Die Chancen, sie zur Rechenschaft ziehen zu können, sind gleich Null. Offen bleiben Schäden in der Höhe von rund 4 Milliarden Euro.
Mittwoch, 13. November 2002
14:10
Zwei Jahre hat die “Prestige” fest vertäut in der Ostsee als schwimmender Ölbunker gelegen, weil es für das 26jährige Schiff keine bessere Verwendung mehr gibt, dann verlässt sie mit 77'000 Tonnen russischem Schweröl in den Tanks am 5. November Riga und nimmt Kurs auf den Atlantik. Endziel ist Singapur. Hier soll das Öl in moderneren Raffinerien, als sie in Russland zur Verfügung stehen, noch einmal aufgearbeitet werden.
Die „Prestige” ist ein überalterter Tanker unter Bahamas-Flagge, von einer griechischen Reederei verwaltet, im Besitz einer liberianischen Briefkastenfirma, gechartert von den der schweizerischen Crown Resources mit Sitz in Zug, in einer chinesischen Werft mangelhaft repariert, gesteuert von einem griechischen Kapitän und seiner babylonisch zusammengesetzten Mannschaft – das für die maritime Branche typische Wirrwarr.
Vor der galizischen Atlantikküste gerät der Tanker aber in schlechtes Wetter. Acht Meter hohe Wellen prallen an die Steuerbordwand, zerstören auf Deck die Ablaufrinnen und reissen Stück für Stück der Gangway am 243 Meter langen Schiff herunter. Eine Inspektion im Mai 2002 hat zwar die Seetüchtigkeit des Tankers grundsätzlich bestätigt, zudem ist er im Jahr zuvor umfassend repariert worden, doch dann lässt ein gewaltiger Schlag den Rumpf erzittern. Kapitän Apostolos Mangouras, ein Grieche mit 30 Jahren Erfahrung, schickt die Mannschaft hinaus in den Sturm, um die Ursache zu eruieren. Er vermutet zuerst eine Explosion in einem Tank, darauf deutet das Donnern hin. Aber seine Leute finden keine Hinweise; das Deck ist nirgends gewölbt oder gerissen. Als das Schiff Schlagseite entwickelt, wird Mangouras klar, dass auf der Steuerbordseite Seewasser eindringt. Und der Schaden muss gewaltig sein, denn die “Prestige” legt sich innert Minuten wie ein verendendes Tier auf die Seite.
14:15
Mangouras funkt SOS. Der Notruf wird von der spanischen Küstenwache aufgefangen. Bereits fünf Minuten später starten Seerettungs-Helikopter und nehmen Kurs auf den Havaristen, den sie 28 Seemeilen vor der Küste bei Kap Finisterre orten.
14:25
Die Helikopter fliegen über das Schiff und fotografieren die Steuerbordseite. Auch sie können nichts erkennen, weil das Leck unter der Wasserlinie liegt. Der Schaden wird in der Folge als “Riss” bezeichnet – eine Untertreibung, wie sich bald zeigen wird. Wahrscheinlich hat das Schiff bereits zu diesem Zeitpunkt eine zwei Quadratmeter grosses Leck, weil sich in der Aussenhülle eine Stahlplatte gelöst hat – aus seemännischer Sicht ein katastrophales Versagen der Struktur. Für ein solches Leck spricht auch, dass die “Prestige” inzwischen bereits mit 26 Grad krängt. Wellen überspülen das Deck, der Hauptmotor ist ausgefallen. Doch Öl fliesst kaum aus. Einzig aus den Verschlussdeckeln der Tankreinigungsanlage dringen kleine Mengen, herausgepresst durch die extreme Schlagseite.
14:33
Kapitän Mangouras rechnet mit dem Schlimmsten. Er bittet über Funk die Evakuation der Mannschaft. Aus den Häfen an der galizischen Küste laufen mehrere Schlepper aus und nehmen Kurs auf den Tanker, unter ihnen die “Ria de Vigo”. Sie sollen verhindern, dass die driftenden “Prestige” an der Küste zerschellt. Die Matrosen versuchen derweil verzweifelt, das Schiff über Wasser zu halten und schliessen alle Luken.
