Die Revolte Prigoschins gegen Putin hat die Privatarmee Wagner in den Fokus gerückt. Solche kommerziell operierende Truppen sind in nicht wenigen Ländern aktiv. Da ihre Loyalität stets fraglich ist, stellen sie überall schwerwiegende staatspolitische Probleme.
Noch ist nach dem dramatischen Samstag in Russland völlig offen, ob der Chef der Wagner-Truppe wirklich nach Belarus in eine Art von Exil ziehen wird – und wie viele seiner Söldner ihm dann allenfalls ins Nachbarland folgen werden. Am Sonntagabend antwortete ein Medienbeauftragter Prigoschins auf eine Frage von BBC, der Chef sei noch in Russland, aber an einem unbekannten (das heisst: nicht bekannt gegebenen) Ort.
Die versuchte und letzten Endes abgebrochene Revolte der Wagner-Einheiten führt zur Frage, welche anderen Privattruppen es in Russland denn noch gibt. Bekannt ist allgemein jene des Tschetschenen-Führers Kadyrow, die sich angeblich in Moskau den Wagnerianern bei ihrem Marsch auf die Hauptstadt entgegengestellt habe.
Es gibt noch weitere: Eine Privatarmee namens Patriot ist diversen Recherchen zufolge eng mit dem russischen Verteidigungsministerium verbunden. Rekrutiert werden die Patriot-Kämpfer, das recherchierte die US-amerikanische Jamestown Foundation, durch den Militärgeheimdienst GRU. Patriot werbe aber, so der Befund, im Gegensatz zu Wagner keine Häftlinge an, sondern nur Männer, die in früheren Jahren in regulären Einheiten der russischen Streitkräfte Dienst getan und entsprechende Erfahrungen gesammelt hätten.
Dann gibt es ausserdem eine Organisation mit der Bezeichnung E.N.O.T, von der auch ein Gründer namens Igor Manguschew bekannt ist. Und darüber hinaus existieren in Russland massenweise Sicherheitsfirmen von grossen Unternehmen (beispielsweise des Energiekonzerns Gazprom) mit Mannschaftsbeständen, die kleineren Privatarmeen recht nahekommen.
Wer bezahlt die privaten Truppen?
Bei den Sicherheitsfirmen ist einigermassen klar, wer den Sold bezahlt. Bei Patriot ist das offen, während man bei Wagner weiss, dass das Geld in letzter Instanz aus einem Kässeli Prigoschins stammt (in St. Petersburg wurde am Samstag in einem Büro des Wagner-Chefs eine grosse Bargeldsumme konfisziert, die wohl für die Entlöhnung der Soldaten bestimmt war), aber wo er dann wirklich seine Quellen hat, ist nicht klar. Teilweise kommt das Geld wohl aus den Aufträgen für die Essenslieferungen an die russische Armee. Aber damit allein könnte Prigoschin nicht seine Truppe von zuletzt 25’000 Mann (über so viel Bestand verfügte er ja am kritischen Samstag noch) bezahlen.
All das wirkt nun so, als seien Privatarmeen ein russisches Phänomen oder Problem. So ist es nicht – die halbe Welt unterhält privat bezahlte und dementsprechend privat verpflichtete bewaffnete Einheiten. Die im Westen bekannteste ist wohl jene des US-amerikanischen Unternehmens Blackwater – in Verruf geraten aufgrund von Brutalitäten gegen Gefangene in Irak. Es gab zwischenzeitlich Phasen, da auf irakischem Territorium mehr Blackwater-Leute aktiv waren als reguläre US-Soldaten – für Tageshonorare, so wurde zumindest geschätzt, von zwischen 600 und 800 Dollar. Ähnlich wie jetzt den Wagner-Söldnern wurde den Blackwater-Angestellten vorgehalten, dass sie ohne Rücksicht Menschen in ihrer Gewalt folterten.
