Seit einigen Wochen schon probt die ägyptische Armee an der Westgrenze zu Libyen den Ernstfall. Erstmals seit dem Ende des Oktoberkriegs 1973 droht Ägypten mit einem direkten militärischen Eingreifen ausserhalb der eigenen Landesgrenzen. Angesichts der ersten Hinweise auf einen Rückschlag von Khalīfa Haftars Libyscher Nationalarmee (LNA) hatte der ägyptische Präsident al-Sīsī erneut am 19. Mai 2020 verkündet, dass die Stabilität des Nachbarlandes Libyen Teil der nationalen Sicherheit Ägyptens sei, dass Libyens Souveränität, Sicherheit und territoriale Integrität bewahrt werden müsse und dass eine ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Libyens abzulehnen sei.
Ägyptens Vorhof
Libyen ist zweifellos zum machtpolitischen Vorhof Ägyptens geworden. Ein Eingreifen des ägyptischen Militärs wäre dann aus der Sicht von al-Sīsī keine ausländische Einmischung, sondern ein „legitimer Kampf gegen Terrorismus und Söldnerwesen“, die Ägypten bedrohten. Als Einheiten der tripolitanischen Milizen in der Hafenstadt Sirte zurückgeschlagen werden konnten, verstärkte al-Sīsī sein Bemühen, die Situation im Nachbarland zu kontrollieren. Dabei ging er auf vorsichtige Distanz zu seinem Verbündeten, Khalīfa Haftar, definierte aber zusammen mit Russland, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten die Front von Sirte bis südlich zum grossen Militärstützpunkt al-Jufra als Rote Linie, die die Tripolitaner in keinem Fall überschreiten dürften. Andernfalls würde die ägyptische Armee intervenieren.
Am 19. Juni verlangte al-Sīsī eine ausserordentliche Sitzung der Arabischen Liga zur Lage in Libyen. Zugleich konferierte er mit Haftar und dem Präsidenten des Repräsentantenhauses im ostlibyschen Tobruk, ʿAqīla Sālih ʿĪsā, die er auf seine Vision einer durch Ägypten vermittelten politischen Lösung in Libyen einzuschwören versuchte. Tags darauf befahl al-Sīsī seiner Armee, sich „wegen der türkischen Intervention im benachbarten Libyen auf jede Mission innerhalb oder ausserhalb des Landes zum Schutz seiner nationalen Sicherheit vorzubereiten“. Die ägyptische Armee, so al-Sīsī, sei „eine der stärksten Armeen in der Region, aber sie sei eine rationale Armee ... die schützt und die nicht bedroht“.
Die machtlose Liga
Die Regierung in Tripolis deutete dies als „Kriegserklärung“ und wies al-Sīsīs Initiative prompt zurück. Am 23. Juni befasste sich die Arabische Liga mit dem Antrag Ägyptens. Wie zu erwarten, boykottierten die Tripolitaner die Sitzung. Der Beschluss der Liga orientierte sich weitgehend an der sogenannten Erklärung von Kairo, in der al-Sīsī seine Vision zusammengefasst hatte: Mehr ein Appell denn ein wirkungsvoller Text verlangt er eine politische Lösung für den Gesamtstaat, den Abzug aller ausländischen Truppen, die Durchsetzung eines Waffenembargos und die „Beseitigung des Terrorismus“. Jegliche externe Intervention, die „den Transfer ausländischer terroristischer extremistischer Kämpfer nach Libyen erleichtert“, sei zu unterbinden.
Die letzten beiden Bestimmungen deutete die ägyptische Regierung als Legitimierung für ein Mandat zur militärischen Intervention. „Jede direkte Intervention des ägyptischen Staates hat nun internationale Legitimität erlangt“, sagte Sisi am 20. Juni und verwies auf die Bedrohung der Sicherheit und Stabilität Libyens durch „terroristische Milizen“. „Unser Ziel wird es sein, unsere westlichen Grenzen zu schützen und die Wiederherstellung von Sicherheit und Stabilität in Libyen zu unterstützen, da dies Teil der nationalen Sicherheit Ägyptens ist.“ Und aus Saudi-Arabien verlautete, dass „die Sicherheit Ägyptens ein integraler Bestandteil der Sicherheit des Königreichs und der gesamten arabischen Nation“ sei.