15:15
Die Helikopter beginnen die Crew mit Seilwinden vom Schiff zu bergen. Es ist eine gefährliche Aktion. Die Piloten haben Schwierigkeiten, bei Windstärke 10 über dem Schiff Position zu halten. Das nicht mehr steuerbare Schiff rollt stark in der aufgewühlten See. Zwei Seeleute werden von einer gewaltigen Welle erfasst und Richtung Bordwand gespült, erst im letzten Moment können sie sich an einem Seil festhalten. Ein dritter Matrose wird in die Luft geschleudert, als sich die Rettungsleine in seiner Sicherheitsweste verfängt. Später geraten auch die Piloten in Gefahr, weil der Wind die Leine in die Aufbauten bläst und sie sich dort verhakt. Nach zwei Stunden sind 24 der 27 Crewmitglieder, mehrheitlich Filipinos, in Sicherheit. Einige von ihnen weinen, als sie wenig später festen Boden unter den Füssen haben. Nur Kapitän Mangouras, der Erste Ingenieur und der Erste Offizier bleiben an Bord.
17:00
Auf dem Festland hält das Informationsministerium eine Pressekonferenz ab. Der Sprecher schneidet das Thema einer möglichen Ölpest nicht an. Er hält einzig fest, dass man “Massnahmen getroffen habe”, sollte es zu Lecks kommen. Mangouras wird zitiert, der am Funk auf eine Kollision mit einem schwimmenden Objekt verwiesen hat. Die These erhält kurzfristig Nahrung, als bekannt wird, ein ebenfalls der galizischen Küste entlangfahrender Frachter habe im Sturm seine aus Baumstämmen bestehende Fracht verloren. Einer dieser Stämme habe möglicherweise den “Riss” verursacht. Allerdings scheint es von Anfang an fraglich, wie ein Baumstamm von 1,1 Meter Länge eine Stahlplatte aus der Rumpfhülle herausschlagen soll. Zudem bestätigt nun ein spanischer Marineinspektor, der mit den Rettungshelikoptern zum Havaristen geflogen ist und einen Augenschein nehmen konnte, das Loch. Es befinde sich rund drei Meter unter der Wasserlinie. Und er ist auch der erste, der eine unangenehme These wagt. Seine Vermutung: Eine “defekte Schweissnaht” habe das 243 Meter lange Schiff in Seenot gebracht.
18:10
Kapitän Mangouras weigert sich, ohne Einwilligung des Eigners mit dem inzwischen eingetroffenen Schlepper “Ria de Vigo” zusammenzuarbeiten. Er befiehlt, die Ballasttanks auf der Backbordseite der “Prestige” zu fluten, damit sich das Schiff aufrichtet und kein Öl mehr aus den Decköffnungen fliesst. Tatsächlich verringert sich die Schräglage, doch der Entscheid verschärft die Situation weiter. Das zusätzliche Wasser macht das Schiff noch schwerer. Eine Rekonstruktion der Ereignisse wird zeigen, dass der Rumpf zu diesem Zeitpunkt bereits 163 Prozent der maximalen Belastbarkeit ausgesetzt ist. Wie lange das Schiff diese Belastung aushält, ist nur eine Frage der Zeit.
20:00
Mangouras erhält die Erlaubnis, Hilfe anzunehmen. Der Schlepper nähert sich der “Prestige” und kommt längsseits. Die Männer versuchen unter Lebensgefahr Trossen von Bord zu Bord zu legen, doch die raue See lässt die Leitseile immer wieder reissen. Die Besatzung der “Ria de Vigo” muss machtlos mitanschauen, wie der Tanker immer näher auf die Küste zutreibt. Zu diesem Zeitpunkt tauchen die ersten Öllachen auf dem Wasser auf und werden schnell grösser. Das Schott zwischen dem vollgelaufenen Ballasttank und dem angrenzenden Cargotank hält dem Druck nicht mehr Stand; Risse ziehen sich durch die Trennwand. Das Schiff wird innert weniger Stunden rund 2000 Tonnen Öl verlieren. Ein Helikopter fliegt dem Teppich entlang und schätzt seine Ausmasse am Ende des ersten Tages auf 5,7 Seemeilen Länge und 300 Meter Breite. Kurz vor Mitternacht treffen drei weiteren Schlepper ein. Alle Versuche, das Schiff zu sichern, scheitern weiterhin.
Donnerstag, 14. November 2002
7:49
Die ersten Satellitenfotos des neuen Tags lokalisieren den Ölteppich bei 43 Grad Nord und 9 Grad West. Nun ist er bereits 20 Seemeilen lang, die Distanz zur Küste hat sich auf 22 Seemeilen verringert.
9:50
Ein Helikopter bringt fünf Mitglieder der “Prestige”-Crew zurück auf das Schiff. Sie sollen versuchen, die Maschine wieder in Betrieb zu nehmen.
