Korrekt Parteichnesisch ausgedrückt ist hier vom 3. Plenum des 18. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas die Rede. Hinter der kruden leninistisch-marxistisch-maoistischen Formel verbirgt sich das oberste Entscheidungsgremium der Volksrepublik.
Dengs grosser Reformanstoss vor 35 Jahren
Während vier Tagen werden etwas mehr als zweihundert ZK-Mitglieder, angeführt und dirigiert von Parteichef Xi Jinping und dessen sechs Kollegen im Ständigen Ausschuss des Politbüros, die zukünftige politische, wirtschaftliche und soziale Richtung des wiedererstarkten China debattieren. Die genau vor einem Jahr neu gewählte Führung wird ususgemäss zehn Jahre lang, also bis 2023 in der Verantwortung stehen. Jetzt ist nichts weniger als ein neues Wachstums-Modell gefragt.
Das ist mit ein Grund, warum 3/18 mit 3/11 verglichen wird. Hinter den in China beliebten Kurzformeln verbirgt sich stets Wichtiges. Am 3. Plenum des 11. Parteitages nämlich setzte im Dezember 1978 der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping die Wirtschafts-Reform in Bewegung. Dies nach dreissig Jahren Maoismus, einer grossen Hungersnot 1958-69 (45 Millionen Tote), der Katastrophe der Grossen Proletarischen Kulturrevolution 1966-76, nach einer Zeit verbreiteter, kollektivierter und egalitärer Armut. Der Rest ist Geschichte.
Neues, Mutiges ist gefragt
China wuchs in den letzten 34 Jahren im Schnitt neun Prozentpunkte jährlich. Doch jetzt sind die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile, ganz zu schweigen von den politischen, der Dengschen Reform verpufft. Neues, Überraschendes, Kreatives ist vom 3/18 gefragt. Vielleicht so etwas Mutiges, wie vor zwanzig Jahren – ebenfalls an einem 3. Plenum – der damalige Parteichef Jiang Zemin und der nichts fürchtende Premier Zhu Rongji durchgesetzt haben, nämlich die „sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung“.
Am ersten Plenum des 18. Parteitags vor einem Jahr wurde Xi Jinping zum neuen Parteichef und zum Vorsitzenden der Militärkommission erkoren. Wie in jeder Partei gibt es auch in der KP verschiedene Richtungen, Denk- und Politschulen. Allerdings gibt es in China nur eine Partei, und die unterschiedlichen Tendenzen konkurrieren „hinter dem Vorhang“ und nicht wie anderswo in der veröffentlichten Meinung freier Medien. Xi wird nun am 3/18 die Weichen stellen für das, was in Chinas Partei- und Regierungsmedien als „nachhaltiges Wachstum“ definiert wird.
Die Handschrift von Parteichef Xi
Parteisupremo Xi ist wohl vorbereitet. Seine reformerischen Absichten stehen ausser Zweifel. Xi ist wie vier der sechs andern Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros Sohn eines verdienten Revolutionärs, Mitglied also der neuen Elite der „kleinen Prinzen“. Xis Vater, Xi Zhongxun, war in den entscheidenden Jahren nach 1978 Parteichef der Provinz Guangdong, dort also, wo die experimentell kapitalistische Sonderwirtschaftszone Shenzhen von Deng gegründet wurde. Kein Wunder deshalb, dass Sohn Xi, kaum im Amt, im Dezember Shenzhen einen Besuch mit grossem symbolischen Wert abgestattet hat. Der Ausweis Xi Jinpings als marktwirtschaftlich orientierter Reformer geht auf seine Zeit als Parteichef der kapitalistischen Boom-Provinzen Zhejiang, Fujian sowie Shanghai zurück.
Nun hat aber Xi in den letzten zwölf Monaten vor allem ausländische Beobachter verunsichert. Eine anachronistisch anmutende Hommage an Mao mit einer „Massenlinie-Kampagne“ sowie nationalistischen Parolen schreckte viele im Ausland auf. Aber auch der Kampf gegen Korruption – parteiamtlich das „Krebsübel der Partei“ – intensivierte Xi und zwar sowohl gegen Tiger als auch gegen Fliegen. Der mächtigste Tiger wahr wohl Chongjings Parteichef und Politbüromitglied Bo Xilai, der über die Klinge springen musste und nun eine lebenslange Haft absitzt.