Eine britische Firma, die sich auf die Bildung und den Einsatz von Privatarmeen spezialisierte, war Aegis Defence Services. Mit ihr befasste sich im Jahr 2010 auch unser Bundesrat. Denn Aegis hatte den Hauptsitz von London nach Basel verlegt, und da erwiesen war, dass das Unternehmen mit seinen Söldnern in Afghanistan und Irak aktiv war, verlangte das Parlament eine Regelung. Sie mündete in ein Gesetz, das so genannte Militärdienstleister mit Sitz, Niederlassung oder auch nur Holding in der Schweiz verpflichtete, all ihre Aktivitäten dem EDA in Bern zu melden.
Tummelfeld Mittlerer Osten
Aegis zog sich – allerdings erst 2014 – aus der Schweiz zurück mit der Begründung, die von der Schweiz erlassenen Auflagen seien mit den «erforderlichen Geheimhaltungsbedingungen» nicht vereinbar. Einige Monate später löste das Unternehmen sich offiziell auf, das heisst Aegis wurde umstrukturiert und fand Unterschlupf in einer sogenannten Zwischenholding im Mittleren Osten.
Dort gibt es ja ohnehin schon, grob geschätzt, fast so viele private Armeen respektive Milizen wie reguläre Truppen: im Libanon beispielsweise Hizb-Allah, in Irak zig pro-iranische Milizen mit der geschätzten Totalstärke von rund 100’000 Mann. Und weil die Regierung in Bagdad sich nicht in der Lage sah (das ist sie auch heute noch nicht), eine auch nur rudimentäre Sicherheit im eigenen Land zu garantieren, entschloss sie sich, die Milizen als eigene Bereiche in die offizielle Armee zu integrieren. Von wem aber werden die 100’000 Kämpfer bezahlt? Wahrscheinlich von Iran, was die Zwiespältigkeit des Spannungsverhältnisses zwischen den beiden Ländern auf eine absurde Spitze treibt.
Und dann gibt es noch das abschreckende Schulbeispiel Libyen. Seit dem Sturz des Ghadaffi-Regimes und der Ermordung des Diktators wird das Land von einer Vielzahl privat finanzierter Milizen beherrscht und tyrannisiert. Wobei «privat» in diesem Fall etwas zu allgemein ist: Die Truppen rund um Khalifa Haftar, der im Wesentlichen den östlichen Teil Libyens kontrolliert, erhalten zig-Millionen aus Saudi-Arabien und den Emiraten – weil deren Regierende Haftar als Garanten gegen die Ausbreitung von islamistischem Gedankengut betrachten. Den privaten Armeen im Umfeld Haftars stehen dann, generell im westlichen Teil des Landes, fast unzählige kleinere Milizen entgegen, deren Mitglieder ihre Gehälter aus anderen Quellen erhalten.
Fehlende Loyalität und rechtliche Einbindung
Fazit: Privatarmeen sind kein spezifisch russisches Phänomen. Aber sie stellen überall ein staatspolitisches Problem dar. Wird eine Truppe, wie gross oder klein sie auch immer sein mag, aus privaten Quellen finanziert, haben ihre Mitglieder keine Loyalität gegenüber dem betreffenden Staat. Und sie müssen sich auch nicht um völkerrechtlich und menschenrechtlich geregelte Vorschriften halten. Deshalb konnten Blackwater-Leute Gefangene in Irak Folterpraktiken unterwerfen, die undenkbar gewesen wären von Seiten regulärer Soldaten oder Gefängnisbeamter. Und in den besetzten Regionen der Ukraine konnten Wagnerianer Gefangenen mit dem Vorschlaghammer den Schädel zertrümmern.
Wobei da allerdings die Nachfrage gestellt werden sollte, ob reguläre Einheiten der russischen Armee sich im Krieg gegen die Ukraine nicht ähnlicher Gräuel schuldig gemacht haben. In Butscha bei Kiew beispielsweise, wo hunderte Menschen in der Phase des russischen Vormarschs in der ersten Phase des Konflikts ermordet wurden.