14:30
Es gelingt der Crew, den Hauptmotor zu starten und auf einer niedrigen Tourenzahl in Gang zu halten. Mit 6 Knoten und gezogen von insgesamt sieben Schleppern kriecht der Havarist hinaus aufs offene Meer. Das Schiff ist zu diesem Zeitpunkt nur noch 4,6 Seemeilen von der galizischen Küste entfernt; die Menschen in den Dörfern können am Horizont den leckenden Tanker erkennen. Der Zustand des Schiffes verschlechtert sich zusehends. Weit über das maximale Gewicht belastet und dem ständigen Ansturm der Wellen ausgesetzt, beginnt auch das Schott zwischen dem beschädigten Aussentank und dem mittschiffs gelegenen Cargotank nachzugeben. Die Analyse der Techniker lässt keine Zweifel: Das Schiff ist ein Wrack, eine Ölpest unvermeidlich. Ihre Meldungen an das Büro der spanischen Handelsmarine bewegen deren Generaldirektor Jose Luis Lopez Sors, dem Kapitän zu befehlen, das Schiff weiter von der Küste wegzubringen. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, sendet das Verteidigungsministerium die Fregatte “Cataluna” an den Schauplatz.
Inzwischen ist auch in Houston am Sitz des American Bureau of Shipping Hektik ausgebrochen. Das American Bureau of Shipping überprüft im Auftrag der Reeder deren Flotten regelmässig auf Seetüchtigkeit, eine Art Strassenverkehrsinspektorat der Meere. Stewart Wade als Vizepräsident des Unternehmens hat die Unterlagen über den Tanker durchgesehen, nun bereitet er ein Pressecommuniqué vor. Darin wird es heissen, das Schiff entspreche allen gesetzlichen Anforderungen, alle Kontrollen seien durchgeführt worden, und aufgrund der vorliegenden Daten gebe es keinerlei Hinweise auf die Ursache. Erstaunlich ist jedoch eine scheinbare Nebenbemerkung: Man überprüfe zur Zeit “Fotos”, die während der langen Liegezeit des Tankers in der Ostsee aufgenommen worden seien.
19:00
Auf dem Flughafen von La Coruña landet Geert Koffeman. Er kommt direkt von einer Sitzung in London, wo ihn der Notruf aus Spanien erreicht hat. Koffeman ist stellvertretender Chef des niederländischen Bergungsunternehmens “Smit”. Seine Firma ist weltweit führend im Hochseerettungsgeschäft. Koffeman und seine Leute sollen ermöglichen, was niemand mehr erhofft: die Lecks dichten, das Schiff retten und die Küste vor einer noch grösseren Ölpest bewahren. Sollten sie Erfolg haben, wird ein Teil des Schiffes und der Ladung in ihren Besitz übergehen.
Freitag, 15. November 2002
02:00
Die “Prestige” geht auf Kurs 310° (Nordwest). Die Experten von “Smit” werden zum Havaristen geflogen. Sie kommen zum Schluss, dass es für den schwer beschädigten Tanker möglicherweise doch noch eine Rettung gibt: Er muss weiter nördlich drehen, um die vergleichsweise ruhige Bucht von La Coruña zu erreichen. Hier könnte das Öl möglicherweise in ein anderes Schiff umgepumpt werden.
Aus Houston trifft eine weitere Pressemeldung ein, doch sie bringt keine Neuerungen. ABS wiederholt darin, keinerlei Anhaltspunkte über die Ursache des Lecks zu haben. Erst nach dem Untergang wird Vizepräsident Stewart Wade noch mehr bekannt geben: Die “Prestige” sei im Jahr 2001 in einer chinesischen Werft repariert worden, mit 362 Tonnen Stahl – und zwar genau im Bereich von Spant 71, wo sich die erste Platte gelöst hat. Doch die Reparaturen seien fachgerecht durchgeführt und auch überprüft worden. Mit anderen Worten: ABS hat sich nichts vorzuwerfen. Und dann wird Wade den Verdacht in eine neue Richtung lenken. Die Durchsicht der bei den Inspektionen angefertigten Fotos des Tankers habe einen möglichen Hinweis auf die Ursache der Katastrophe gegeben. Während der zwei Jahre, in denen der Tanker als Ölbunker diente, habe er fest vertäut da gelegen. Um den Rumpf vom Pier fernzuhalten, seien wie üblich grosse Fender eingesetzt worden, und einer dieser Fender habe genau auf Spant 71 gedrückt. Zwei Jahre lang. Wade spricht die Konsequenzen nicht aus: Offenbar soll der Fender die Befestigung der Platten beschädigt haben.
