„Known unto God“ steht auf dem Grabstein. Über tausend britische Soldaten liegen hier. Viele waren so verstümmelt, dass nur Gott weiss, wer sie sind.
Wir befinden uns auf dem britischen War Cemetery am nördlichen Ausgang der italienischen Stadt Anzio. Englischer Rasen, gepflegte Gräber. Am Eingang des Friedhofs liegt ein Buch auf. Hier können sich die Besucher eintragen. Nicht nur Engländer besuchen den Friedhof. Auch viele Italiener sind gekommen. „Vi ringraziamo“, steht da. „Britische Soldaten, wir danken Euch“. 1'067 Gefallene liegen hier.
Hier in Anzio und im südlich gelegenen Monte Cassino starben zwischen Januar und Mai 1944 etwa 60‘000 - 70'000 alliierte und rund 30‘000 deutsche Soldaten. Über 100‘000 wurden teils schwer verwundet.
Mussolinis Ende
Begonnen hatte alles im Juli 1943. Amerikanische und britische Einheiten waren auf Sizilien gelandet und stiessen dann auf dem italienischen Festland Richtung Norden vor. Im September erfolgte eine weitere alliierte Landung im Golf von Salerno, südlich von Neapel.
Mussolini war am Ende. Er wurde von den eigenen Faschisten abgesetzt und in einen Kurort hoch oben in den Abruzzen verbannt. Am 12. September befreiten ihn deutsche Fallschirmjäger und brachten ihn an den Garda-See. Dort proklamierte er die „Republik von Salò“, die dank deutscher Hilfe bis Ende des Krieges (korrigiert) Bestand hatte.
Inzwischen hatte die italienische Armee kapituliert. Jetzt kämpften in Italien nur noch die Deutschen gegen den alliierten Vormarsch - und gegen die Partisanen.
Die Gustav-Linie
Etwa hundert Kilometer südlich von Rom hatten die Deutschen einen imposanten Befestigungsriegel errichtet: die Gustav-Linie. Sie sollte einen alliierten Vorstoss nach Rom verhindern. Das Befestigungssystem aus Stahl und Zement reichte von Minturno am Thyrrhenischen Meer über den Apennin bis nach Ortona an der Adria.
Auf dieser Linie lag das Städtchen Cassino und der 516 Meter hohe Klosterberg Monte Cassino. Seit über 1400 Jahren steht dort das Mutterkloster der Benediktiner. Gegründet wurde es 529 von Benedikt, einem Einsiedler und Abt aus dem umbrischen Norcia. Er starb 547 in den Armen von Mönchen. Engel trugen ihn auf einer lichtdurchfluteten Strasse voller Teppiche in den Himmel. So die Legende.
Dieses Kloster erlebt während des Zweiten Weltkrieges die schlimmsten Kämpfe auf italienischem Boden.
Landung in Anzio
Am 17. Januar 1944 greifen die von Süden anrückenden Amerikaner die Gustav-Linie an. Sie werden sogleich zurückgeschlagen und erleiden schwere Verluste.
Jetzt versuchen es die Alliierten mit einer List. Vom Meer her landen amerikanische und britische Divisionen am 22. Januar 1944 um zwei Uhr früh in Anzio und Nettuno – hinter der Gustav-Linie. Neun Transportschiffe und 200 Landungsboote bringen 36‘000 Soldaten und schweres Kriegsgerät an Land. Die Deutschen sind überrumpelt. Sie hatten weitere Angriffe bei der Gustav-Linie erwartet.
Doch dann verspielt der amerikanische General John P. Lucas eine kapitale Chance. Statt schnell nach Rom vorzustossen, baut er den Landekopf bei Anzio aus und gräbt seine Truppen ein. Churchill tobt. Er nennt diese Strategie „eine Katastrophe“. Tatsächlich reagiert der deutsche Generalfeldmarschall Albert Kesselring schnell. Er zieht Truppen von der Gustav-Linie ab und schneidet die bei Anzio gelandeten Alliierten vom Rest des Landes ab. In seinen Memoiren schreibt Churchill: „Ich hatte gehofft, eine Wildkatze an Land zu setzen, was wir nun hatten, war ein gestrandeter Wal“.
