In Bregenz dreht sich einen Monat lang alles um die Festspiele, zu Lande – und auf dem See. Künstler aus aller Welt gehören zum Ensemble, so auch Yi-Chen Lin aus Taiwan.
Sie wirkt so jung und grazil, dass man auf den ersten Blick kaum glauben kann, dass Yi-Chen Lin sogar grosse Orchester souverän durch einen Opern- oder Konzertabend führen kann – und zwar als Dirigentin. In den nächsten paar Wochen tut sie dies in Bregenz, wo sie die Hälfte der Vorstellungen von «Madame Butterfly» dirigieren wird, abwechselnd mit Enrique Mazzola. «Madame Butterfly» ist die grosse Hauptproduktion auf der Seebühne mit fast 6'700 Zuschauern pro Abend.
Die Probe ist gerade vorüber, wir treffen uns in einem Raum mit grandiosem Blick auf das geniale Bühnenbild dieser «Madame Butterfly»: ein achtlos hingeworfenes Blatt Papier, das auf dem See schwimmt. Riesengross. Yi-Chen Lin hat schon im vergangenen Jahr Erfahrungen mit der Seebühne und dieser Butterfly-Inszenierung sammeln können und freut sich, ein zweites Mal hier zu sein. «Beim zweiten Mal ist man entspannter», sagt sie. Und trotzdem noch so frisch wie das erste Mal?
Distanz zur Bühne
«Sehr frisch» betont sie und lässt gar nicht erst den geringsten Zweifel aufkommen. «Inzwischen ist ja ein Jahr vergangen und vieles ist passiert. Man hat Abstand bekommen und entdeckt immer wieder Neues in der Partitur: ein Pünktchen hier, ein Legato da, man kann es immer noch verfeinern, aber natürlich sind wir an die Produktion gebunden.» Hat aber vielleicht der Regisseur seit dem letzten Sommer etwas an der «Madame Butterfly» geändert? «Wenig», sagt Yi-Chen Lin. Andreas Homoki, der Intendant des Zürcher Opernhauses, der in Bregenz Regie führt, habe sehr klare Vorstellungen und dabei bleibt es.
Und wie ist es, wenn man sich mit einem anderen Dirigenten die gleiche Produktion teilt? Muss man sich da erst mal zusammenraufen? «Enrique ist der erste Dirigent und ich richte mich teilweise schon nach seiner Interpretation, damit das Orchester nicht irritiert wird», sagt sie. «Aber ich kann es nicht eins zu eins machen, ich bin ja eine andere Person.»
Sehr gewöhnungsbedürftig sei es am Anfang für sie gewesen, zwar mit dem Orchester zusammen zu sein, aber weit weg von der Bühne und den Sängern. «Als ich es – dirigierend – das erste Mal bei einer der letzten Proben erleben durfte, war alles schon festgelegt. Ein bisschen hatte ich mir schon Sorgen gemacht … und dann war tatsächlich manches einfacher, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Übertragungs-Technik ist so perfekt, dass man nicht das Gefühl hat, keinen Kontakt zu den Sängern zu haben, sondern ganz im Gegenteil. Ich höre sie über den Lautsprecher teilweise sogar besser. Das funktioniert sehr gut.
Was uns allerdings etwas fehlt, das ist das Publikum! Mir fehlt der Kontakt zum Publikum fast mehr als zu den Sängern. Man spürt ja in jeder Vorstellung die Stimmung und reagiert je nachdem darauf. Aber als Dirigent oder Dirigentin spüren wir das Publikum erst am Schluss, wenn wir zum Applaus rausgehen, sonst kriegen wir nichts mit, nicht mal Szenenapplaus …» Aber dafür auch keine Buhs …? Yi-Chen Lin lacht … «Nein! Wir hatten standing ovations!!!»
Von Taiwan über Wien nach Zürich
Yi-Chen Lin stammt aus Taiwan, ist 37 Jahre alt und spricht makellos Deutsch. Schon mit drei oder vier Jahren hat sie als Kind einer Musikerfamilie mit Klavier und Geige angefangen. Genau wie ihre Schwester. «Das war damals unser Spielzeug, und irgendwann ging das nahtlos ins Berufliche über. Meine Eltern hatten sich in Wien kennengelernt, deshalb wollte meine Mutter mit uns wieder für zwei Jahre nach Wien. Dann sind wir geblieben und haben angefangen zu studieren.»
Weil sie beim Zusammenspiel mit der Schwester immer wieder mal die Noten verloren hätte, habe die Mutter gemeint, so gehe das nicht, sie solle halt die Stücke auswendig lernen. Gesagt – getan. «Als wir dann mal ein Konzert in Amerika gegeben haben, sagte ein Dirigent zu mir: Du musst unbedingt dirigieren. Er gab mir ein paar Unterrichtsstunden und als ich 17 war, dachte ich, hmmm … vielleicht wäre das tatsächlich etwas. So kam die Idee zum ersten Mal auf.»
Geige hat sie bereits in Salzburg studiert und dort auch ihren Mann kennengelernt, der dann zum Tonhalle-Orchester nach Zürich kam und dort Konzertmeister ist. So oft sie konnte, sass Yi-Chen Lin in seinen Proben, hörte gut zu und spielte selbst auch sowohl im Opernhaus- als auch im Tonhalle-Orchester. «Also die Zürcher Orchester haben mich in ihrer Arbeitsweise sehr geprägt», sagt sie, wobei sie neben dem Studium in Wien auch dort ständig in der Oper sass oder bei den Wiener Philharmonikern und Symphonikern zuhörte.