03:00
Die “Prestige” erhält keine Erlaubnis, La Coruña anzulaufen. Der Schleppverband dreht auf Kurs 180° (Süd). Der Abstand zur Küste wächst auf 60 Meilen. Etwa um diese Stunde verliert der Tanker weitere Platten der Aussenhülle.
11:00
Geert Koffeman trifft sich mit dem Generaldirektor der spanischen Handelsmarine und Vertretern der Regierung. Er hat noch nicht aufgegeben. Koffeman hofft, dass man auf ihn mit 35 Jahren Erfahrung im Seerettungswesen hört und den Tanker doch nach La Coruña fahren lässt. Aber die Ohren der Gegenseite bleiben taub. Jose Luis Lopez Sors als Generaldirektor der Handelsmarine und die Regierungsvertreter kennen nur ein Ziel: Das Schiff muss möglichst weit weg. Koffemans Versuche, die Konsequenzen dieses Vorgehens klar zu machen, fruchten nichts. Zu stark ist die Erinnerung an den Untergang der “Aegean Sea” im Jahr 1993 vor La Coruña. Damals gelangten 80'000 Tonnen Öl in die Bucht, und 28'000 Fischer in dieser armen Gegend waren für Jahre arbeitslos. Auch Koffemans Vorschlag, das Schiff nach Gibraltar zu bringen wird abgelehnt, weil es sich dann wiederum der spanischen – und portugiesischen – Küste nähern würde. “Smit” bleibt in dieser Situation nur noch ein Ausweg: Die “Prestige” soll zu den Kap Verdischen Inseln vor Senegal geschleppt werden, wo das Meer auch in dieser Jahreszeit ruhig ist. Man ist sich jedoch der Absurdität des Vorschlags bewusst: Die Inseln sind über 3'000 Kilometer entfernt, und die Chancen, dass der lädierte Tanker diese Reise übersteht, sind gleich Null.
14:06
Die “Prestige” dreht auf Kurs 260° (West). Aus Madrid verlautet, das Schiff verliere kein Öl mehr. Die Meldung steht im Widerspruch zum Lagebericht, der von einem Beobachtungsflugzeug kommt. Der Pilot meldet, das Schiff verliere weiterhin “grosse Mengen”. Der galizische Ministerpräsident Manuel Frage, zur Zeit auf der Jagd, hält sich an die positive Meldung und gibt unverdrossen bekannt: "Die grösste Gefahr ist überstanden." Fraga wird sich täuschen. Vor der spanischen Küste nimmt das Desaster seinen vorprogrammierten Lauf: Eine Ladung minderwertiges Öl im Wert von lächerlichen 9 Millionen Dollar wird Umweltschäden in der Höhe von 4,4 Milliarden Euro verursachen.
15:33
Der von der Regierung auferzwungene Kurs bringt den havarierten Tanker in noch schlechteres Wetter. In Anbetracht der bevorstehenden Dunkelheit und des Zustandes des Schiffes befiehlt Kapitän Mangouras die vollständige Evakuation. Er fordert bei der Küstenwache Helikopter an. Nun sind nur noch die Schlepper vor Ort, welche die verlassene “Prestige” durch die Sturmnacht ziehen.
17:42
Crew inklusive Kapitän und sämtliche Techniker landen auf dem Flugplatz von Alvedro. Mangouras wird von der Guardia Civil in Empfang genommen und verhaftet. Als Grund nennt man ihm Umweltverschmutzung und Widerstand gegen die Anordnungen der Behörden. Als man von ihm das Logbuch verlangt – ein sakrosanktes Dokument, in dem sämtliche Ereignisse auf jedem Schiff festgehalten werden – hat er es nicht dabei. Mangouras erklärt, er habe es auf dem Schiff gelassen.
Samstag, 16. November 2002
09:00
Ein Helikopter fliegt die Techniker hinaus zum Tanker. Doch nachdem die Männer den Zustand des Schiffes erkannt haben, weigern sie sich, an Bord zurückzukehren. In der Steuerbordseite klafft ein rund 400 Quadratmeter grosses Loch, welches die Wellen hineingefressen haben. Die Rumpfkonstruktion mit ihren Spanten und Schotts, soweit sie nicht weggewaschen wurden, liegt offen da.
