Die Begegnung mit einer amerikanischen Reisegruppe in Mykene und ein Besuch im antiken Olympia geben Anlass, über das nachzudenken, was die Menschen über Jahrtausende verbindet.
Klytaimnestra, in ein dunkelblaues Gewand gehüllt, die Augen schwarz geschminkt, erwartet uns beim Löwentor. Ob sie es wollen oder nicht, die Blicke der Besucher heften sich für endlos scheinende Momente an ihre weinrot gefärbten Lippen, so dass der rührige Führer, einen verstohlenen Blick auf seine Uhr werfend, seine mit Namensschildchen gekennzeichnete Truppe immer wieder eindringlich zum Weitergehen auffordern muss.
Wir gehören nicht zu den Etikettierten und dürfen stehen bleiben. Dass Klytaimnestra Englisch spricht, eine Art kalifornischer Slang, erstaunt uns vorerst wenig, hat doch das Englische längst das Griechische, ja auch das Lateinische und sogar das Deutsche als Lingua franca abgelöst. Wieso also nicht auch hier in Mykene , der Stadt Agamemnons? Allerdings verstehen wir ihr beschwörendes Rezitativ kaum. Nur dass es um ein grosses, ja geradezu archetypisches Drama geht, können wir ihrer tragischen Stimmführung entnehmen.
Als wir auf der von grossen Steinplatten bedeckten Strasse vom Löwentor hinauf zur Burg gehen, verlieren wir sie aus den Augen. Ihre Stimme wird durch die dicken Mauern abgeschirmt, welche aus aufeinander geschichteten gigantischen, unbehauenen Steinbrocken gefügt sind. Wir wollen zuerst die am östlichen Rand der Stadt liegende geniale Wasserversorgung inspizieren, welche auch in Krisenzeiten die Bewohner der Stadt mit Wasser versorgte.
Auf dem Rückweg steht Klytaimnestra plötzlich wieder vor uns. Einen Arm weit von sich gestreckt wandelt sie durch ihren zerstörten Palast und spricht dabei zu einem Unsichtbaren. Ist es ihr Liebhaber Aigisthos, den sie vor der Rückkehr ihres Sohnes Orestes warnen will, oder bittet sie gar Göttervater Zeus um Vergebung für den Gattenmord an Agamemnon, der nach zehn Jahren endlich aus dem Krieg zurückgekehrt ist? Überhaupt, dieser Krieg um Troja, alles nur wegen ihrer Schwägerin Helena, Gattin des Bruders ihres Mannes Menelaos, die so viel schöner sein soll als alle Frauen der Achaier.
In der Hand hält die blau Gewandete einen Metallstab, an dessen Ende ein flaches schwarzes Kästchen befestigt ist, das sie beim Rezitieren beschwörend anstarrt. Für einen kurzen Augenblick sehe ich darauf einen braun gebrannten Mann in weissem T-Shirt vor einem weiten Sandstrand, an dem sich weiss schäumend die einlaufenden Wellen brechen. – «Schön, diese Selfie-Stecken», flüsterte mir beim Vorbeigehen ein Etikettierter zu, «der Erfinder – man sagt, es sei ein Chinese gewesen – ist damit schnell reich geworden.»
Plötzlich ist, wie von Geisterhand gelenkt, die laute Menschengruppe verschwunden, mit ihr auch Klytaimnestra. Vom Burghügel aus sehen wir einen weissen Bus vom Parkplatz langsam auf die Strasse rollen, die ins Tal führt.
Die heilige Stille wirkt zuerst wie ein Schock. Die wenigen übrig gebliebenen Besucher scheinen sich, falls wir ihnen zwischen den aufgetürmten Felsbrocken überhaupt begegnen, nur noch flüsternd zu unterhalten. Man glaubt sich in einer Kirche ohne Dach und spürt die Blicke der Götter auf sich, die aus dem blauen Himmel auf die uralte Stadt schauen, des Zeus und dessen kluger Tochter Athene, des kriegslüsternen Ares und der unnahbaren Artemis. In der Ferne, am Fuss der Hügel, auf denen die Stadt erbaut ist, taucht Poseidon aus den glitzernden Wassern der Bucht von Argos auf, als ob er dem Göttervater Zeus in Erinnerung rufen wollte, ohne ihn liessen sich im Land der Inseln und Meere keine Geschichten ersinnen.
Als eine ferne Stimme leise die Verse der Odyssee zu rezitiert beginnt («Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den es oft abtrieb vom Wege, seit Trojas heilige Burg er verheerte ....») meinen wir nun auch, zwischen den Mauern wie huschende Schatten die einstigen Bewohnerinnen und Bewohner zu sehen, welche hier vor mehr als dreitausend Jahren gelebt, geliebt, gelacht, gehofft und gelitten hatten, um schliesslich das Schicksal aller Sterblichen zu erleiden, den Weg über den Styx, der in den Hades führt.
Wahrscheinlich hat uns gerade das autistische Gehabe jener Touristen, welche – wie ich böswillig vermute – in zehn Tagen Europa zu erleben versuchen, davon eine halbe Stunde in Mykene, daran erinnert, dass die Menschen, welche in dieser einst mächtigen Stadt gelebt haben, uns sehr viel ähnlicher waren als wir glauben. Tatsächlich dürften deren Bedürfnisse, deren Stärken und Schwächen, deren Weisheit und Einfältigkeit kaum sehr verschieden gewesen sein von den unsrigen. Vielleicht gehört es zu den grossen Missverständnissen unseres Geschichtsunterrichts, dass wir hinter unseren Vorfahren, die sich zwar rein äusserlich in Kleidung und Wohnbedingungen von uns stark unterscheiden mögen, eine andere Menschennatur vermuten. Eitelkeit und Selbstinszenierung sind kein Privileg der Moderne; sie bedienten sich vor der Erfindung der Selfie-Kultur einfach anderer Mittel. Vor allem aber verbindet uns Menschen schon immer das Wissen um unsere Vergänglichkeit.
