Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie weit ein Mensch gehen kann, wenn er seine Nahrung selber transportieren muss und unterwegs auf keine zusätzliche Nahrungsquelle zurückgreifen kann?
Irgendwo in meinen persönlichen Notizen, welche sich im Laufe der Jahre in diversen Büros und später in Kartonschachteln auf dem Estrich meines Hauses angesammelt hatten, muss es eine kleine Rechnung zu dieser Frage geben. Ich erinnere mich nicht mehr an das genaue Resultat, aber die Antwort hing von der Beschaffenheit des Geländes und der Qualität des Weg- bzw. Strassennetzes ab sowie von der Frage, ob – wie in der Wüste – auch der Wasserbedarf mitzutragen sei. Immer betrugen die Distanzen höchstens wenige hundert Kilometer.
Wurden Tiere (Esel, Pferde, Kamele) für den Transport der „Betriebsmittel“ eingesetzt, welche natürlich ihrerseits aus den „Betriebsmitteln“ ernährt werden müssen, waren die Reichweiten zwar manchmal unwesentlich grösser. Die ersten Polarforscher haben sich solche Überlegungen zu Nutzen gemacht und auf ihre Expeditionen Schlittenhunde mitgenommen. Aber irgendwann waren auch deren Grenzen erreicht bzw. die Schlittenhunde aufgegessen und die Menschen auf ihre eigene Muskelkraft reduziert ...
Randbedingungen des menschlichen Überlebens
Schon immer waren Fragen dieser Art für das Überleben der Menschen in Extremsituationen ganz elementar, zum Beispiel in Hungersnöten, welche auch in Europa bis ins 19. Jahrhundert häufig gewesen sind und die mich als Kind bewegt und erschreckt haben. Ich erinnere mich an die naive Frage des in einer Zeit des effizienten Schienen-und Strassenverkehrs Aufgewachsenen, wieso man dann nicht einfach Nahrungsmittel aus Überschussregionen in die leidenden Gebiete transportiert hätte.
Erst viel später begann ich die Randbedingungen des menschlichen Überlebens VOR der Erfindung der Dampfmaschine und der Nutzung fossiler Energien zu verstehen. Nur auf dem Wasser waren die Energien für den Transport von Waren nicht prohibitiv gross. Dort konnte auch die Windkraft als natürliche Energiequelle angezapft werden, auf Flüssen die Strömung – zumindest stromabwärts.
„Nettoeffekt“
Auf dem Land hingegen war der Transport von Waren auf die Muskelkraft von Mensch und Tier angewiesen, und diese Kraft benötigte ihrerseits genau jenes Gut, nämlich Nahrung, welches zur Vermeidung von Hungersnöten zu transportieren gewesen wäre. Ferner ging es nicht nur darum, die Nahrung für den Hin- und Rückweg des Transporteurs mitzutragen, sondern zusätzlich – als „Nettoefekt“ – auch Nahrung für die Region, in der Hungersnot herrschte, was die anfangs erwähnten Distanzen schnell auf einen Bruchteil schrumpfen liess.
Kurz, eine Hungersnot im Tösstal liess sich in früheren Zeiten nicht durch einen entsprechenden Nahrungstransport im Emmental vermeiden, ganz abgesehen davon, dass wegen der Grossräumigkeit des Klimas Hungersnöte meistens in grösseren Regionen gleichzeitig aufgetreten waren.
Ein Aderwerk
Selbstverständlich waren sich die Menschen der oben skizzierten Bedingungen ihrer Existenz immer bewusst – auch ohne gelehrte Rechnungen. Sie wussten auch, dass über grössere Distanzen Warentransport nur auf dem Wasser möglich ist. Das Meer und die Flüsse haben die Besiedlungsentwicklung des Menschen bestimmt. Die Flüsse verlängerten die Vorteile des Wassertransports weit ins Land hinein. War die Strömung moderat, liessen sich durch das Treideln, d.h. durch das Ziehen von Schiffen durch Mensch oder Tier vom Land aus, Waren auch stromaufwärts transportieren.
Doch der Mensch erträumte sich mehr: Ein Fluss bildet ein Aderwerk, d.h. ein System von Wasserläufen, die alle zum Hauptstamm hinlaufen und nur über diesen miteinander verknüpft sind. Solche Systeme werden erst dadurch zu einem Netzwerk, wenn es gelingt, künstliche Kanäle zwischen verschiedenen Flüssen über Wasserscheiden hinweg zu bauen.
Le Canal d’Entreroches
In Europa weckten zwei Barrieren besondere politische Träume, die eine zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik, die andere zwischen dem Atlantik und dem Schwarzen Meer.
