
Nach alt-Bundesrat Christoph Blocher meldet sich nun auch der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch zu Wort. Denn: Die beiden von der Mitte ins Rennen um die Nachfolge von Viola Amherd geschickten Kandidaten Markus Ritter und Martin Pfister befriedigen seine Ansprüche nicht.
Zudem sagte er in den CH-Media-Zeitungen: Unser System der Bundesratswahl sei «vom Mechanismus her vergleichbar mit gewissen Diktaturen», er halte es für undemokratisch.
Spekulationen und Kritk
Wer so lange braucht – und so viele Absagen kassiert – wie die Mitte bei ihrer Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin für Bundesrätin Viola Amherd, muss sich nicht wundern, wenn die Spekulationen blühen und grundsätzliche Kritik aufkommt. Weder der von der Mitte portierte Markus Ritter noch der Zuger Regierungsrat Martin Pfister haben sich bisher vertieft mit den Themen des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) befasst, dessen Leitung sie mit grosser Wahrscheinlichkeit antreten würden. Das lädt ein zu alternativen Überlegungen.
So teilte denn auch der 2007 abgewählte SVP-alt-Bundesrat Christoph Blocher via «Teleblocher» mit, er wäre trotz fortgeschrittenen Alters durchaus bereit, das schwere Amt zu übernehmen. Er würde dann ein paar Jahre aufräumen und danach Platz machen für einen Vertreter oder eine Vertreterin der Mitte, erklärte der gern als «Vordenker» seiner Partei apostrophierte Politiker.
Die Zauberformel ist ein Korsett
Einmal abgesehen davon, dass das mit dem raschen Aufräumen im VBS angesichts der langen Laufzeit vieler Beschaffungen nicht gar so einfach werden dürfte, widerspricht die Idee einer zeitweiligen Übervertretung der SVP im Bundesrat den Regeln der Konkordanz. Was aber einen anderen Vordenker, den Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch, nicht daran hindert, jene Grundsatzkritik zu vertiefen, die Blocher hat anklingen lassen.
In den Zeitungen von CH Media führt Jositsch aus, mit der 1959 geschaffenen Zauberformel, einer fixen Verteilung der sieben Bundesratssitze unter den vier stärksten Parteien, habe man ein Machtkartell festgelegt, das aber in der Verfassung nirgends vorgesehen sei. «Weil sich dieses Kartell selbst erhält, stehen die Parlamentsmitglieder unter Druck, zwingend innerhalb der Zauberformel zu wählen. Dazu kommt der Ticketzwang der Fraktionen. Früher war das Ticket ein Vorschlag. Heute ist es ein Zwang, der mit massivem Druck gegenüber Kandidierenden und Parlament durchgesetzt wird.» Deshalb könnten die Parlamentarier «nicht mehr frei wählen und kandidieren». Das sei durchaus «vergleichbar mit gewissen Diktaturen, zum Beispiel mit der Duma in Russland».
Das heisst, so Daniel Jositsch: Wegen der dermassen eingeschränkten Wahl wird oftmals nicht der (oder die) Beste gewählt. Aus seiner Sicht «wäre zum Beispiel Werner Salzmann ein hervorragender Chef des VBS». Der hat allerdings ein gewichtiges Handicap: Der Berner Ständerat und erfahrene Verteidigungspolitiker ist nicht vorgeschlagen. Weil er gar nicht der Mitte angehört, sondern der SVP.
Blochers Wahl und Abwahl
Man kann die Frage, wer für den Bundesrat der (oder die) Beste ist, ganz unterschiedlich bewerten. Denn es handelt sich bei der Schweizer Regierung ja um ein Kollegialorgan aus gleichberechtigten Mitgliedern, die sich auch vertragen müssen. Welche Konfusionen entstehen, wenn einer sich partout nicht einfügen will, das hat Christoph Blocher nach seiner mit enormem Druck erzwungenen Wahl 2003 bewiesen. Seine Abwahl durch das Parlaments war die Konsequenz eines Gebarens, das in ein Kollegialorgan nicht gepasst hat.
Gewichtiger mutet das Grundsatzargument des Rechtsprofessors Jositsch an: dass mit ungeschriebenen Regeln die Auswahl des Parlaments eingeschränkt und die Freiheit der Parlamentarier so sehr beschränkt wird, dass sie nur noch zwischen den offiziellen Kandidaten einer bestimmten Partei wählen können. Das aber sei undemokratisch und im Grunde ein Verstoss gegen die Verfassung.
Politik im Land der Kompromisse
Zuzugestehen ist dem SP-Ständerat, dass die Zauberformel eine Sitzverteilung vorsieht, die der Schweiz zwar eine gewisse innenpolitische Stabilität verliehen hat, die aber Wahlmöglichkeiten einschränkt. Aber sie bindet die massgeblichen Kräfte ein. Ganz gewiss wären andere Systeme denkbar. Etwa dass eine Parlamentsmehrheit die Regierungssitze nach ihrem Gusto besetzt, wie es etwa in unserem nördlichen Nachbarland der Fall ist. Allerdings: Deutschland kennt kein so weit gehenden System der Volksbeteiligung wie die Schweiz. Unser Volk aber würde via Initiativen und Referenden zweifellos vieles wieder annullieren, was eine einseitig zusammengesetzte Regierung zur Diskussion stellen würde. Schon dort nämlich, in der Regierung, müssen Kompromisse gesucht werden. Und mit Kompromissen hat die Schweiz immer wieder gut gelebt.
Die Freiheit des Parlamentariers
Doch ist der Parlamentarier, ist die Parlamentarierin da noch frei? Die Antwort lautet: Ja, aber mit Einschränkungen. Er (oder sie) ist ja von einer Partei portiert worden, das begründet Erwartungen sowohl vonseiten der Partei wie vonseiten der Wähler. Die Menschen haben ihn (oder sie) gewählt, auch weil sie (oder er) eine gewisse Grundhaltung hat, die in der Parteizugehörigkeit zum Ausdruck kommt. Doch eine blinde Gefolgschaft – wie vermutlich in der russischen Duma – ergibt sich daraus keineswegs. Kein Gremium zeigt dies so deutlich wie gerade der Ständerat. Gern weichen dort gerade die Vertreter der Mitte von der Parteilinie ab. Opposition ist also durchaus möglich. Mehr noch: Sie ist parlamentarischer Alltag.
Das gilt auch für die Bundesratswahl. Was niemand so gut unter Beweis gestellt hat wie Daniel Jositsch selbst. Sowohl 2022 wie 2023 hat er selber für den Bundesrat kandidiert, ist von seiner Partei nicht portiert, dann aber doch von einer namhaften Zahl der Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf den Wahlzettel geschrieben worden. Sie haben in einer im Übrigen geheimen Wahl von ihrer Freiheit Gebrauch gemacht, den offiziellen Wahlvorschlägen nicht zu folgen. 2023 waren dies im ersten Wahlgang 63 National- und Ständeräte (von insgesamt 246), im zweiten Wahlgang 70, im dritten 68. Ob sich die russische Duma so viele Abweichler leistet?
Mit anderen Worten: Daniel Jositsch ist der lebende Gegenbeweis zu seinen eigenen Thesen.