09:11
Unter der Bedingung, dass ein Helikopter beständig über ihnen kreist, kehrt die Rettungscrew nun doch zurück. Sie versucht die Trossen zu den Schleppern vom Bug ans Heck zu verlegen und somit den Tanker umzudrehen, damit die Wellen nicht mehr weiter auf die beschädigte Rumpfseite auftreffen. An den Stränden werden die ersten Vögel mit ölverschmierten Gefieder gefunden. Die Wetterdienste haben neue Ölteppiche ausgemacht, deren Eintreffen an der Küste sie für das nächste Wochenende voraussagen. Fischereiminister Arias Cañete erklärt derweil weiterhin, das Öl werde die Küste sehr wahrscheinlich nicht erreichen und er erwarte dementsprechend kein ökologisches Desaster.
13:51
Das Schiff ist erfolgreich gedreht worden; es arbeitet sich nun Heck voran durch die Wellen. Der Helikopter nimmt die vier Techniker wieder auf. Sie verlassen die “Prestige” - allerdings mit leeren Händen: An Bord des Tankers suchten sie vergeblich nach dem Logbuch, das möglicherweise Aufschluss über die Ereignisse an Bord hätte geben können.
23:00
Die “Prestige” hält immer noch Kurs 250° (Südwest). Satellitenbilder zeigen, wie der Tanker zwei lange, schwarze Schleppen aus Öl hinter sich herzieht. Sie reichen bis zur Küste, die inzwischen auf rund 50 Kilometer Länge verschmutzt ist. Auf dem Festland lässt sich Fischereiminister Miguel A. Arias Cañete wie folgt zitieren: "Glücklicherweise hat das rasche Eingreifen der spanischen Behörden, indem sie das Schiff von der Küste entfernten, eine Ökologische Katastrophe verhindert. Auch die Fischbestände sind nicht gefährdet." Das Öl hat sich inzwischen auf einer Fläche von 2'500 Quadratkilometern ausgebreitet.
Sonntag, 17. November 2002
00:00
Das Wetter beruhigt sich. Der Wind gibt ab auf 30 Knoten, die Wellen messen noch vier Meter. Die “Prestige” wird die ganze Nacht über den befohlenen Südwest-Kurs halten.
08:08
Die Distanz zur Küste wächst auf 75 Seemeilen an; der Verband nähert sich den Hoheitsgewässern Portugals. Der Pressesprecher von “Smit”, Lars Walder, gibt bekannt, dass nach Einschätzungen der Experten zur Zeit “keine unmittelbare Gefahr” vom Schiff ausgehe. Es lecke nicht mehr. Beim Bergungsunternehmen hofft man noch immer auf die Erlaubnis, das Schiff nach La Coruña bringen zu können. Aber die Anweisungen sind eindeutig. Die spanischen Behörden trauen den Beteuerungen des Rettungsunternehmens nicht; denn auch bei “Smit” hat man Firmeninteressen zu wahren: Sinkt das Schiff, können höchstens Spesen geltend gemacht werden. 60 Kilometer der galizischen Küste sind inzwischen für die Fischerei gesperrt.
15:04
Der Schleppverband hält den ganzen Tag über den befohlenen Kurs, pendelnd zwischen 258° und 274°. Jose Luis Lopez Sors als Generaldirektor der spanischen Handelsmarine wird im Verlauf des Tages behaupten, man könne “nicht von einer Ölpest reden”, es handle sich nur “um einige schwarze Flecken."
23:40
Das portugiesische Kriegsschiff “Joao Coutinho” nähert sich den Schleppern. Es hat den Auftrag, eine Annäherung der “Prestige” an die Küste zu verhindern. Der Verteidigungsminister Paulo Portas rechtfertigt den Befehl vor dem Parlament mit dem Hinweis, er versuche “ein Problem von unseren Küsten fernzuhalten, mit dem wir nichts zu tun haben”.
Montag, 18. November 2002
7:30
Ein Beobachtungsflugzeug meldet beim Überflug im ersten Morgenlicht, dass der Tanker wieder zu lecken begonnen hat. Der Ölstreifen ist bereits drei Meilen lang. Filmaufnahmen zeigen das offen gelegte Gerippe des Tankers. Der Verband hält den südwestlichen Kurs bei. Er hat erst einen Bruchteil der 3'000 Kilometer bis Senegal zurückgelegt. Bleibt die Geschwindigkeit wie in den letzten Tagen bei 2 Knoten, wird die Fahrt 34 Tage dauern!
