Dem Lande fehlen Tausende von Lehrpersonen, und dies kurz vor den Sommerferien. Die Behörden zeigen sich überrascht. Wie aber konnte es so weit kommen? Eine Spurensuche.
Sie hätten den «schönsten, schwierigsten und schwersten Beruf der Welt», die Lehrerinnen und Lehrer, schreibt der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann in seinem heiter-klugen Essay «Die pädagogische Provinz». [1] Den schönsten Beruf! Warum aber laufen sie der Schule in Scharen davon? [2] Warum wollen immer weniger Lehrerinnen und Lehrer ein Vollpensum unterrichten und fliehen in Teilpensen? Im Kanton Luzern beispielsweise arbeiten zwei Drittel aller Lehrpersonen weniger als 50 Prozent. Und nur elf Prozent übernehmen ein Arbeitsvolumen von über 90 Prozent.
Es wird eng in der Schule
Warum dieser plötzliche Lehrermangel? Eine ebenso schwierige wie komplexe Frage. Schnelle Antworten gibt es viele – vor allem vordergründige: Pensionierungswelle, mehr Schülerinnen und Schüler, Flüchtlingskinder aus der Ukraine. Das alles mag stimmen; doch vieles hätten die Verantwortlichen antizipieren können. Die Devise «Gouverner c’est prévoir» würde sie dazu verpflichten. Die weiterführende Frage aber wird gar nicht gestellt: Warum dieser Exodus aus der Schule?
Vielleicht kann die grosse Flucht aus dem Schulzimmer in Teilen mit einem Satz des Schweizer Philosophen Hans Saner erklärt werden. Er schrieb, dass es wohl besser wäre, den Freiheitskonflikt zu wagen, als in der Konformität friedlich zu verkümmern. [3] Doch ob sich der Kampf gegen das System lohnt? Wohl kaum. Da gibt es nur das Gehen. Und viele gehen. Nicht wenige von ihnen nehmen das Wort von der fehlenden Freiheit in den Mund, Freiheit als Antonym zu den engen Vorgaben und Vorschriften im Unterrichtsalltag. Darin liege mit ein Grund für ihren Abschied aus der Schule.
Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit
Wer mit Schülerinnen und Schülern unterwegs ist, wer junge Menschen auf ihrem Lern- und Lebensweg begleitet, braucht Freiheit. Er braucht sie zum Unterrichten wie die Luft zum Atmen. Pädagogische Freiheit als Elixier. Doch es ist nicht die ungebundene, unkontrollierte Freiheit, die zügel- und schrankenlose, sondern die Freiheit von unnötigen Pro-forma-Vorschriften und formalen Vorgaben, von Normen und engen Direktiven. Nur so kann man im Unterricht adäquat reagieren.
Es ist die Freiheit zur Wahl des «méthodos», des Weges zum Ziel. Es ist die Freiheit zur Gestaltung des schulischen Auftrags und zum pädagogischen Wirken für die Kinder und Jugendlichen – zugunsten der Klasse, für die Lehrerinnen und Lehrer verantwortlich zeichnen. Und dieser Satz enthält das entscheidende Korrelat zur Freiheit: Verantwortung. Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Humane Energie kommt aus Freiheit. Darum darf sie in den Schulen nicht ersticken. Schule muss ein Ort der Freiheit bleiben. Man muss diese Freiheit aber immer wieder vom Sand freischaufeln, sonst bleibt sie nichts als versäumte Wirklichkeit.
Vorschriften über Vorschriften
Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist in der Praxis weit weniger populär, als die politische Rhetorik es suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt viele Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Wer die Schulen betrachtet, der weiss: Seit Jahren wird umstrukturiert. Eine Reform jagt die andere; und jede Reform bringt neue Vorschriften und Vorgaben, erzeugt zusätzliche Dekrete und Direktiven, produziert Papier und beansprucht Berichte. Darin liegt das Paradoxon: Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen pädagogischen Freiheit. Das bringt Schulen in Enge und Atemnot.