Der saudisch-türkisch Antagonismus
Die ägyptische Regierung hat sich mit der neuen Rolle, politisches und militärisches Schutzschild Saudi-Arabiens zu sein, weitgehend arrangiert. Seit dem Sturz der Regierung von Muhammad Mursī 2013 steht die ägyptische Regierung in der Schuld Saudi-Arabiens, die massgeblich zum Sturz Mursīs beigetragen hatte. Dies bedeutete auch die Fortschreibung des türkisch-saudischen Antagonismus zu einem ägyptisch-türkischen Gegensatz. Schon 2013 hatte es in der türkischen Öffentlichkeit kaum noch jemanden gegeben, der eine positive Haltung zu Saudi-Arabien bekundete. Saudi-Arabien seinerseits radikalisierte seit 2014 seine antitürkische Haltung. Allerdings beschlossen noch 2015 saudische Investoren, eine Milliarde Dollar im türkischen Petrochemie- und Energiesektor sowie in Immobilien in der Türkei anzulegen. Dadurch konnte sich Saudi-Arabien für eine gewisse Zeit den Rücken freihalten, um militärisch gegen die Intervention iranischer Milizen im Jemen zugunsten der Ansār Allāh (Hūthī) Front zu machen. Die türkische Seite war damals noch auf den guten Willen der Saudis angewiesen, um ihre eigene Interventionspolitik in Syrien und im Irak zu gestalten. Doch im Frühjahr 2018 hatte sich das Klima so weit verschlechtert, dass der saudisch-türkische Antagonismus deutlich zu Tage trat und eine verstärkte Blockbildung zur Folge hatte.
Die türkische Regierung, so meinte der saudische Kronprinz Muhammad Bin Salmān im März 2018, habe einen Pakt mit dem Bösen (das heisst den Muslimbrüdern) geschlossen, um einer neo-osmanischen Expansionspolitik den Boden zu bereiten. Die Türkei ihrerseits stellte sich als Sachwalterin der zivilgesellschaftlichen Opposition in Saudi-Arabien dar. Nach der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi am 2. Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul war der endgültige Bruch zwischen den beiden Ländern nicht mehr zu verhindern. Fortan bildeten Saudi-Arabien und die Türkei die Zentren von zwei antagonistischen Blöcken, die allerdings ab und zu ein gemeinsames Interesse an der Zurückbindung Irans, des Hegemons des dritten Blocks, teilen.
Ein islamischer Kulturkampf
Ägypten erweiterte den saudisch-türkischen Antagonismus zu einem nahöstlichen Kulturkampf. Die Symmetrie der gegenseitigen rhetorischen Polemik ist bemerkenswert. Ägypten wirft der Türkei vor, in Libyen Expansionismus mittels Söldnertruppen und Terroristen zu betreiben und die Souveränität und Integrität Libyens zu zerstören. Die Türkei nutzt fast wortgleich dieselben Vorwürfe, um Ägyptens und Saudi-Arabiens Unterstützung von Haftars LNA zu brandmarken.
Origineller sind da die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Ägypten bezüglich der Rolle der Türkei in der islamischen Geschichte. Die 10. Kammer des türkischen Staatsrates kündigte jüngst an, dass am 2. Juli 2020 eine Anhörung zur Bearbeitung des Antrags eines archäologischen Stiftungsverbands auf Umwandlung der Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee stattfinden wird. Präsident Erdoğan geht davon aus, dass noch am selben Tag, spätestens aber am 15. Juli 2020 das Gebet wieder in der Hagia Sophia verrichtet werden kann.
Am 29. Mai hatte Erdoğan den 567. Jahrestag der Eroberung von Konstantinopel feiern lassen und in einer Rede gesagt, dass die Eroberung von Konstantinopel 1453 ein Symbol des „Wiederaufbaus, des Fortschritts, der Gerechtigkeit und der Liebe“ sei und dass Gott dem türkischen Volk „mehr Eroberungen, Siege und Erfolge“ gewähren möge. Dass der schon seit 2004 hängige Antrag zur Hagia Sophia jetzt behandelt werden soll, hängt gewiss auch damit zusammen, dass Erdoğan hier eine Chance sieht, sein angeschlagenes Image innen- wie aussenpolitisch zu verbessern.
