Syrien und Libanon stehen nicht nur vor dem Staatsbankrott, sondern vor einer Ernährungskrise, die zu einer weitgehenden Desintegration der sozialen Ordnung führen kann. In Syrien ist die Desintegration schon seit mehr als einem Jahrzehnt Wirklichkeit. In Libanon droht eine Neuauflage des fünfzehnjährigen Bürgerkriegs.
Syrien
Einmal mehr lancieren syrische Staatsmedien die Nachricht, dass die „syrische arabische Armee“ (SAA) Vorbereitungen zur Eroberung der von Rebellen gehaltenen Gebiete in der Provinz Idlib getroffen habe. Russische Medien erwecken zudem den Eindruck, dass die russischen Truppen die Kontrolle über die Staatsstrasse M4 durch den Süden der Provinz Idlib durchsetzen wollen. Diese Strasse gilt als Grenze zwischen der russischen und der türkischen Einflusszone in Idlib.
Ein Treffen türkischer, russischer und iranischer Vertreter in Istanbul, das für den 15. Juni geplant war und das die Situation in Libyen und Syrien erörtern sollte, wurde kurzfristig abgesetzt. Wie zum Beweis, dass es dem Regime in Damaskus ernst sei, griffen am 14. und 15. Juni russische Kampfflugzeuge und Artillerie der SAA verstärkt Ortschaften in einer 300 Quadratkilometer grossen Zone südlich der Staatsstrasse an. Doch ob es sich wirklich um Vorboten eines Angriffs mit Bodentruppen handelt, ist ungewiss.
Es kann auch darum gehen, im Einverständnis mit der Türkei die ultraislamischen Kampfbünde, die sich im Gebiet südlich dieser Staatsstrasse festgesetzt haben, in die Zange zu nehmen. Am 12. Juni hatten fünf ultraislamische Bünde, die sich von der Organisation zur Befreiung der Levante (HTS) abgespalten hatten, verkündet, dass sie einen gemeinsamen „Operationsraum" namens „So seid standhaft" (fa-thbutū nach Koran 8:45) gebildet hätten.
Der wirtschaftliche Ruin
Gewiss aber dienen die Nachrichten dazu, die katastrophale Wirtschaftslage in Syrien zu verschleiern. Die US-Sanktionen, die mit dem Inkrafttreten des im Dezember 2019 verabschiedeten Caesar Syria Civilian Protection Act der US-Regierung am 17. Juni noch verschärft werden und die explizit darauf ausgerichtet sind, dem „Assad-Regime die finanziellen Mittel zu verweigern, die für seine Kampagne der Gewalt und Zerstörung verwendet werden“, könnten eine ökonomische Kernschmelze in Syrien verursachen.
Denn schon jetzt ist die Wirtschaft des Landes ruiniert. Die jüngste Explosion der Preise hat die ökonomische und soziale Zerrüttung überdeutlich werden lassen. Schon bevor die Preise ausser Kontrolle gerieten, hatte ein Drittel der Bevölkerung nicht genügend zu essen, bald dürfte es die Hälfte der Bevölkerung sein. Lag der Wert des monatlichen Durchschnittseinkommens im Mai noch bei 90 US $, sind es im Juni nur noch 20 US $. Nur etwa 25 Prozent der Bevölkerung verfügt über ein Einkommen, mit dem ein Einpersonenhaushalt finanziert werden kann. Selbst die obere Mittelklasse muss auf Ersparnisse zurückgreifen, um eine Familie versorgen zu können. Selbst ein Beamter mit einem mittleren Einkommen würde jetzt sein gesamtes Gehalt aufbrauchen, wenn er einmal in der Woche in einen Hamburgerimbiss ginge.
Finanzielles Desaster
Die Regierung in Damaskus hat ihre Finanzreserven weitgehend aufgebraucht. Libanon, dessen Finanzwirtschaft Syrien schon mehrfach vor dem Bankrott gerettet hat, kann nicht mehr helfen. Der libanesische Bankensektor, der auf dem Dollar beruht und der von syrischen Unternehmen für ihre Auslandsgeschäfte genutzt wird, ist durch die Unruhen im Land eingebrochen. Neue Devisen kommen kaum noch nach Syrien. Die Öl- und Gasförderung in jenen Gebieten, die von Regierungstruppen kontrolliert werden, beliefert fast nur noch einen Schwarzmarkt; die Gewinne hieraus stärken die Position der neuen Oligarchen, lokalen Kommandanten und Gangster. Der Versuch des Regimes, der Familie von Rāmī Makhlūf die Kontrolle über deren Unternehmen, die grosse Teile der syrischen Wirtschaft kontrollieren, zu entziehen, hat nicht die ersehnte Entlastung im Finanzsektor bewirkt.