«Gute Pädagogik und Verwaltung vertragen sich nicht»
Ob Unterricht gelingt, ob die Schülerinnen und Schüler gerne in die Schule gehen, hängt von der Person der Lehrerin und des Lehrers ab, von ihrer vitalen Präsenz – ihrer Haltung. Nicht von der Anzahl der Vorschriften oder dem Umfang der Lehrpläne. Die Dichte der aktuellen Lehrpläne neigt eher dazu, die Freiheit zu beschränken. Der Lehrplan 21 beispielsweise schreibt über 2’300 kleinparzellierte Kompetenzstufen vor. Zu viele Weisungen lähmen den Geist und hemmen das Handeln. Zu viele Vorschriften strangulieren Spontaneität und ersticken Kreativität. Viele Lehrpersonen fühlen sich darum gefangen in den Tentakeln administrativer Fesseln mit ihrer lähmenden Wirkung. Sie beklagen das Korsett künstlich konstruierter Komplexität heutiger Schulwelten. «Schule in Ketten» resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre.
Das meint wohl Chantal Galladé, ehemalige Nationalrätin und Präsidentin einer Winterthurer Kreisschulpflege, wenn sie sagt: «Gute Pädagogik und Verwaltung vertragen sich nicht. Pädagogen sollten kreativ sein und gestalten können. Das bedingt Freiheit. Die Verwaltung hingegen will Dinge vereinheitlichen, durchorganisieren und reglementieren. Das passt nicht zusammen.» [4] Und hat Folgen, wäre beizufügen.
Verlangt ist die Rehabilitation des Lehrens und der Lehrer
Dazu kommt noch etwas: Die Rolle der Lehrerin, die Aufgabe des Lehrers hat sich verändert; sie ist dekonstruiert worden. Die unheilvolle Devise «Weg vom Lehren, hin zum Lernen», der «shift from teaching to learning», führte zur Dominanz des selbstregulierten Lernens. Die Verantwortung fürs Lernen liege beim einzelnen Kind, wird postuliert. Doch jede Form von Eindeutigkeit negiert die andere Seite. So sei die Lehrperson von einem «sage on the stage» zunächst zu einem «guide at the side» und dann zum blossen «peer in the rear» geworden – degradiert zum Coach an der Seitenlinie und zur Lernbegleiterin. [5] Das beklagt kein geringerer als der renommierte Philosoph und Bildungswissenschaftler Gert Biesta. Welche junge Person möchte lediglich Kinder begleiten – als «peer in the rear», als Kollegin im Heck?
Eine verantwortungsbewusste Bildungswissenschaft plädiert darum schon längst für ein Wiederentdecken und Wiedererrichten des Lehrens, für ein «re(dis)covery of teaching» [6] – in vitaler menschlicher Präsenz. «Das Lehren und der Lehrer müssen rehabilitiert werden», verlangt Biesta. Das gilt natürlich auch für die Lehrerin. Und dezidiert fügt er bei: Es braucht einen Lehrer, «der die Schüler aus ihrer aktuellen, jeweilig begrenzten Subjektivität und Situiertheit hinausführen» kann.
«Er war ein wunderbarer Lehrer»
Ob hier der Limes gegen die grassierende Flucht aus dem Schulzimmer liegt, lässt sich nicht sagen. Aber eine solche Sicht rehabilitiert mindestens die Rolle der Lehrerin, des Lehrers als Pädagogen, als «paid-agogein», die Kinder und Jugendliche führen. Vielleicht ist das ein erster Schritt gegen die unheilvolle Dekonstruktion dieses anspruchsvollen und schönen Berufs und ein Gegenhalten wider den Exodus aus dem Beruf.
Nochmals Thomas Hürlimann. Über seinen Musikpädagogen Pater Daniel Meier in der Klosterschule Einsiedeln schreibt er: «Er war ein wunderbarer Lehrer; er brannte für die Musik und steckte mit seinem Feuer uns Knaben an.» [7] Und noch etwas wissen wir von Thomas Hürlimann: Pater Daniel konnte in Freiheit arbeiten.
[1] Thomas Hürlimann (2008): Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand. Zürich: Ammann Verlag, p. 108f.
[2] Alessandra Paone: Es fehlen Tausende Lehrerinnen und Lehrer, in: Tages-Anzeiger, 07.06.2022, S. 5.
[3] Hans Saner (1979): Zwischen Politik und Getto. Über das Verhältnis des Lehrers zur Gesellschaft. 2. Aufl. Basel, S. 27.
[4] Rico Bandle: «Ich weiss, was die Integration eines Flüchtlingskindes bedeutet». In: SonntagsZeitung, 22.08.2021, S. 15.
[5] Ewald Terhart (2018): Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.
[6] Gert J. J. Biesta (2017): The Rediscovery of Teaching. New York: Routledge, S. 1.
[7] Thomas Hürlimann: Bringen wir den Ton zum Klingen! in: NZZaS, 25.10.2015, S. 71.