Die erste Wasserscheide überwanden die Franzosen Mitte des 17. Jahrhunderts durch den Bau des Canal du Midi zwischen Sète und Toulouse. (Ironie der Geschichte: Auch die Schweiz hätte Ort einer solchen Verbindung werden können: Gefördert durch die Holländer, welche den durch Spanien beherrschten Weg über Gibraltar umgehen wollten, entstand zwischen dem Neuenburger- und Genfersee der Canal d’Entreroches als Teil einer nie vollendeten Verbindung zwischen dem Hochrhein und der Rhone. Doch darüber ein andermal.)
Der Karlsgraben
Hier geht es um das zweite transeuropäische Projekt, die Verbindung zwischen Rhein und Donau. Schon Ende des 8. Jahrhunderts wurde im Auftrag von Karl dem Grossen ein Wasserweg von der Altmühl (Seitenfluss der Donau) in die zum Einzugsgebiet des Main gehörende Schwäbische Rezat in Angriff genommen und wahrscheinlich auch vollendet. Die Fossa Carolina (Karlsgraben) darf man sich allerdings nicht als Kanal im heutigen Sinne vorstellen, denn die Erfindung der Kammerschleuse war noch viele hundert Jahre entfernt. Der „Wasserweg“ bestand aus einer Reihe hintereinander liegender kanalförmiger Teiche auf unterschiedlichem Niveau, zwischen denen die Schiffe über kurze Rampen von einem Teich zum nächsten gezogen worden sind.
Wir wissen wenig darüber, wie der Karlsgraben tatsächlich genutzt worden ist und wie lange er im Gebrauch stand. Jedenfalls versank die Idee einer Verbindung zwischen Donau und Rhein schon bald wieder im Dunkel der europäischen Geschichte. Erst im 17. Jahrhundert erfuhr sie durch die Stadt Nürnberg eine Wiedergeburt, doch Elend und Armut nach dem Dreissigjährigen Krieg beendeten den Traum wieder, bevor er richtig geboren worden war.
Der Ludwig-Donau-Main-Kanal
Nochmals vergingen Jahrhunderte, bevor um 1835 der bayrische König Ludwig I., inspiriert durch die Kanalbauten in Frankreich, den Auftrag für den Bau eines Kanals von Bamberg nach Kelheim gab. Der Ludwig-Donau-Main-Kanal, wie man ihn nannte, wurde nach zehnjähriger Bauzeit 1846 eröffnet. Er war 177 km lang und hatte 100 Schleusen, welche Platz boten für durch Pferde gezogene Kähne (32 m lang, 4,5 m breit, Tiefgang etwas mehr als einen Meter). Die Schiffe erlaubten eine Zuladung von maximal 100 Tonnen, eine für die damalige Zeit respektable Menge. Über Land hätte ein einzelnes Pferd kaum ein Tausendstel davon transportieren können.
Schon um 1850 erreichte das jährliche Transportvolumen 200'000 Tonnen, doch dann ging es wegen der wachsenden Konkurrenz durch die Eisenbahn bereits wieder bergab. Der Kanal überlebte zwar den 2.Weltkrieg, nur wenig beschädigt, doch 1950 wurde er wegen seiner mangelnden Leistungsfähigkeit aufgegeben. Zuvor hatte er lediglich noch für den Transport von Holz und Steinen gedient. An einigen Stellen wurde der Kanal zugeschüttet und das Land für andere Projekte genutzt, so in der Nähe von Nürnberg für den Bau einer Autobahn. Anderswo sind Kanal, Schleusen und die schmucken Schleusenhäuser bis heute erhalten geblieben.
Für Schiffe der Europa-Klasse
Ein wichtiger Grund für den raschen Verzicht auf den Ludwig-Donau-Main-Kanal war ein seit dem Ende des 19. Jahrhunderts existierender Plan für den Bau eines neuen, für weit grössere Schiffe geeigneten Kanals, welcher nicht nur das Herzstück zwischen Bamberg und Kelheim, sondern auch den Ausbau der angrenzenden Flüsse umfasste, d.h. den Ausbau des Main bis Bamberg und der Donau von Kelheim bis zur österreichischen Grenze. Mit diesen Arbeiten war bereits in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts begonnen worden. Nach einem Unterbruch der Bautätigkeit während des 2.Weltkrieges wurde der Ausbau des Main bis Bamberg 1962 vollendet.
Unterdessen wurde das Kanalprojekt zwischen Bamberg und Kelheim neu konzipiert und auf die damals sich durchsetzende europäische Norm für Schiffe der Europa-Klasse ausgerichtet. Der neue Kanal sollte, mit Ausnahme des Stückes zwischen Nürnberg und Berching, dem alten Ludwig-Donau-Main-Kanal folgen, eine Länge von 171 km haben und die europäische Wasserscheide auf einer Höhe von 406 m überwinden. Frachtschiffe von bis zu 110 m Länge und 11,4 m Breite und einer Ladekapazität von 3000 Tonnen sollten darin verkehren, in speziellen Fällen sogar Schubverbände bis zu 185 m Länge.