Das Regime versucht verzweifelt, Gegensteuer zu geben. Der neu eingesetzte Ministerpräsident Husayn ’Arnūs (67), der schon länger zum Apparat der Regierung gehört und der als Ingenieur zuletzt für die Wasserwirtschaft zuständig war, soll es bis zu den angekündigten Neuwahlen (zurzeit für den 19. Juli angesetzt) richten: Schwerpunkt sei die „Aufrechterhaltung einer strengen Kontrolle über den Währungsmarkt und die Wechselkursunternehmen“. Zugleich solle der Geldkreislauf im Land wieder unter die Kontrolle „regulärer Institutionen“ gestellt werden, wie der Gouverneur der Zentralbank von Syrien, Hāzim Karfūl mitteilte. Die seit dem 7. Juni anhaltenden Proteste in der Drusenstadt as-Suwayda und in Dar’ā werden von den Staatsmedien flugs in „Proteste gegen die US-Sanktionen“ umgedeutet. Tatsächlich aber richten sich die Proteste sowohl gegen die Wirtschaftspolitik des Regimes wie gegen die Präsenz iranischer Truppen in der Region.
Aussicht auf Erfolg dieser Gegenmassnahmen besteht kaum. Grosse Teile des syrischen Markts werden durch eine Schattenwirtschaft und Schmuggelware am Leben erhalten. Zynisch mutet die Direktive an die Ministerien an, eine Liste jener Waren zusammenzustellen, die vornehmlich geschmuggelt werden. Durch die Vereinfachung der Import- und Exportverfahren, durch die Erteilung von Importzertifikaten und durch die Erweiterung der Importliste solle der Staat dann sicherstellen, dass der Warenverkehrt „auf regulärem Wege“ erfolgt. Trost bietet dem Regime allein die russische und iranische Kritik an dem „Wirtschaftsterrorismus der westlichen Staaten“. Und Delegationen aus China, die sich zurzeit in Damaskus aufhalten, künden an, dass sich bald ein neuer, finanzstarker Player in Syrien niederlassen wird.
Libanon
Am 15. März hatte die libanesische Regierung das Land aufgrund der Covid-19-Pandemie weitgehend abgeschottet. Die Grenzen zu Syrien wurden geschlossen. Bislang konnte die Pandemie nur teilweise eingedämmt werden. Zwischen dem 16. und 18. Juni will das Land zwei Grenzübergänge zu Syrien (im Norden Richtung Tartūs und an der Schnellstrasse Damaskus-Beirut) wieder öffnen. Allerdings soll allein der Grenzübertritt jenen Libanesen erlaubt sein, die sich in Syrien aufhalten. In der nordlibanesischen Stadt Tripolis blockierten am 12. Juni junge Männer die Autobahn Richtung Syrien, um zwei Lastwagen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP), die Nahrungsmittelhilfe nach Syrien transportieren sollten, zu stoppen. Die Demonstranten behaupten, die Lastwagen hätten Waren nach Syrien schmuggeln sollen. Die Demonstrationen griffen schnell auf Beirut und andere Städte des Landes über. Dabei wurden in der Beiruter Innenstadt zahlreiche öffentliche Einrichtungen zerstört, Geschäfte geplündert, Brandbomben geworfen und Passanten von Motorradgangs angegriffen.
Die Regierung in Beirut ist sich einig, dass der Staat hart auf die Demonstrationen reagieren müsse. „Dies sind keine Proteste gegen den Hunger und die wirtschaftliche Situation. Es handelt sich um eine organisierte Sabotagekampagne, und es sollte eine entschiedene und feste Massnahme getroffen werden, diesem wachsenden Phänomen entgegenzutreten. Diejenigen, die sie anstiften, finanzieren und leiten, müssen inhaftiert werden“, sagte der Ministerpräsident Hassan Diab. Präsident Michel Aoun forderte präventive Massnahmen gegen potentielle „Saboteure“. Der ehemalige Ministerpräsident Sa’d Harīrī verdächtigte die schiitischen Parteien Hizbullah und Amal, das „Chaos zu schüren“, um schliesslich mithilfe der Armee gegen die Regierung putschen zu können. Erwartungsgemäss wiesen Hizbullah-Sprecher diese Vorwürfe zurück und stellten klar, dass die „Scooter Rioters“ genannten Demonstranten nicht einer bestimmten Konfession angehörten oder aus einem bestimmten Landesteil kämen. Indirekt bestätigte Hizbullah damit, dass es in Libanon eine wachsende Anzahl von Menschen gibt, die nicht nur die politische Elite loswerden wollen, sondern dem ganzen System regional-konfessioneller Ordnung abgeschworen haben.
Diese Distanzierung überzeugt viele Libanesen nicht. Sie behaupten, dass Hizbullah „gegen einen konfessionellen Frieden arbeite“ und einer säkularen demokratischen Ordnung entgegenstehe. Sie befürchten, dass der Hizbullah die Staatsorgane unterwandere, um den Staat zu einem Schulterschluss mit dem Regime in Damaskus zu zwingen.
