In Syrien wird ein Grossangriff der Asad-Truppen auf die nördliche Provinz Idlib mit ihrer gleichnamigen Hauptstadt erwartet. Unterstützt wird der Angriff wohl von russischen Kampfflugzeugen. Im Vorfeld lieferten sich die Türkei und Russland ein diplomatisches Ringen.
Den Türken liegt viel daran, ein Blutbad in Idlib zu verhindern. Ein solches würde eine neue, gewaltige Flüchtlingswelle Richtung türkische Grenze auslösen. Es würde auch die Pläne Ankaras vereiteln, die darauf abzielen, Teile Syriens südlich der türkische Grenze zumindest vorläufig unter Kontrolle zu bringen. So wie es auch in Afrin und den Regionen östlich davon bereits geschehen ist.
Fluchthafen der Rebellen
In Idlib leben fast drei Millionen Menschen. Viele von ihnen, wahrscheinlich mehr als Hälfte, gehören verschiedenen Widerstandgruppen an. Die Widerstandskämpfer sind, nachdem sie in anderen Teilen Syriens belagert und teils ausgehungert wurden, nach Verhandlungen mit Damaskus nach Idlib transportiert worden.
Jede dieser zahlreichen Widerstandsgruppen hat nach wie vor eine eigene Führung. Unter ihnen dominierte anfänglich die HTS (Hay'at Tahrir Suriya), die als Nachfolgeorganisation der Nusra-Front gesehen werden muss. Sie war einst der syrische Arm von Al-Kaida. Die HTS versuchte andere Gruppen unter ihr Dach zu bringen. Manche, sogenannt „Radikale“, haben sich ihr angeschlossen. Für die USA, Russland und die übrige Aussenwelt gilt HTS weiterhin als eine extremistische Organisation, die als Terrorgruppe von allen Verhandlungen ausgeschlossen ist.
Türkische Gegenfront
Die Türkei hat ihrerseits versucht, eine Gegenfront zur HTS aufzubauen. Ziel ist es, verschiedene Widerstandsgruppen unter türkische Führung zu stellen, sie auszubilden und sie zu bewaffnen. Diese Gegenfront nennt die Türkei „Nationale Befreiungsfront“.
Die türkische Armee hat rings um Idlib herum zehn Beobachtungsposten eingerichtet. Im Norden der Provinz wurden auch zwei russische Posten aufgebaut. In Idlib selbst, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, haben die Türken ihren Einfluss verstärkt. Sie beliefern die Stadt über die türkische Grenze hinweg mit Lebensmitteln und vergeben Arbeit. Gegen Süden jedoch wird die Provinz von den Aufständischen vom restlichen Syrien abgeriegelt.
Russland hält zu Asad
Assad hat bereits Truppen im Süden von Idlib zusammengezogen. Die Bombardierungen durch syrische und russische Kampfflugzeuge haben in den letzten Wochen zugenommen. Die türkische Absicht, in Idlib ein Blutbad zu vermeiden, scheint in Russland auf taube Ohren gestossen zu sein. Dies geht aus Berichten hervor, die die Türkei nach den russisch-türkischen Gesprächen durchsickern liess.
Die harte russische Haltung kommt nicht von ungefähr. Moskau steht vor der Wahl, sich auf die Seite Asads zu stellen – oder sich ihm entgegenzustellen. Auf Asads Wünsche einzugehen, hiesse: die syrische Offensive auf Idlib billigen und sie mit der russischen Luftwaffe unterstützen. Dies ist kürzlich auch im Süden Syriens und an der Golangrenze geschehen.
Der Spatz ist Syrien
Andererseits würde eine Unterstützung der türkischen Pläne die Beziehungen zur Türkei weiter fördern. Dazu müsste Asad von seiner geplanten Grossoffensive abgehalten werden. Der Türkei würde die Rolle überlassen, die sie in Idlib zu spielen versucht: nämlich eine provisorische türkische Einflusszone im Norden Syriens zu schaffen – mit Hilfe der von der Türkei unterstützten „Nationalen Befreiungsfront“. Seit Jahren hat Erdoğan eine Schutzzone im Norden Syriens gefordert – sie aber nie erreicht.
Für Moskau geht es um den Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach. Der Spatz ist Syrien, die Taube die Türkei. Es sieht so aus als ob Moskau sich für den Spatzen entschlossen hat. Genau besehen ist nicht nur Asad von Russland abhängig, sondern auch Russland darauf angewiesen, Asad an der Macht zu halten, wenn es die Früchte seiner syrischen Intervention ernten will. Ein Sturz des Asad-Regimes würde diese Früchte in Frage stellen. Vielleicht ähnlich wie es einst der Sowjetunion erging, als Sadat im Sommer 1972 seine sowjetischen militärischen Helfer aus Ägypten verwies.
Die Taube bleibt auf dem Dach
Der Umstand, dass die Türkei zurzeit eine Periode grosser Spannungen mit den USA durchmacht, dürfte die Entscheidung der russischen Strategen erleichtern.
Vorläufig bleibt die Taube auf dem Dach und droht nicht wegzufliegen, weil Ankara in seinem Streit mit Washington darauf angewiesen ist, seine guten Beziehungen mit Moskau aufrechtzuerhalten, auch wenn die Russen die Idlib-Pläne Ankaras ablehnen.
„De-Eskalation“, ein taktischer Schachzug
Idlib ist die letzte der ursprünglich fünf grösseren „De-Eskalations-Zonen“, die von Moskau, Iran und der Türkei bei den Verhandlungen in Astana (Kasachstan) proklamiert worden waren. Vier dieser De-Eskalations-Zonen sind bereits von den Truppen Asads mit russischer und iranischer Hilfe erobert worden: Jene im Norden von Homs, jene in der Ghouta nahe bei Damaskus, und die beiden im Süden Syriens nahe an der Golan- und an der jordanischen Grenze.
Die „De-Eskalation“ stellte sich als ein taktischer Schachzug heraus, der dazu diente, den syrischen Truppen und ihren russischen und iranischen Helfern zu erlauben, konzentriert gegen ein Widerstandsgebiet nach dem andern vorzugehen.
Jetzt kommt Idlib, die fünfte, grösste und letzte Hochburg des Widerstands, an die Reihe.