Doch die ägyptische Seite will ihm diesen Triumph nicht gönnen. Das ägyptische staatliche Amt für Fatwas publizierte am 7. Juni eine Erklärung unter dem Titel „Erdogan setzt weiterhin Fatwa-Waffen ein, um seine Tyrannei zu Hause zu zementieren und seine kolonialen Ambitionen im Ausland zu rechtfertigen“. Darin wird die Eroberung von Konstantinopel 1453 als „Besetzung“ (ihtilāl) bezeichnet. Dieser Ausdruck konnotiert fast immer eine als unrechtmässig empfundene Besetzung des Heimatlands. Die Erklärung des ägyptischen Fatwa-Amts könnte daher durchaus auch verstanden werden als Kritik an der osmanischen Herrschaft über ehemals byzantinische Gebiete. Mit anderen Worten: weder die Türkei noch ihr Präsident Erdoğan könnten ein legitimes Erbe der islamischen Geschichte für sich reklamieren. Später musste das Amt zurückrudern und versichern, dass die Eroberung von Konstantinopel eine „islamische, aber keine türkische Angelegenheit“ war. Der Präsident des türkischen Amtes für religiöse Angelegenheiten (Diyanet), Ali Erbaş, zögerte nicht, die „unislamische“ Haltung der Ägypter anzugreifen.
Ein indirekter Krieg?
Die rhetorische Aufrüstung verstärkt noch die Gefahr einer direkten türkisch-ägyptischen Konfrontation. Die Milizen der GNA, allen voran die Misrāta-Milizen, lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie nur auf eine günstige Gelegenheit warten, die Stadt Syrte und den Luftwaffenstützpunkt al-Jufra einzunehmen. Glaubt man den Bekanntmachungen der GNA, so würden ihre Milizen nach einer Eroberung von Syrte und al-Jufra Halt machen und den Weg zu politischen Verhandlungen suchen. Doch die Drohung Ägyptens lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es nur Verhandlungen geben könne, wenn die GNA-Milizen nicht weiter vorrückten und die Türkei ihre militärische Unterstützung für die GNA einstellte. Allerdings glauben in Kairo nur wenige daran, dass es tatsächlich zu einer türkisch-ägyptischen Konfrontation kommen könnte. Eher deuten sie das Säbelrasseln als Hinweis auf eine politische Schwäche al-Sīsīs, der wegen des Versagens der ägyptischen Behörden bei der Eindämmung der Covid-19-Pandemie und dem aussichtslosen Unterfangen, die Einleitung des Nilwassers in den monumentalen äthiopischen Renaissance-Staudamm zu verhindern, mächtig unter Druck geraten ist.
Doch hat er sich mit seiner Äusserung zu einer in Libyen bestehenden „Roten Linie“ sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Wenn das türkische Militär, das sich ja als legitime Macht in Libyen versteht, entscheidet, die Milizen diese Linie überschreiten zu lassen, dann wird al-Sīsī wohl nichts anderes übrigbleiben, als mit Bombern Stellungen der Milizen bei Syrte anzugreifen. Um eine direkte Konfrontation mit türkischen Einheiten zu verhindern, wird er die ägyptische Armee ähnlich verdeckt operieren lassen, wie die Türkei ihre Armee in Libyen. Solche indirekten Interventionen haben die drei Mächte Türkei, Saudi-Arabien und Iran im Rahmen ihrer Restaurationskriege schon länger geübt. Im Jemen und in Syrien hat diese Strategie bislang sichergestellt, dass es bislang zu keiner direkten Konfrontation zwischen Iran und Saudi-Arabien oder Iran und der Türkei gekommen ist. Daher könnte eine solche militärische Lösung auch für al-Sīsī einen Ausweg bedeuten, wenn die Milizen der GNA die Rote Linie tatsächlich überschreiten sollten.