Das libanesische Verhängnis
Das Land ist tief gespalten. Einig sind sich die Demonstranten nur in ihrer Wut auf Politik und Staat, die sie für die katastrophale Wirtschaftslage verantwortlich machen. In dem ehemals reichen Land breitet sich Hunger aus. Fast 40 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos. Nur noch 20 Prozent der Bevölkerung kann sich das Leben im Land leisten, ohne sich zu verschulden, auf Ersparnisse zurückzugreifen oder sich in einer Wirtschaft zu bewegen. Ähnlich wie in Syrien hat die libanesische Währung dramatisch an Wert gegenüber dem Dollar verloren. Die Dollarknappheit, verbunden mit einem bereits negativen Wirtschaftswachstum, hat die libanesische Mittelschicht unter Druck gesetzt und die Armut vergrössert. Da die Banken die Abhebung von Dollar massiv eingeschränkt haben, können viele Familien, die ihre Ersparnisse in Dollar angelegt haben, ihre Schulden nicht mehr bezahlen. Offiziell ist die libanesische Lira seit 1997 an den US-Dollar gekoppelt, doch gehandelt wird die Lira nur noch zu einem Fünftel des gekoppelten Werts.
Inzwischen hat auch die Regierung erkannt, dass grosse Teile der Bevölkerung rasant verarmen und viele Hunger leiden. Dies trifft gerade auch die etwa eine Million syrische Flüchtlinge im Land, die viele gerne so schnell wie möglich loswerden wollen.
Hoffnung auf das Öl
Mit einer Schuldenquote von 180 Prozent des BIP ist Libanon nach Japan und Griechenland das meist verschuldete Land der Welt. Seit Wochen nun führt die libanesische Regierung Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds, um einen finanziellen Rettungsplan zu vereinbaren. Zwischen 10 und 15 Milliarden Dollar an externer Finanzierung werden benötigt, um ein Mindestmass an staatlichen Aufgaben wahrnehmen zu können. Aber bislang gibt es keine Anzeichen für eine bevorstehende Einigung.
So setzt die Regierung auf Abwarten. Sie hofft, dass das Geld irgendwie von aussen kommt. Zudem setzt sie auf den Anteil Libanons an den vermuteten Öl- und Gasreserven im Mittelmeer, die demnächst durch Erkundungsbohrungen erschlossen werden sollen. Vollmundig hatte Präsident Aoun verkündet, dass Libanon nun dem elitären Club der Erdölproduzenten beigetreten sei. Doch sind die Ausschreibungen für Gebote für eine zweite Offshore-Genehmigungsrunde für Unternehmen wie Total in Frankreich und Novatek in Russland gerade erst eröffnet worden. Beide Unternehmen gehören zusammen mit der italienischen ENI einem internationalen Energiekonsortium an, das 2017 mit Probebohrungen in zwei der zehn von Libanon beanspruchten Explorationsblöcke beauftragt worden war.
Allerdings würde es noch ein Jahrzehnt dauern, bis Geld in die Staatskassen fliessen würde, vorausgesetzt, der Umfang der Lagerstätten entspricht den Erwartungen. Im April musste der Energieminister des Landes, Raymond Ghayyār eingestehen, dass bei der ersten Exploration keine Gasmengen gefunden wurden, die kommerziell rentabel erschlossen werden könnten. So hofft man auf bessere Nachrichten zu den anderen neun Explorationsblöcken.
Die Nachbarländer, allen voran Israel und Zypern, sind da schon erheblich weiter. Im Januar 2019 hatten sich die Energieminister aus Zypern, Ägypten, Griechenland, Jordanien und Israel mit Vertretern Italiens und der Palästinensischen Autonomiebehörde in Kairo getroffen, um das East Mediterranean Gas Forum (EMGF) ins Leben zu rufen, das die Schaffung eines regionalen Gasmarktes anstrebt und das die Sicherheit von Angebot und Nachfrage gewährleisten soll. Libanon trat dem EMGF nicht bei, da er keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhält. Damit aber verspielte sich das Land die Chance, eine Vereinbarung mit Israel zur Beilegung des lähmenden Streits über die Grenzziehung im Offshore-Bereich zu erzielen.
Hoffnung auf einen radikalen Neuanfang
Die meisten Beobachter in Syrien und Libanon sind sich einig: Beide Länder brauchen einen radikalen Neuanfang, der nicht nur eine weitreichende Strukturreform bedeutet, sondern auch eine wirksame Politik gegen die Korruption. Nur ein Neuanfang könne Vertrauen aufbauen und den Menschen die Perspektive auf eine selbstverantwortete Zivilgesellschaft weisen. Die alten konfessionellen Ordnungsmuster, in denen sich die herrschenden Eliten seit bald 100 Jahren eingerichtet haben, repräsentieren nicht mehr die soziale Wirklichkeit, die sich in den Kriegen und Demonstrationen zeigt. Erst wenn sich die Eliten ohne Scheuklappen dieser Realität stellen und zusammen mit der Bevölkerung neue Muster der Beziehung von Macht, Politik und Herrschaft entwerfen, die das Vertrauen grösserer Teil der Bevölkerung haben, besteht die Chance auf ein Durchschlagen des Gordischen Knotens.