Zwei Ereignisse haben das Leben und das Werk von Antonio Saura tiefgehend gezeichnet: Krankheit und das faschistische Franco-Regime. Der 1930 geborene Spanier wurde 13jährig von einer Knochentuberkulose befallen und lebte fast während fünf Jahren ans Bett gefesselt. Er beschreibt sich selber als „aufmerksames, einsames Kind, eher schwächlich und mit schlechtem Charakter“.
Sicher ist, dass er schon früh kulturelle Interessen erkennen liess. Die Leidenszeit verbrachte er mit Büchern, Zeitschriften, Radiohören. Er erlebte auf diese Weise das gesellschaftliche und kulturelle Geschehen in seinem Lande und in der Welt. Nichts blieb ihm verborgen und nichts liess den Jüngling gleichgültig. Und in dieser Zeit fand er auch den Weg zu Kunst. Er entdeckt Reproduktionen surrealistischer Gemälde und entdeckt Picasso, Arp, Tanguy, Dali, Ernst und Klee. Schon bald begann er mit dem zeichnen und dichten.
Bereits 1951 findet in einer Madrider Buchhandlung und Galerie die erste Ausstellung statt. Er zeigt surrealistisch geprägte Bilder einer Traumwelt. Surrealismus und Dadaismus sind da nahe beieinander. Doch Saura entwickelt rasch einen eigenen Stil, seine eigene Bildsprache. Die kräftigen Pinselstriche, das Kantige, die oft alles verzerrenden Bildstrukturen, verleihen, noch verstärkt durch eine düstere Farbgebung, dem gesamten Zyklus eine ungewöhnlich starke Ausstrahlung. Schwarz, Weiss, Grau und Braun sind die Farbtöne, die Sauras Werk weitgehend kennzeichnen und so den Schmerz, die Not, die Einsamkeit des Menschen zutiefst fühl- und wahrnehmbaren machen. „Der menschliche Geist, zieht sich wie ein Leitfaden durch das gesamte Werk“, wie Matthias Frehner, Direktor des Berner Kunstmuseum festhält.
Er experimentiert mit neuen Techniken (u.a. „Grattagen“ bei Benutzung eines Fensterreinigungsinstrumentes) und versucht sich in „die wirkliche Landschaft des Unterbewussten“ vorzutasten. Vom Surrealismus wendet er sich bald einmal ab und seine Bilder lassen expressionistisch, revolutionär geprägte Züge erkennen. Matthias Frehner bezeichnet Saura als „Rebell“, als den er sich in seinen Kreationen später tatsächlich entpuppt.
Erste Retrospektive seit Sauras Tod
Antonio Saura gehört heute zu den ganz grossen Malern und Künstlern des 20. Jahrhunderts. Mit Picasso, Miro, Dali – um nur diese zu nennen - hat Saura die spanische Kunst und die moderne Kunst ganz allgemein und international entscheidend und nachhaltig mitgeprägt. Im Jahre 1998 verstarb Saura 68jährig an den Folgen einer Leukämie. Seither ist es um den Meister still geworden. Die breit angelegte und äusserst klug aufgebaute und gegliederte Berner Retrospektive ist international die erste seit dem Tode des Künstlers. Sie beinhaltet sämtliche Schaffensphasen und vermittelt ein eindrückliches, nahtloses Gesamtbild eines Werkes, das in seiner Einmaligkeit, durch die originelle Bildsprache, der überwältigenden Aussagekraft der Bilder eine nachhaltige Wirkung erzielt und Besucherinnen und Besucher zutiefst beeindruckt.
Er hinterlässt ein gigantisches und geniales Werk, das heute von Genf aus verwaltet wird, unter der Aufsicht von Marina Saura, Tochter des Malers, die übrigens auch aktiv bei der Berner Ausstellung mitwirkte und beim Katalog für die Dokumentation verantwortlich zeichnet. Der Künstler hat im Laufe der Jahre zahlreiche seiner Kreationen vernichtet. Allein etwa 200 in den Jahren 1965 und 1967. Die Retrospektive Antonio Saura im Kunstmuseum Bern bildet jedoch mit 200 Werken einen lückenlosen Überblick. Und sie ist eindeutig einen Höhepunkt der Ausstellungssaison und zwar nicht nur in Bern. Die Veranstaltung ist national und international auf grosses Interesse gestossen.
