehr noch: sie erhielt eine Frist von zwei Wochen, um in einer Vertrauensabstimmung im Parlament ihre Mehrheit zu beweisen.
Bereits am nächsten Morgen liess sich der neue BJP-Ministerpräsident vereidigen. Noch bevor er sein Büro bezogen hatte, versprach er, allen Bauern des Staates ihre Bankschulden zu erlassen. Am gleichen Tag erhielten alle Abgeordneten (einschliesslich der Opposition) seine Einladung in ein Resort-Hotel, wo er das Regierungsprogramm vorstellen wollte. Für die Gegner war dies allerdings nichts dergleichen.
Schutzhaft
Ein Sturm brach los. Zwei Wochen?, entrüsteten sich die Gegner, das sei eine Einladung an die BJP, Vertreter von Kongress und JD zum Seitenwechsel zu bewegen. Aber sie setzten nicht mehr auf die Unparteilichkeit des Gouverneurs. Sie schufen ihre eigenen Vorkehren, um ihre Leute bei der Stange zu halten: Sie nahmen sie in einem Hotel in Schutzhaft, am besten im benachbarten Kerala.
Keralas Tourismus-Behörde schaltete sofort einen humorigen Tweet, in dem sie ihre Hotels als „sicher und freundlich“ empfahl. Sie hatte aber zu früh gespasst. Das erste Hotel in Cochin, das für die 118 Abgeordneten reserviert wurde, sagte kurz darauf ab – politischer Druck aus Delhi habe das Management dazu gezwungen. Ein zweites wurde gebucht, eine Chartermaschine stand in Bangalore bereit. Doch nichts da – sie erhielt keine Abflug-Genehmigung.
Also mussten Busse her, die in unbekannter Richtung losfuhren und in Hyderabad im benachbarten Telangana landeten. Beim Zimmerbezug seien den MPs die Handys abgenommen worden, entsetzte sich die BJP. Es wäre eine Schutzmassnahme gewesen, aber sie stimmte nicht.
Die Richter, aus dem Bett geholt
Stattdessen schickten die Parteiführer jedem Parlamentarier eine App, die es ihm erlaubte, Flüsterangebote von BJP-Mittelsmännern am Telefon aufzuzeichnen und der Parteizentrale zu übermitteln. Diese flossen direkt in die Sozialen Medienkanäle. Bald wusste es jedermann: Das Standardangebot für Überläufer zur BJP bot zwei Optionen an: 5 crore Rupien plus ein Ministerposten, oder 15 crore ohne Kabinettspfründe. Im indischen Sprachgebrauch bedeutet „crore“ zehn Millionen. Die Wahl lautete also zwischen umgerechnet CHF 800’000 (für 5 crore), oder, beim reinen Geldgeschäft, das Dreifache.
Derweil schickte der Kongress in Delhi seine Staranwälte vor, um beim Obersten Gericht die Frist von 15 Tagen anzufechten. Allerdings war die Zeit knapp, denn die neue Regierung hatte die Vereidigung des neu konstituierten Parlaments auf den folgenden Tag vorgezogen.
Es war spätabends und so mussten die Kongress-Anwälte drei Oberste Richter aus dem Bett holen. Um zwei Uhr früh erliessen diese einen Gerichtsbeschluss, der die Vereidigung am nächsten Morgen zwar zuliess; doch gleich darauf (und nicht erst zwei Wochen später) müsse die Vertrauensabstimmung folgen.
Für einmal hatte die BJP das Nachsehen
Am folgenden Morgen jagten sich in Bangalore die Gerüchte. Drei Kongressabgeordnete hätten die Seite gewechselt – der BJP fehlten also noch fünf Stimmen; dann waren es nur noch zwei, schliesslich eine ... Um elf Uhr morgens fuhren die Busse aus Hyderabad beim Parlamentsgebäude vor, die Abgeordneten betraten den Parlamentssaal. Jeder zählte mit, um zu schauen, wie viele am Ende fehlten.
Eine Niederlage der BJP zeichnete sich ab, aber es fehlten noch zwei Kongressabgeordnete, deren Loyalität im Zweifel stand. Die Parlamentswachen stöberten sie in einem Hotel in der Nähe auf (in Gesellschaft eines BJP-Politikers). Dann betraten sie den Saal – und wandten sich, unter frenetischem Klopfen aufseiten der Kongress-Bänke, auf die Seite ihrer Fraktionskollegen. Der neue Regierungschef erhob sich, erklärte, er verzichte auf eine Vertrauensabstimmung – und gab seine Demission bekannt. Er war keine zwei Tage im Amt gewesen.
