Wir leben in einem Dschungel von Gerüchten, Halbwahrheiten und Lügen – im Zeitalter des „Fake“, sagt man. Und damit verknüpft beobachtet man ein im Grunde erstaunliches Phänomen: In diesen Zeiten der Ungewissheit vertritt man Meinungen mit umso grösserer Gewissheit. Man weiss eigentlich nicht, aber ist überzeugt, zu wissen. Apodiktisch wird verkündet, wie die Welt tickt; dass Darwin nicht recht hat, Impfen zu Autismus führt, Barack Obama der Al Kaida angehört oder der Klimawandel eine Verschwörung der Welt gegen die USA ist. Es handelt sich nicht nur um schwiemelige Biertischphilosophie. Selbsternannte Experten, Meinungsmacher und Politiker verzetteln im Brustton der Überzeugung übelsten Mist. Der amerikanische Neurobiologe Robert A. Burton diagnostizierte schon 2008: Es herrscht eine Epidemie der Gewissheit.
Wir sind schlechte Falsifizierer
Das hat zunächst einmal mit unserer kognitiven Trägheit zu tun. Wir alle haben Überzeugungen, die wir nicht oder nur unter grösstem Widerstreben aufzugeben bereit sind. Auch nicht, wenn Fakten gegen sie sprechen. Das sogenannte postfaktische Zeitalter bringt also eigentlich einen tiefverwurzelten renitenten Charakterzug unseres geistigen Lebens zum Vorschein. Wir sind schlechte Falsifizierer. Ein Grund liegt darin, dass wir mit dem Wissenswachstum, trotz enorm verbesserter Zugangsmöglichkeiten zu Informationen, nicht Schritt halten. Wir können und wollen unser Weltbild nicht ständig umbauen. Eher denken wir in der gemütlichen Balance des Vertrauten falsch, als dass wir die Falschheit entdecken und das Vertraute in Schieflage bringen. Das gilt im Übrigen für Laien wie Wissenschafter.
Das Englische kennt ein Wort für gefühlte Wahrheit: „truthy“; subjektiv als wahr empfunden. Der Begriff wurde 2006 vom amerikanischen Satiriker Stephen Colbert geprägt, und er bringt die gefühlte Wahrheit erkenntnistheoretisch auf den Punkt: „Wahrnehmung ist alles. Gewissheit. Die Leute lieben den Präsidenten (George W. Bush, Anm. E. K.), weil er als Führer seiner Sache gewiss ist, auch wenn die Fakten, die seine Entscheide unterstützen, nicht existieren. Es ist die Tatsache, dass er überzeugt ist, die ihn (...) so attraktiv macht.“
Der Schuh der festen Überzeugung
Ebenfalls im Englischen gibt es den Begriff des „Shoehorning“: Schuhlöffeln. Man bugsiert mit aller Gewalt Fakten in den Schuh der festen Überzeugung, ob sie nun passen oder nicht. Schuhlöffeln ist ein definierendes Merkmal von Verschwörungstheorien. Dieser Typus von Theorie erklärt eigentlich nicht, sondern zementiert eine feste Überzeugung unter der Vorspiegelung zu erklären.
Man muss allerdings sorgfältig differenzieren zwischen Verschwörungstheorien und Theorien der Verschwörung. Eine seriöse Theorie versucht das Phänomen Verschwörung zu erklären, ohne dass sie den Anspruch auf alternativlose Erklärung erhöbe. Sie rechnet also immer mit andern Schuhen verschiedenster Grösse. Für die Verschwörungstheorie gibt es nur einen einzigen grossen Schuh, und sie operiert meist mit versteckten unausgesprochenen Prämissen, die verschwiegen werden, um immun gegen Widerlegungen zu bleiben. Was man für oder gegen die Theorie ins Treffen führt, verwandelt sie in Evidenz zu ihren Gunsten. Ihr Makel ist nicht, dass sie nicht schlüssig, sondern dass sie zu schlüssig ist. So könnte eine Kurzanleitung für Irrsinn lauten: Halte dein Weltbild konsistent; auf Kosten der Anpassung an die Welt.
Denialism – sich von der Wissenschaft nichts sagen lassen
Heute gehen Verschwörungstheorien eine hinterhältige Allianz mit einer antiwissenschaftlichen Haltung, dem „Denialismus“, ein. Einer der spektakuläreren jüngsten Fälle ist die Anti-Impf-Bewegung. Quecksilber kann schwere Schäden im Menschen anrichten. In gewissen Impfstoffen ist das quecksilberhaltige Konservierungsmittel Thiomersal enthalten, das bei Kleinkindern neurotoxische Wirkung gezeigt hat. 1998 postulierte der Arzt Andrew Wakefield auf dieser Basis einen kausalen Zusammenhang von MMR-Impfstoff (gegen Masern, Mumps und Röteln) und Autismus. Er ist zwar bis heute nicht nachgewiesen – nachgewiesen wurden Doktor Wakefield vielmehr unlautere Forschungsmethoden. Aber viele Leute haben die Überzeugung zementiert: Quecksilber, also Gefahr.