Die Ausstellung entstand in enger Zusammenarbeit mit der Fondation „archives antonio saura“ in Genf, deren Leiter Olivier Weber-Caflisch, zusammen mit dem Kurator Cäsar Menz, ehemaliger Direktor des Musée d’art et d’histoire von Genf, die Berner Retrospektive mitprägte. Und zusammen mit Matthias Frehner, Direktor des Kunstmuseums Bern wurde das ambitiöse Vorhaben verwirklicht. Auch das Museum Wiesbaden war ebenfalls massgebend beteiligt und übernimmt übrigens die Ausstellung im Anschluss an Bern. Alle haben mit hochkarätigen Beiträgen den reich illustrierten, äusserst originell gestalteten Katalog bereichert. Ein wertvoller Begleiter durch die Ausstellung ist entstanden. Eine bleibende Erweiterung der Retrospektive auch.
Menschen und Menschenmengen
Das Werk Sauras ist äusserst facettenreich und von grosser Komplexität geprägt. In den Gemälden findet der spanische Bürgerkrieg, den der Künstler in seiner Kindheit und Jugendzeit miterlebt hat, in seiner ganzen Brutalität und Unmenschlichkeit seinen Ausdruck. Das imposante Bild der Menschenmenge erinnert sowohl an einen Aufmarsch der Parteigenossen als auch an die aus dem Elend und der Unterdrückung aufschreiende Masse. Und aus jedem Gesicht schaut die widerliche Fratze des Faschismus hervor. Die Kritik am Franco-Regime trägt die Züge des Existenzialismus eines Jean-Paul Sartre.
Der Spanier hatte sich mit dem französischen Philosophen sehr eingehend auseinandergesetzt und stand ihm sehr nahe. Auch an einen Albert Camus hatte Saura wohl gedacht als er dieses Menschenbild schuf. Neben literarischen Referenzen sind auch die malerischen offensichtlich wie in einem grossen Teil von Sauras Werk. In den erwähnten Beispielen lassen sich Referenzen an Edvard Munch (1863 –1944) und James Ensor (1860 –1949) kaum übersehen. Vielfach übernahm Saura die Thematik anderer Künstler, rückte sie in neue Dimensionen und verlieh ihnen eine neue, eigene Aussagekraft.
Interessant ist der Bilderzyklus der das menschliche Gesicht und die menschliche Gestalt in den Mittelpunkt rückt. Eine ganze Reihe von Selbstbildnissen steht im Vordergrund. Saura holt sich beispielsweise aber auch Vorbilder bei Rembrandt oder Frans Hals. Es sind vor allem Damen, die ihn faszinieren. Mit oder ohne Hut. Bei Picasso hatte es ihm das Portrait von Dora Maar angetan. Er setzte sich eingehend mit dem Bild auseinander und vor allem nimmt er das Bildnis „aus-einander“. Der Kurator Cäsar Menz erklärt die Wandlung wie folgt:“ Die Dekonstruktion des menschlichen Gesichts auf Picassos berühmten Gemälde nimmt Saura zum Anlass, die Struktur in neuen möglichen Facetten abzuwandeln und aufzulösen. Nur der Hut der Dame bleibt als Zitat und Referenzpunkt bestehen“. Ein anschauliches Beispiel von Sauras typischem Kunstverständnis.
Sauras Kreuz
Dieser Stil und dieser Geist prägen ebenfalls die eindrucksvolle Werkreihe der Kreuzigungen. Saura erinnert sich, wie er an der Hand des Vaters im Prado in Madrid von den Gemälden grosser Meister wie Diego Velazquez, Goya usw. tief beeindruckt war. „Seit meiner Kindheit hat mich der im Prado befindliche Christus von Velazquez beschäftigt“, präzisiert er weiter. Ebenso beeindruckt war er vor dem Bild des Isenheimer Altares von Matthias Grünewald im Unterlinden-Museum in Colmar gestanden. Die beiden Werke dürfen wohl als Ausgangspunkt von Sauras Kreuzigungen angesehen werden. Seine Bilder weichen allerdings von den üblichen Kreuzigungen grundlegend ab. Die Darstellungen wirken oft schockierend und abweisend. Auf eine eigentliche religiöse Aussage hat der Künstler bewusst verzichtet. „Wenn jedoch jemand in einen meinen Bildern einen sakralen, einen religiösen Inhalt sieht, bin ich sehr zufrieden“, präzisiert Saura.
Wie Cäsar Menz in seinem Beitrag im Ausstellungskatalog festhält, „hat das Bild des Gekreuzigten bei Saura einen eminent symbolischen Charakter“. Es wird zum Zeichen der Verlorenheit und Verzweiflung des Menschen in einem angstvollen und von Ungerechtigkeit geprägten Dasein.“ Und Saura selber umschreibt den Sinn wie folgt: „Im Bild eines Gekreuzigten spiegelt sich möglicherweise meine eigene Lage wider, diejenige eines einsamen Menschen mitten in einer bedrohlichen Welt, der man mit einem Schrei begegnet“. Für den Künstler „ist der Christus am Kreuz kein Gott, sondern ein Mensch. Damit wird er zu einem zeitlosen Symbol menschlichen Leidens und zugleich ein Zeichen des Protestes in der Sprache der Moderne gegen den Schmerz, den Menschen anderen zufügen“.