Für einmal hatte die BJP das Nachsehen. Parteichef Amit Shah hatte im Voraus verkündet, dass die Partei mit Karnataka ihren 15. aufeinanderfolgenden Provinzsieg erringen werde; Premierminister Modi hatte ebenfalls vorausgesagt, mit dem Sieg in Karnataka habe seine Partei endgültig bewiesen, dass sie keine nordindische Regionalpartei sei.
Unverfrorenheit
Die Niederlage war umso ärgerlicher, als die Kongresspartei lediglich bei der BJP abgeschaut hatte, wie man eine Niederlage in einen Sieg verwandelt. In den kürzlichen Provinzwahlen in Goa, Meghalaya und Manipur (im Osten des Landes) war der Kongress jeweils als grösste Partei (aber ohne Mehrheit) aus dem Rennen gegangen.
Die BJP war ihr zuvorgekommen, indem sie unter den Verlierern rasch eine Allianz schmiedete, diese dem (einmal mehr: regierungsfreundlichen) Gouverneur als „Mehrheitskoalition“ unterjubelte – und den Regierungsauftrag bekam. Diese Taktik band ihr nun die Hände, dazu in einem ungleich wichtigeren Bundesstaat. Hätte sie protestiert, könnte die rechtliche Gültigkeit ihrer eigenen Regierungen in den drei Kleinstaaten angefochten werden.
Die Unverfrorenheit, mit der mit Wahlen Schacher betrieben wird, zeigt eines: Indien wird immer mehr ein Land, dessen Demokratie sich in Wahlen erschöpft. Ideologie zählt nur noch als Mobilisationsmaschine, doch im wesentlichen glaubt der Wähler nicht mehr, mit seiner Stimme Einfluss auf den Staat auszuüben. Er hat vor dem Staat kapituliert.
Geld statt Leistung
Die frühere Korrespondentin des liberalen Hindu in Beijing, Pallavi Ayar, beschrieb dies einmal so: In China wird ein Politiker nicht gewählt, er wird von der Partei bestimmt. Diese Willkür schafft einen Legitimationsdruck: der Staatsvertreter muss beweisen, dass er etwas leistet.
In Indien besteht die Legitimation im Gewähltwerden. Ist diese Hürde einmal genommen, braucht der Politiker keinen zusätzlichen Leistungsausweis mehr. Um wiedergewählt zu werden, braucht er statt Leistung Geld. Laut Zeitungsberichten sind über die Hälfte der Neu-Parlamentarier in Karnataka (Dollar-)Millionäre. In der Gemeinderatswahl meines Dorfs stecken Kandidaten dem Wähler inzwischen 500 Rupien in die Tasche.
Die BJP war 2014 mit dem Versprechen von Minimum Government, Maximum Governance an die Macht gekommen. Sie hat rasch dazugelernt, nicht zuletzt dank der zahlreichen Überläufer, für die allein die Gewinnchancen einer Partei zählen. Sie steht heute im Korruptionsindex keiner anderen Parteiformation nach.
Nichts bleibt an ihm kleben
Das eigentlich Erstaunliche in allen Wahlen der letzten vier Jahren ist aber, dass es Modi gelungen ist, seine ausserordentliche Beliebtheit nicht einzubüssen – im Gegenteil. Nichts bleibt an ihm kleben, obwohl er es war, der eine saubere Politik versprochen hatte, und obwohl diese vor aller Augen immer schmutziger wird.
Modi ist es, der seiner Partei Siege in Serie hereinholt. Der Tenor vieler BJP-Wähler lautet: Ich wähle BJP, aber nur wegen Modi. Dabei war er es, der in Karnataka einen verurteilten Bergwerksbaron in die Partei aufnahm und ihm einen Persilschein ausstellte.
Die Chemie seiner autoritär-scharfzüngigen Rhetorik wirkt offensichtlich so berauschend, dass sie alles Negative ausblendet und es dem Gegner anheftet. Je mehr die Wahldemokratie im Sumpf der Korruption versinkt, desto heller leuchtet das Bild des grossen Steuermanns, desto unabänderlicher ist die Allgegenwart des Staats, den er allein verkörpert.