Rentabilität angezweifelt
Die insgesamt (nur!) 16 Schleusen (11 auf der Seite Main, 5 auf der Seite Donau) sollten 200 m lang und 12 m breit sein. Die kleine Zahl von Schleusen sollte die Fahrzeit der Schiffe verkleinern. Deren grosse Hubhöhe von bis 23,5 m stellte umgekehrt ein grosses Problem für die Wasserbauer da, verbrauchen sie doch für einen Füll-Entleerungszyklus eine Wassermenge von bis zu 57'000 Kubikmeter Wasser. Man entwickelte daher ein ausgeklügeltes Systems mit seitlichen Reservoirs auf verschiedener Höhe, aus welchen bei der Füllung der Schleuse das Wasser in die Schleusenkammer zurückgeführt werden kann. Damit liess sich der Wasserverlust auf weniger als die Hälfte verkleinern. Allerdings müssen trotz dieser Sparanstrengungen in das in einem relativ niederschlagsarmen Gebiet liegende Scheitelstück des Kanals grosse Mengen von Wasser aus der Donau hinaufgepumpt werden.
Der Bau des neuen Main-Donau-Kanals begann 1962. Zehn Jahre später war Nürnberg erreicht, doch danach verzögerten verschiedene Schwierigkeiten technischer und politischer Art den Weiterbau. Von Kritikern wurde die Rentabilität des Kanals angezweifelt und das anvisierte Transportvolumen von jährlich 10 Millionen Tonnen als unrealistisch bezeichnet. (Tatsächlich überschritt die Tonnage nur im Jahre 2000 den Wert von 8 Millionen Tonnen; seither sind die Zahlen tendenziell rückläufig und liegen heute bei 6 Millionen.)
1992 eingeweiht
Ferner regte sich der Widerstand von Seiten des Naturschutzes; man fürchtete vor allem eine Zerstörung des idyllischen Altmühltales. Ich erinnere mich an eine Reise Mitte der Sechzigerjahre, als in den Dörfern überall Plakate mit Aufrufen zum Widerstand gegen den Kanalbau hingen. Der damalige Student hätte sich nie träumen lassen, dass der Kanal tatsächlich je vollendet werden würde und noch weniger, dass er ihn 50 Jahre später mit dem eigenen Schiff befahren würde.
Im März 1979 ereignete sich auf der Neubaustrecke zwischen Nürnberg und Roth ein Dammbruch, welcher das Dorf Katzwang fast vollständig zerstörte und ein Todesopfer forderte. Aus dem Kanal, der schon geflutet, aber noch nicht für die Schifffahrt frei gegeben war, ergossen sich damals über 300’000 Kubikmeter Wasser und zerstörten mehr als 200 Häuser.
Doch trotz dieser Rückschläge setzten sich die Befürworter des Kanalbaus letztlich durch. Endlich im Jahre 1992 konnte der neue Kanal eingeweiht werden, mehr als vierzig Jahre nach der Schliessung des alten Ludwig-Donau-Main-Kanals. So lange gab es keine europäische Wasserstrasse zwischen der Donau und dem Rhein.
Vom Rhein zum Schwarzen Meer
Es ist lehrreich, einen kurzen Vergleich zwischen dem deutschen und französischen Binnenwassertransport zu ziehen. Als der Ludwig-Donau-Main-Kanal gebaut wurde, war Frankreich bereits daran, sein Kanalnetz auf den grösseren Freycinet-Standard auszubauen, welcher Schiffe mit einer Ladekapazität von 250 Tonnen erlaubte. Dank dieser Massnahme überlebte in Frankreich die Binnenschifffahrt in kleinen Kanälen bis weit in die Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts, also viel länger als im alten Ludwig-Kanal. Dann aber ging es auch in Frankreich mit den kleinen Kanälen und ihren vielen Schleusen schnell bergab. Ein Projekt für den Ausbau des Rhein-Rhone-Kanals für die Grossschiffahrt zwischen der Saône und dem Rhein durch das Tal des Doubs kam, anders als im Fall der Verbindung zwischen Main und Donau, politisch bereits zu spät und wurde anfangs dieses Jahrhunderts definitiv beerdigt.
Die Hobby-Schiffer mögen der französischen Politik dafür danken, dass die vielen kleinen Kanäle überlebt haben. Umgekehrt hat der Bau des Main-Donau-Kanals nicht jene Katastrophe gebracht, die viele befürchteten. Man hat mit Erfolg beim Bau des Kanals viel für den Landschaftsschutz und die Ökologie getan. Es ist eine reizvolle neue Landschaft entstanden. Das denkt offenbar auch die jährlich wachsende Zahl jener Personen, welche auf Hotelschiffen vom Rhein in die Donau und bis ins Schwarze Meer fahren. An diese Art von Nutzung haben die damaligen Kanalbauer wohl kaum gedacht, genauso wenig wie die französischen Kanalbauer des 18. und 19. Jahrhunderts an die vielen begeisterten Bootstouristen.