Verteidigung um jeden Preis
Jetzt beginnt der Kampf um Monte Cassino. Es sollte für die Alliierten ein furchtbarer Kampf werden. Die Deutschen verteidigen den Berg fanatisch. Ein erster Angriff scheitert.
Die Alliierten ziehen drei Divisionen eines neuseeländischen Korps von der Adria ab, um sie in Monte Cassino einsetzen zu können.
Kesselring hat einen Angriff vermutet. Er informiert die Alliierten, dass sich keine Soldaten und kein Kriegsgerät im Kloster befinden. Wegen der historischen Bedeutung wolle er die Abtei schützen. Die Alliierten glauben ihm nicht und vermuten eine Kriegslist.
450 Tonnen Bomben auf Monte Cassino
Am 15. Februar 1944, vor siebzig Jahren, werfen amerikanische und britische Kampfflugzeuge 450 Tonnen Bomben auf das Kloster und die nahe Umgebung ab. Die Mönche sind im Voraus gewarnt worden. Die Alliierten glaubten, im Kloster befänden sich schweres Kriegsgerät, eine Flab-Abwehr und eine Funkstation, von der aus die deutsche Verteidigung koordiniert würde.
Nach der Bombardierung wird klar: Kein einziger Deutscher befand sich im Kloster, kein Kriegsgerät, nichts. Dafür hatten 800 Menschen in den Klostermauern Schutz gesucht, Mönche und Zivilisten, auch Frauen und Kinder. Je nach Quelle sterben im Bombenhagel zwischen 200 und 500 Menschen.
Der Angriff bringt den Angreifern unter der Bevölkerung einen schweren Image-Verlust. Noch heute sprechen im Städtchen Cassino ältere Italiener von den „barbarischen Briten und Amerikanern“.
Die Alliierten ins Meer werfen
Schlimmer noch: Die Bombardierung brachte zunächst nichts. Die 4. Indische Division beginnt den Klosterberg zu stürmen – und wird zurückgeschlagen. Drei Tage später: ein dritter Versuch. Auch er scheitert.
Für die Alliierten wird die Lage schwierig, denn jetzt, am 16. Februar 1944, beginnen die Deutschen bei Anzio einen Gegenangriff. Hitler hatte befohlen, den Landekopf bei Anzio und Nettuno, „diesen Abszess“, innerhalb von drei Tagen zu beseitigen. Mit andern Worten: Die Alliierten ins Meer zu werfen.
Tausende sterben auf beiden Seiten. Schliesslich gewinnen Briten und Amerikaner die Oberhand. Den Deutschen gelingt es nicht, die Alliierten aus Anzio zu vertreiben – und den Alliierten gelingt es nicht, Monte Cassino einzunehmen.
Neuer Rückschlag in Monte Cassino
Sie, die Alliierten stehen unter Zeitdruck. Sie sollten Truppen aus Italien abziehen, nach England transportieren, um sie für die geplante Invasion in der Normandie („D-Day“) einsetzen zu können. Laut dem von Roosevelt, Stalin und Churchill festgesetzten Plan, hätten die Alliierten viel schneller vorstossen sollen. Ziel war es gewesen, Rom schon im März oder April zu erobern. Doch der deutsche Widerstand war stärker als erwartet.
Und wieder Monte Cassino, und wieder ein alliierter Rückschlag. Jetzt, am 15. März, werden tausend Tonnen Bomben abgeworfen, 1‘200 Granaten werden abgeschossen. Zwar gelingt es indischen und neuseeländischen Soldaten einen Teil von Cassino-Stadt zu erobern.