Dienstag, 19. November 2002
07:00
Die Schlepper melden der Küstenwache die Position des Verbands: 42° 15‘ Nord, 12° 08‘ West bei einem Kurs von 230° (Südwest). Der Wind bläst mit 30 Knoten, die Wellen haben eine Höhe von 2,5 bis 3 Meter.
08:20
Es müssen zwei Wellen sein, die kurz nach acht Uhr so unglücklich aufeinanderfolgen, dass Bug und Heck des geschwächten Tankers gleichzeitig angehoben werden, während der Mittelteil sich in einem Wellental befindet. Das eigene Übergewicht biegt die “Prestige” in der Mitte durch und lässt den Rumpf brechen. Während das Mittschiff immer tiefer unter Wasser gerät, beginnen sich Bug und Heck aufzurichten. Die Schlepper werfen aus Sicherheitsgründen sofort die Trossen los, bleiben aber an Ort und Stelle. Schliesslich teilt sich der Tanker in eine Bug- und Heckhälfte.
8:50
Der spanische Verteidigungsminister Federico Trillo denkt laut darüber nach, F-18 Kampfflugzeuge starten zu lassen, welche das Wrack bombardieren sollen, damit das Öl verbrennt.
10:45
Das Heckteil der “Prestige” sinkt.
15:15
Der Bugteil der “Prestige” sinkt.
17:38
Die Küstenwache gibt das Gebiet für die Schifffahrt wieder frei.
November 2012 – Bilanz
Zehn Jahre nach dem Untergang der „Prestige“, im Herbst 2012, hat ihn Spanien der Prozess gegen die Verantwortlichen des Desasters begonnen. 133 Zeugen und hundert Experten werden im Verlaufe der Verhandlungen auftreten, und neben dem spanischen Staat werden 1500 Personen vereint zu 55 Gruppen klagen. Doch der spanische Staatsanwalt Álvaro García Ortiz macht sich keine grosse Hoffnung auf einen Erfolg: Die maritime Branche ist so glitschig wie ihr Öl. Die einzigen, die für die Katastrophe einstehen werden, sind die Versicherung der „Prestige“ und der Internationale Kompensationsfonds für Ölverschmutzungen. Doch die Versicherung kann mit maximal 20 Millionen belangt werden, der Fonds zahlt 178 Millionen. Das sind rund 5 Prozent der gesamten Schadensumme.
Keine Chance hat der Staatsanwalt, die Crown Resources – Charterer der „Prestige“ mit Sitz in Zug – zu belangen. Kurz nach dem Untergang des Tankers hat die Firma ihren Namen geändert; zwei Jahre später hat sie sich in Luft aufgelöst. Das Gleiche gilt für die Reederei namens Universe Maritime mit Sitz in Athen: Sie ist Teil eines verschachtelten Firmenkonstrukts, das wahrscheinlich der griechischen Familie Kolouthros gehört. Wahrscheinlich. Sofort nach dem Desaster verschwunden ist die liberianische Briefkastenfirma namens Mare Shipping, die als einzigen Aktivposten die „Prestige“ besass. Ganz plötzlich gestorben ist ein griechischer Mittelsmann, nachdem García Ortiz ihm eine 100 Millionen-Klage nach Hause geschickt hatte. Die Echtheit der Todesurkunde ist allerdings zweifelhaft. Und von einem amerikanischen Gericht geschützt wird jenes Unternehmen, das García Ortiz mit einer der höchsten Entschädigungsforderungen belegen wollte: das American Bureau of Shipping. ABS hatte der «Prestige» Fahrtüchtigkeit bescheinigt, obwohl der Tanker laut García Ortiz bereits vor Antritt seiner letzten Reise ein Wrack war. Das US-Gericht entschied kürzlich, Spanien habe kein Recht, das Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen. Purer Protektionismus. Als einziger im Netz des Staatsanwalts hängengeblieben ist der Kapitän. Ein 78jähriger, gebrochener Mann, der nichts anderes tat, als Befehlen zu gehorchen und die „Prestige“ möglichst weit von der spanischen Küste aufs offene Meer zu führen. Mit dem Ergebnis, dass 1'500 Kilometer Küste – von Portugal über Spanien bis Frankreich – verschmutzt wurden, dass über hunderttausend Seevögel starben und 327'476 freiwillige Helfer bei den Aufräumarbeiten mit dem Öl in Kontakt kamen. Ein Öl, das nachweislich kanzerogen ist.