Freiberuflich als Dirigentin
Inzwischen gibt sie selbst den Takt an und war bis vor kurzem Kapellmeisterin an der Deutschen Oper in Berlin. Mittlerweile hat sie eine kleine Tochter und ist freiberuflich als Dirigentin unterwegs, was organisatorisch auch nicht immer einfach ist. Aber den Wohnsitz hat sie nun wieder in die Schweiz verlegt und freut sich sehr auf mehr Familienleben. «Wir managen das gemeinsam und die Tochter kommt auch gern in die Proben.»
Während noch vor wenigen Jahren eine Frau am Dirigentenpult zumindest ungewohnt war und manche, vor allem männlich geprägte, Orchester sich mit einer Maestra schwertaten, hat sich das inzwischen geändert. «In den Orchestern spielen ja auch viele junge Musiker mit, die neue Generation sieht das anders», sagt Yi-Chen Lin. «Da spielen inzwischen Musiker und Musikerinnen, die teilweise zehn Jahre jünger sind als ich. Wenn der Generationenwechsel vollzogen ist, dann sollte es kein Thema mehr sein, ob eine Dirigentin oder ein Dirigent am Pult steht.»
Breites Repertoire
Auch wenn die «Madame Butterfly» zu ihren Lieblings-Opern zählt, ist sie offen gegenüber fast allem, was sie dirigieren könnte. Nur beim Barock hält sie sich zurück. «Ich denke, da müssen Spezialisten ran, die sich in der historischen Aufführungspraxis auskennen. Das erfordert viel Forschung und spezifisches Wissen. Ansonsten halte ich mich an das gesamte Repertoire in Sinfonik und Oper, denn ich finde, wenn man noch relativ jung ist, sollte man vieles ausprobieren. Ich mag auch sehr die Wiener Klassik, Sinfonien von Haydn, Mozart oder Beethoven. Da fühle ich mich zuhause.» Und Zeitgenössisches? «Auch! Ich bereite gerade ein Konzert in Teneriffa vor mit einem spannenden Werk, das heisst ‘subito con forza’ und stammt von der koreanischen Komponistin Unsuk Chin. Ein wunderbares Stück!»
Wie geht sie überhaupt um mit diesen zeitgenössischen Kompositionen, bei denen die Partitur eher einer Grafik ähnelt als einem Notenblatt. Wie kann sie das lesen und musikalisch umsetzen? «Das geht», sagt sie ganz dezidiert. Und macht dann doch eine kleine Einschränkung: «Also ich habe gerade kürzlich ein Stück aufgeführt, da gab es vom Komponisten dreissig Seiten Erklärung dazu … da werde ich schon stutzig … Eine Erklärung mit tausend Bildern. Es wurde eine Partitur geschaffen, die auf dem Papier Formen ergibt. Da denke ich: Schön und gut – aber das Publikum wird dieses Bild nicht hören, da habe ich meine Probleme. Also Vorstellungskraft muss man als Dirigent schon haben.» Und als Dirigentin erst recht …
Herausforderungen
Und wie ist es, immer wieder vor einem neuen Orchester zu stehen, das man noch nicht kennt? «Das ist bei jedem Orchester anders. Man muss es relativ schnell spüren. Wenn man vor das Orchester tritt, wird man von den Musikern sofort ‘gescannt’. Jedes Mal ist die Chemie etwas anders. Man hat ja seine Ideen für ein bestimmtes Stück und versucht, diese Idee zu vermitteln.» Dann sagt sie mit einem kleinen Lächeln: «Am besten so, dass das Gegenüber die Idee versteht … Das klappt nicht immer. Es ist ja auf jeden Fall eine Stresssituation, wenn man zum ersten Mal vor hundert fremden Menschen antreten muss. Ich freue mich aber immer, ein neues Orchester kennenzulernen.»
Neben den psychischen Herausforderungen ist Dirigieren aber auch physisch ganz schön anstrengend. Stundenlang stehen, voll konzentriert auf die Noten und die hundert Musiker und gleichzeitig immer mit den Armen in Bewegung. Ein Kraftakt. «Naja, das geht schon ...», relativiert sie. «Aber wenn ich mir vorstelle, ich müsste dastehen und herumfuchteln ohne Orchester … dann würde ich das nicht schaffen!» Und dann erklärt sie: «Vom Orchester kommt Energie als Schall. Das ergibt einen Gegendruck, an den man sich sozusagen anlehnen und stützen kann. Sonst ginge das nicht. Ohne Musik würden auch die Musiker im Orchester das physisch nicht so lang aushalten. Und wenn ein Musiker dann vielleicht sogar noch ein schönes Solo spielt, dann boostert das geradezu auf und man hat unendlich Energie. Oft habe ich nach der Vorstellung das Gefühl, ich könnte das Ganze gleich noch einmal machen …!»
Stattdessen geniesst Yi-Chen Lin in nächster Zeit erst einmal ihr Zuhause im Aargau, wo sie sich besonders auf die vertraute Küche freut. Dann gibt es Asiatisches, aber auch Pasta oder Österreichisches. Und nebenbei kann sie sich dann schon auf die nächsten Engagements vorbereiten. Da steht «La Cenerentola» in Chicago an, Konzerte in Oslo, in Bochum und Dresden. «Und ich habe mein Debut in Taiwan, meinem Heimatland!» Und in der Schweiz? «Gar nichts!», bedauert sie. «Aber vielleicht ändert sich das ja noch. Ich würde gern einmal ‘zuhause’ dirigieren …»
Bregenzer Festspiele
19. Juli bis 20. August 2023
www.bregenzerfestspiele.com