Und noch etwas geht mir durch den Kopf, als ich zuoberst auf dem Hügel stehe, wo einst die königliche Familie in ihrem dickwandigen Palast lebte: Die menschliche Gemeinschaft hat sich schon immer ihre Berühmtheiten geschaffen, ihre Royals und Stars, deren Geschichten, stellvertretend für das Schicksal der Tausenden Unbekannten, die Zeit überdauern sollten und so auch den «Gewöhnlichen» ein gewisses Mass an Unsterblichkeit sicherten. Der trojanische Krieg und ihre Helden waren der Stoff für die «Regenbogenpresse» jener Zeit. Daher spielt es auch keine Rolle, dass es die damit verbundenen Episoden, welche uns die Dichter überliefern, in exakt dieser Form in Wirklichkeit kaum je gegeben hat. Wichtig war nur: Die Protagonisten mussten mit allen menschlichen Tugenden und Lastern ausgerüstet sein, mit denen auch Jahrtausende später die Erfinder von TV-Serien ihre Süppchen kochen.
Ein paar Tage später, auf dem Weg nach Patras, von wo uns die Fähre nach Venedig bringen wird, besuchen wir Olympia . Auch hier kann man nicht anders, als über den Erfahrungsreichtum der Geschichte der menschlichen Hochkulturen staunen, deren Wurzeln viele tausend Jahre zurückreichen, und das Getöse unserer lauten, oft anmassenden Gegenwart relativieren. In der hügeligen Landschaft des Alphios-Tals, dessen besondere Atmosphäre sich auch heutigen Besuchern als sakrales Erlebnis offenbart, bauten schon im 4. Jahrtausend vor Christus Menschen ihre Wohnstätten.
Das Jahr 776 v. Chr. gilt als der offizielle Anfang der Durchführung fünftätiger heiliger Wettkämpfe, einer Tradition, welche sich im Laufe der Zeit aus einem lokalen Anlass zu einem das ganze antike Griechenland umfassenden Grossereignis entwickelte und erst im Jahr 393 n. Chr., als der römische Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion erhob und mit den heidnischen Festen aufräumte, zu seinem Ende kam.
Auf dem Gang durch das grosse Gelände, auf dem Ruinen aus mehreren Jahrhunderten stehen, zum Torbogen, der ins einstige Stadion führt, wo auf einer Laufbahn von 192 Meter Länge auch Wagenrennen stattfanden, versuche ich mir vorzustellen, wie es hier wohl während der heiligen Spiele ausgesehen haben mag. Ich glaube nicht, dass die heutigen Olympiaden dazu den rechten Vergleich ergeben, eher der Petersplatz in Rom an Ostern, Mekka während der Haddsch oder – in kleinerem Massstab – ein Wallfahrtsort wie Santiago di Compostela, Lourdes oder Einsiedeln.
Doch auch hier kann der Zeitgenosse nur staunend lernen, nicht nur was die Dauerhaftigkeit dieser Tradition angeht. – Welcher Anlass sonst kann es mit tausend Jahren aufnehmen? Bis das grösste Schweizer Fest dieser Art, das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest, sich damit messen könnte, müssten noch ein paar Jährchen vergehen. – Weit beeindruckender aber ist die Stärke der verbindenden Kraft, welche den antiken olympischen Feiern innewohnte. So ruhten während der Spiele sämtliche kriegerischen Auseinandersetzungen – und solche gab es im antiken Griechenland mehr als genug. Alle, auch die Vertreter erbitterter Kriegsgegner, der Messener und Spartaner zum Beispiel, welche sich während vielen Jahrhunderten bis aufs Blut bekämpft hatten (1), mussten sich im Stadion gegenseitig respektieren und ihre Fehden – auch ausserhalb von Olympia – ruhen lassen.
Gewiss, auch an den modernen olympischen Spielen – die ersten Sommerspiele fanden im Jahre 1896 statt – gibt es entsprechende Regeln, zumindest für den Austragungsort. Aber heilig sind sie nicht. Im Gegenteil, Politik und Geld spielen – und spielten schon – immer eine zentrale Rolle. Man erinnert sich an die politische Instrumentalisierung der Sommerspiele in Berlin (1936 ) durch die Nationalsozialisten, an das Attentat einer palästinensischen Terrorgruppe auf die israelische Delegation während der Sommerspiele in München (1972) oder an das in jüngster Zeit immer peinlicher gewordene Feilschen um Austragungsorte, das die Macht des Geldes über den olympischen Geist nur schlecht verhüllt.
Als ich vor den Trümmern des Zeustempels stehe und mich daran erinnere, wie alt diese Steine sind, stelle ich mir die Frage: Was ist von der zweieinhalb tausend Jahre alten Weisheit unserer Vorfahren geblieben? Haben wir seither bezüglich Weltfrieden überhaupt Fortschritte erzielt? Oder müssen wir uns den Frieden noch immer erträumen? – Zum Beispiel so: Olympische Spiele, während denen weltweit alle Waffen schweigen, die Staatschefs – befreundet oder verfeindet –, während der gesamten Spieldauer und ohne Handy als Zuschauer Seite an Seite sitzen und dabei nicht anders können, als ernsthaft miteinander zu reden.
(1) Siehe auch den Beitrag «Reise zum Hades»