Sauras Hund
Saura kannte die Literatur und die Kunstgeschichte wie kaum ein anderer Künstler und er wusste immer direkte Zusammenhänge, ja eine Art Vernetzung mit seinem eigenen Schaffen herzustellen. Dies ohne seinen eigenen Kreationen die Eigenart, das Besondere wegzunehmen, ohne den persönlichen Stil seiner Ausdrucksformen zu übertünchen. Und auch mit grossem Respekt und höchster Wertschätzung dem „Vorbild“ gegenüber. Es entstand stets eine Art „Mehrwert“. Eine Hommage an den Meister, der ihm die Anregung zu Neuem gab, Anregung zur Weiterentwicklung, zur Entwicklung eigener visueller Welten. So beispielsweise auch das Bild von Goyas Hund. Es ist kein Zufall, bekundet doch Saura immer wieder eine Tiefe Verbundenheit mit Goya und seine Verwurzelung in der Spanischen Kunst. Der Hund hat seinen Platz in einer Wandmalerei, die der Meister in seinem Landhaus bei Madrid zwischen 1820 und 1823 für sich allein geschaffen hatte.
Der Hund hatte es Saura speziell angetan. Hinter einer Düne oder einem Erdwal taucht der Hundekopf hervor. Er schaut traurig in die Welt. Ein Bild des Verlorenseins. „Der auftauchende Hundekopf – das Bild unserer Einsamkeit – ist jedenfalls nichts anderes als Goya selbst“, schreibt Saura, der sich auch in vielen Texten eingehend mit dem geheimnisvollen Bild befasst. Über Jahre hinweg wurde das Tier sein treuer Begleiter. Goyas Hund wurde Sauras Hund. Davon zeugen unzählige Bilder. Einige hängen in Bern. Sauras Stil, die dunklen Farben, die Struktur des Gemäldes, der Blick des Hundes geben ein überwältigendes, starkes Bild. Nicht der Hund ist verlassen und sucht verzweifelt nach einer streichelnden Hand und wartet auf ein paar liebe Worte, sondern der Mensch.
Sauras Pinocchio
Der Spanier war äusserst vielseitig tätig. 1959 realisiert er erstmals Skulpturen. Er schweisst diverse Eisenstücke zusammen und es entstehen verblüffende Gebilde, die an Jean Tinguely oder Bernhard Luginbühl erinnern. Fünf Plastiken haben in der Berner Ausstellung einen Platz gefunden. Sie sind erstmals zu sehen. Saura war auch schriftstellerisch tätig. Er hat sich zur Kunst ganz allgemein und zu Künstlern aller Zeiten geäussert. Er hat auch regelmässig seine eigenen Arbeiten kommentiert. Die Texte wurden in einem umfangreichen Band gesammelt und zeitgleich zum Ausstellungskatalog von der Genfer Saura Stiftung aufgelegt. In einem anderen Buch befasst er sich mit übermalten Bildern und Zeichnungen mit der Berliner Mauer.
Ein separates und ungewöhnliches Kunstwerk für sich ist sicher die Illustration einer neuen Version von Pinocchio. „Der neue Pinocchio“ der Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger ist nun bei Hatje Cantz in einer deutschsprachigen Ausgabe erschienen. Sauras Illustrationen sind einzigartig und überraschen durch die bunten Farben, ein Kontrast zu den düsteren Tönen seiner Gemälde. Er wusste hier der Fröhlichkeit und dem Humor auf geniale Weise voll zum Durchbruch zu verhelfen. Erwähnung verdienen auch die Bühnenausstattungen für Theater, Ballet und Oper. Vor allem die Inszenierung von Georges Bizets Oper „Carmen“ in der Staatsoper von Stuttgart. Mit seinem Bruder Carlo Saura und Luis Garcia Navarro. Spuren dieser ungewöhnlichen und eher unbekannten Schaffens-Seiten fehlen in der Ausstellung in Bern nicht.
Kunstmuseum Bern, Hodlerstrasse 8 , Mi.-So: 10.00 – 17.00 Uhr, Di.: 10.00 – 21.00 Uhr. Montag geschlossen. Bis 11. November 2012.
Museum Wiesbaden, 30. November 2012 bis 24. März 2013