Doch am strategisch wichtigen Klosterberg scheitern sie erneut. Die Deutschen wehren sich und werfen die anrückende 4. indische Division zurück. Die Kämpfe dauern bis zum 23. März. Stürme ziehen auf, es regnet, Hunderte Inder sterben, die Alliierten geben auf.
"Roter Mohn am Monte Cassino"
Beide Armeen legen eine Kampfpause ein. Kesselring zieht an der Gustav-Linie seine 23 Divisionen auseinander. Er weiss nicht, wo die Alliierten die nächste Grossoffensive starten.
Am 11. Mai um 23.00 Uhr nachts beginnt sie. Polnische Truppen bezwingen den Klosterberg. Nach erbitterten Gefechten erobern sie die Ruinen des Klosters und hissen die weiss-rote polnische Flagge. Die Deutschen sind erschöpft. Das polnische Lied Czerwone maki na Monte Cassino„ (Roter Mohn am Monte Cassino“) ehrt und glorifiziert noch heute die polnischen Soldaten.
Kesselring gibt am 17. Mai auf. Am 18. Mai schwenken die Deutschen die Weisse Fahne. 100 deutsche Fallschirmjäger werden gefangen genommen. Am 25. Mai zieht sich die deutsche Armee von der Gustav-Linie zurück.
55‘000 Alliierte und 20‘000 deutsche Soldaten sterben im Kampf um Monte Cassino.
Die Schlacht um Anzio
Am 23. Mai beginnt die Schlacht um Anzio. Amerikanische und britische Einheiten versuchen den deutschen Riegel zu durchbrechen. Die Verluste sind auf beiden Seiten hoch. Schliesslich gelingt es den Alliierten Verbänden, die Deutschen zurückzudrängen und mit den vorrückenden Amerikanern Kontakt aufzunehmen.
Die Kämpfe um Anzio fordern etwa 22‘000 Tote (12‘000 auf alliierter und 10‘000 auf deutscher Seite). 40‘000 Soldaten werden verwundet.
Am 2. Juni ist der deutsche Widerstand endgültig gebrochen. Am 4. Juni um 19.15 Uhr rücken die Amerikaner und kurz darauf die Briten auf der Piazza Venezia in Rom ein.
Vier Tage später, am 6. Juni, beginnt die alliierte Landung in der Normandie.
Die Toten im Internet
Noch heute können deutsche Befestigungsanlagen entlang der ehemaligen Gustav-Linie besichtigt werden. Das Kloster Monte Cassino ist längst wieder eine Touristenattraktion. Am Klosterberg befindet sich ein polnischer Soldatenfriedhof mit über tausend Gefallenen.
Und Anzio ist ein eher verschlafenes Städtchen wie Hunderte andere in Italien. Ein Fähre führt vom malerischen Hafen auf die Insel Ponza, wo Mussolini kurz nach seinem Sturz einige Tage lang verbannt wurde - bevor man ihn über La Maddalena auf Sardinien in die Abruzzen verlegte. In den Cafés und Restaurants auf der hübschen Hafenpromenade sitzen Touristen. Die meisten haben keine Ahnung, was hier vor 70 Jahren geschah.
Friedhöfe rund um die Stadt zeugen von einem der blutigsten Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Nahe von Nettuno befindet sich ein amerikanischer Soldatenfriedhof mit über tausend Getöteten. Der britische War Cemetery nördlich von Anzio wird von „Commonwealth War Graves Commission” gepflegt. 1,7 Millionen Menschen aus den Commonwealth-Staaten sind in den zwei Weltkriegen gefallen. Die War Graves Commission kümmert sich um ihre Gräber.
Im Internet sind - dem ABC nach geordnet - alle Namen und Todestage der gefallenen Briten bei Anzio aufgeführt. Klicken Sie HIER. Der Friedhof war kurz nach der Landung der Alliierten angelegt worden. Über 100 Tote konnten nicht identifiziert werden. “Known unto God” bezieht sich auf die Apostelgeschichte 15:18. “Known unto God are all his works from the beginning of the world.“