Das geht so weit, dass Celebritys heute in Fernsehshows ihren ganzen Glamour der Beschränktheit gegen wissenschaftliche Argumentation auffahren. Die Schauspielerin Jenny McCarthy, Mutter eines autistischen Sohns, antwortete 2007 auf die Frage Oprah Winfreys, welche Evidenz sie denn für ihre Anti-Impf-Haltung habe: „Meine Wissenschaft heisst Evans, und er lebt zu Hause. Das ist meine Wissenschaft.“ Und: „Ich habe meinen akademischen Grad von Google.“
Überzeugtheit übertrumpft Argument
Frau McCarthy mag nicht gerade mit den Voraussetzungen intelligenter Wissenschaftskritik gesegnet sein. Aber sie ist Symptom eines bedenklichen Phänomens: Überzeugtheit übertrumpft Argument. Selbst ein Robert Kennedy junior, der immerhin einen anderen Abschluss als jenen der Google-Universität vorweisen kann, versteigt sich zum Verdacht, der offizielle Bericht über den Zusammenhang zwischen Impfstoff und Autismus sei ein „Versuch, die Risiken von Thiomersal weisszuwaschen“. Sieht man die verschwörungstheoretischen Nebelschwaden aufsteigen? Doktor Wakefield hat die Zeichen des postfaktischen Zeitalters jedenfalls erkannt. Im Propagandafilm „Vaxxed: From Cover-up to Catastrophe“ (deutsch: „Vaxxed: Die schockierende Wahrheit“) aus dem Jahre 2016 bereitet er nun die ganze Story wieder auf. Was macht also einer, der mit seiner festen Überzeugung wissenschaftlich nicht reüssiert? Er erzählt die eingängige Geschichte von David gegen Goliath. Wenn er schon keinen Kausalzusammenhang zwischen Impfen und Autismus nachweisen konnte, dann immerhin einen Verschwörungszusammenhang zwischen seinem Scheitern und der Industrie. Damit reüssiert er sicher „beim Volk“.
Hirngeschichten
Da ja heute die Neurobiologen zu allem ihren Senf beigeben, dürfte es vielleicht interessieren, was sie zu dieser intellektuellen Aberration zu sagen wissen. Wie alle lebenden Organismen sind wir Muster erkennende Wesen. Wir müssen uns im steten Bombardement der Umweltinformationen zurechtfinden, mit Mehrdeutigkeiten und Ungewissheiten umgehen können. So wie es ein Gleichgewicht der Körpertätigkeiten – die Homöostase – gibt, so gibt es auch ein Gleichgewicht der Geistestätigkeiten. Und in dessen Aufrechterhaltung liegt eine der Hauptfunktionen des Gehirns.
In ihrem Buch „Denying to the Grave“ schreiben Sara und Jack Gorman: „Wenn in uns eine Idee das Gefühl der Belohnung weckt, dann suchen wir dieses Gefühl immer wieder. Und jedesmal wird das Belohnungszentrum – das ventrale Striatum, spezifischer: der Nucleus accumbus – aktiviert, worauf die anderen instinktiven Teile des Hirns lernen, die Idee zu einer fixen Idee zu verfestigen. Versuchen wir, unsere Meinung zu ändern, warnt uns ein Angstzentrum wie die anteriore Insula vor anstehender Gefahr. Der mächtige dorsolaterale präfrontale Cortex kann diese primitive Reaktion ausschalten und Vernunft und Logik zu ihrer Geltung verhelfen, aber es handelt sich um eine langsame Aktion, und sie verlangt ein erhebliches Mass an Entschlossenheit und Anstrengung. Deshalb ist es unnatürlich und unangenehm, unsere Überzeugungen zu ändern, und darin spiegelt sich die Arbeitsweise unseres Hirns.“
Ein neues aufklärerisches Motto
Hübsch, nicht? Jedenfalls scheint es, dass wir, indem wir gegen festes Überzeugtsein ankämpfen, eigentlich immer auch gegen unsere Biologie kämpfen: Geist gegen Gehirn sozusagen. Man muss sich freilich hüten, daraus eine biologische Apologie des festen Überzeugtseins herauszulesen. Im Gegenteil wird nun erst recht die kulturelle Aufgabe sichtbar, dagegen anzutreten.
In der Geschichte der Menschheit ist die Gefühlsbindung wohl immer stärker als die Wahrheitsbindung gewesen. Die frühmenschlichen Stämme wurden nicht zusammengehalten durch Fakten, sondern durch Fabeln. Jede Gesellschaft besitzt ihre Gründungserzählungen, die den emotionalen Kitt liefern. Seit der Aufklärung haben sie sich dem kritischen Tribunal der wissenschaftlichen Vernunft zu stellen. Nun scheint in der Postmoderne das Pendel in die andere Richtung zu schlagen. Die Fabeln verlangen gebieterisch ihre alte Machtstellung zurück. Und sie werden beheizt von Gefühlen. Man muss das nicht gleich als Gefahr verschreien. Aber man sollte die Kraft der Gefühle nicht unterschätzen. Die Serienlügner und Berufs-Konfabulierer nutzen sie schamlos aus. Das ist die eine Lektion rezenter Geschichte. Sie lässt die andere Lektion als umso notwendiger erscheinen, nämlich den Geist, der von der Aufklärung her weht, aufzufrischen. Wir müssen, klipp und klar gesagt, die menschliche Vernunft, mehr als zwei Jahrhunderte nach Kant, neu emanzipieren. Und diese Emazipation steht unter einer Losung, die wir uns von der Medizin ausleihen: Primum non nocere; in erster Linie nicht schaden.
Den grössten Schaden richtet gefühlte Wahrheit an.