Eine rigidere Pressezensur und eine strenge Überwachung des Internets sind weitere Zeichen der politischen Handschrift des neuen Parteichefs. Schliesslich werden auch alle von Provinz- bis hinunter zu Lokalkadern an die Kandarre genommen. Rauschende Gelage sind Vergangenheit, „vier Gerichte und eine Suppe“ an der Tagesordnung. Schliesslich mussten Beamte, Parteikader und Journalisten Nachilfeunterricht in Marxismus, Leninismus und Mao-Dsedong-Denken absitzen. Auch Lektionen zum Zerfall der Sowjetunion standen auf dem Programm, um chinesische Gorbatschow-Phantasien im Keime zu ersticken. Kurz, Parteidisziplin sthet wieder über allem.
Die Lage ist ernst
Xi Jinping wird also am 3/18 die neuen Reform-Richtlinien zum Durchbruch führen. Und die Lage ist ernst. Die Nummer zwei der Partei, Premierminister Li Kejiang formuliert es im Oktober am World Economic Forum in Dalian so: „China befindet sich derzeit in einer entscheidenden Phase. Ohne strukturelle Reform und ohne grundlegende Transformation wird China nicht imstande sein, sein wirtschaftliches Wachstum zu halten“. Und um das von Deng Xiaoping definierte Fernziel einer „Gesellschaft mittleren Wohlstands“ für das Jahr 2050 zu erreichen, ist „nachhaltiges“, umweltfreundliches Wachstum Voraussetzung.
Es geht um nichts weniger, als um die Abkehr vom drei Jahrzehnte lang erfolgreichen Wachstummodell, das den Wandel von der Plan- zur Marktwirtschaft brachte. Ein von Infrastrukturinvestitionen und Export angetriebenes Wachstum soll jetzt abgelöst werden durch Binnennachfrage, Konsum, Produktivitätssteigerung, Innovation, durch pfleglichen Umgang mit natürlichen Ressourcen und Umweltschutz. China soll jenes Kunststück wiederholen, das die Tigerstaaten Taiwan, Südkorea, Hongkong oder Singapur vor 25 Jahren fertig gebracht haben, um die Falle des Mittleren Einkommens zu vermeiden. Der Trick: höhere Produktivität ersetzen sinkende Investitionen.
Bauern und Wanderarbeiter den Städtern gleichstellen?
Eine der wichtigsten Punkte beim 3/18 wird auch Landreform und Modernisierung der Landwirtschaft sein. Die Bauern und vor allem die 260 Millionen ländlichen Wanderarbeiter würden damit den Städtern gleichgestellt. Der Konsum, eines der wichtigsten Ziele der Reform, würde dadurch angekurbelt. Auch die Einebnung der immens grossen Wohlstandsunterschiede steht weit oben auf der Reform-Agenda. Das alles aber wird ein langer, mühsamer Prozess werden. Privilegien und Interessen jener stehen auf dem Spiel, die unter dem alten System gut gelebt und besser gefahren sind, zum Beispiel parteiliche Provinz- und Lokalfürsten oder Kader von Staatsbetrieben. „Um soziale Gerechtigkeit wieder herzustellen“, schrieb ein Blogger auf dem chinesischen Twitter-Pendant Sina Weibo, „müssen wir die Privilegien an der Wurzel bekämpfen“.
„Tief verwurzelte Konflikte und strukturelle Probleme“ bedürfen, so Premier Li Kejiang, nun entschiedener Reformen: „Zur Modernisierung hat China noch einen langen Weg vor sich“. Parteichef Xi Jinping, beim Volk beliebt, drückte die kommende grosse Aufgabe – Reformübervater Deng Xiaoping immitierend – drastisch aus: es gehe nicht nur um mehr Reform sondern um „eine profunde Revolution“.