Am Abend des 26. Mai 1789 hielt Friedrich Schiller an der Universität zu Jena seine Antrittsvorlesung: «Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?» So lautete die weit ausgreifende Fragestellung, die Schiller später als Titel setzte. Das Auditorium war hoffnungslos überfüllt, schon zogen ganze Trauben von Studenten enttäuscht ab. Als man sich endlich zum Wechsel in einen grösseren Raum in einem anderen Gebäude entschied, rannte die Menge los. Schiller berichtete darüber brieflich an Christian Gottfried Körner: «Weil sie liefen, was sie konnten, um im Griesbachschen Auditorium einen guten Platz zu bekommen, so kam die Strasse in Alarm, und alles an den Fenstern in Bewegung. Man glaubte anfangs, es wäre Feuerlärm, und am Schlosse kam die Wache in Bewegung. Was ist’s denn, was gibt’s denn? hiess es überall. Da rief man denn: der neue Professor wird lesen...»
Was im Revolutionsjahr 1789 die Jenaer Studenten in Erregung versetzte, scheint auch heute zu ziehen: Geschichte als Welterklärung. Schiller sagte in seiner Antrittsvorlesung wenig über Geschichtswissenschaft. Ihm ging es um die Haltung der wissenschaftlichen Wahrheitssuche, den aufklärerisch-kritischen Forschergeist. Er stellte den akademischen Nachwuchs vor die Wahl, entweder «Brotgelehrte» oder «philosophische Köpfe» zu werden, von der Wissenschaft oder für die Wissenschaft zu leben, nach sicherem Auskommen zu trachten oder die Welt verstehen zu wollen.
Geschichte als akademische Königsdisziplin
Geschichte war neben der Philosophie damals diejenige akademische Disziplin, welche dem geistigen Überschwang des Idealismus Schillerscher Prägung am weitesten offen stand. Als Wissenschaft von der Wirklichkeit und ihrem Zeitablauf wurde Geschichte zur akademischen Königsdisziplin des Weltverstehens. Deshalb hat zu dem, was man seit dem Zeitalter des Bürgertums umfassende Bildung nennt, immer ein Fundus historischen Wissens und die Fähigkeit des Denkens in geschichtlichen Kategorien gehört.
Die enge Koppelung von Bildung und geschichtlichem Interesse besteht auch heute. Historische Sachbücher sind gefragt, Romane und Filme über historische Themen finden grosses Interesse, und im Zeitschriftenmarkt haben auf Geschichte spezialisierte Magazine sich etabliert. Die deutschen Wochen-Titel «Der Spiegel» und «Die Zeit» haben seit längerem je ein Geschichte-Magazin, sechs beziehungsweise vier Mal im Jahr erscheinend und jeweils monothematisch ausgerichtet.
Die «Neue Zürcher Zeitung» macht es mit ihrem vor gut einem Jahr lancierten «NZZ Geschichte» etwas anders. Das vierteljährlich erscheinende Magazin setzt auf Themenvielfalt mit jeweils einem Schwerpunkt und festen Rubriken. Anders als seine deutschen Vorbilder präsentiert sich das Special-Interest-Produkt der NZZ nicht knallbunt nach gängiger Magazin-Machart, sondern gemäss der Linie des Hauses in zurückhaltend gediegener Aufmachung. Die Broschüre im Quartformat mit der starren Klebebindung liegt schwer in der Hand und kostet im Einzelverkauf stolze 18, im Jahres-Abo für vier Ausgaben 58 Franken.
Düstere, aber nicht einheitliche Kolonialgeschichte
Schwerpunkt der im April erschienenen Nr. 5 ist der Kolonialismus. Die Titelgeschichte von Martin Beglinger verknüpft das Thema geschickt mit der Schweiz. Sie erzählt von der Inspektionsreise, die der Luzerner Politiker Edmund von Schumacher 1904 auf Einladung des belgischen Königs Leopold II. in den Freistaat Kongo unternahm. Der Auftrag, die dortigen Missstände zu untersuchen, war brisant, da der Auftraggeber mit dem Angeklagten identisch war. Leopold II. betrachtete sich nicht nur als monarchischer Souverän, sondern auch als persönlicher Besitzer des kolonialen Staatsgebildes.
Die Zustände im Kongo schrieen zum Himmel; sie forderten vermutlich (solide Zahlen gibt es nicht) mehrere Millionen Tote – eine historische Last, die in Belgien erst in neuester Zeit ansatzweise zum öffentlichen Thema wird. Der Bericht, an dem von Schumacher mitgewirkt hatte, gehört zu den wenigen Dokumenten, die das dunkle Kapitel der belgischen Kolonialgeschichte erhellen können.
Ein Beitrag des renommierten Historikers Jürgen Osterhammel (Autor des Monumentalwerks «Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts) versucht eine Gesamtschau und Wertung des Kolonialismus. Wie man es von ihm kennt, unterläuft Osterhammel die gängigen Pauschalurteile mittels Unterscheidung konkreter Situationen und Anwendung verschiedener möglicher Systematisierungen. Mit seinem Respekt vor Fakten nimmt Osterhammel eine Forscherhaltung ein, die sich gegen vorschnelle «Welterklärungen» sperrt und gerade so tiefe Einblicke in die Geschichte samt ihren jeweiligen aktuellen Verzweckungen erlaubt.
Geschichte ist Sprache
In der neuen Ausgabe von «NZZ Geschichte» sind neben den bereits erwähnten mehrere weitere Beiträge bemerkenswert gut geschrieben: Peter Haffners Essay über die Ursprünge des neuen Nationalismus in Osteuropa, Urs Hafners «Das Jahr ohne Brot» über die letzte grosse Hungersnot in der Schweiz 1816, Linus Reichlins Geschichte des Spiegelbilds. Sprachliche Form ist nicht Verpackung geschichtlichen Inhalts, vielmehr ist sie einer seiner entscheidenden Aspekte. Geschichte ist Erzählung, ist Sprache, Mitteilung, Medium. Alles, was berichtet wird, ist «Geschichte» oder liefert zumindest das Material, aus dem sie gewonnen wird. Erst durch ihre sprachliche Verarbeitung wird sie anschau- und verstehbar.
Schiller war schon ein berühmter Dichter und Dramatiker, bevor er mit «Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung» 1788 sein historiografisches Chef-d’œuvre vorlegte. Sein Biograf Safranski meint dazu: «Mit solcher literarischer Meisterschaft ist in Deutschland vor Schiller über Geschichte noch nie geschrieben worden.» Dieser wollte mit «Abfall der Niederlande» erklärtermassen den Beweis antreten, «dass eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein, und (...) ohne deswegen notwendig zum Roman zu werden.»
Seit 1788 liegt also die Latte für die anzustrebende Qualität einer allgemein verständlichen und durchaus auch unterhaltenden Behandlung historischer Stoffe auf der von Schiller vorgelegten Höhe. Erfreulicherweise gibt es in «NZZ Geschichte» Beiträge, die erkennbar an hohen Ansprüchen Mass nehmen. Insgesamt darf sich das Magazin nach nunmehr fünf Ausgaben sehen lassen.