In der Schule gibt es Grundsätze und Erkenntnisse, die nicht veralten, die zeitlos und darum veralterungsresistent sind, z. B. dass alle lesen, schreiben und rechnen lernen und dass es dazu engagierte Lehrerinnen und Lehrer braucht. Zur Paedagogia perennis, zu dem, was immer gilt und keinem Verfalldatum untersteht, gehören auch lebendiges Erzählen und achtsames Zuhören.
Erzählen als ursprüngliche Art der Begegnung
Menschen haben Geschichten gern – und sie brauchen Geschichten. Gute Geschichten, betont der Literaturprofessor und Schriftsteller Peter von Matt. Das gilt auch für unsere Schulkinder. Ein klassischer Grundsatz; darum ewig gültig, den sozialen Medien zum Trotz. Die meisten Kinder lieben Erzählungen und hören gerne zu. „Kinder brauchen Märchen“ – „Kinder brauchen Bücher“. Die beiden Bücher des bekannten Kinderpsychologen Bruno Bettelheim öffneten mir im Lehrerstudium die Augen und zeigten, wie bedeutsam dieses Anliegen ist.
Fabulieren ist das, was Menschen mit Lust und Laune und ganz freiwillig tun. Sie reden und erzählen, sie simsen und bloggen, sie dichten Verse und schreiben Geschichten oder gar ganze Romane. Manche reden darum nicht vom Homo sapiens, sondern vom Homo narrans, vom Menschen, der erzählt, ja sogar vom „storytelling animal“.
Eine Erzählung mit Leben füllen
Wie eine Erzählung lebendig wird, zeigte unser Sechstklasslehrer – Theatermensch par excellence, Geschichtenschreiber und Poet in Personalunion. Als wir noch Helden hatten, ja, da war vieles einfacher, auch das Geschichtenerzählen. Unser Lehrer beherrschte es; er konnte formulieren, fabulieren, faszinieren. Und dies sehr anschaulich: Noch heute sehe ich ihn vor mir, den Abenteurer und Journalisten Stanley, wie er im unbekannten Afrika des 19. Jahrhunderts nach dem verschollenen Forscher Livingstone suchte.
Wir fieberten mit, wenn der Lehrer von Wilhelm Tell erzählte, wie er den tyrannischen Vogt Gessler in der Hohlen Gasse erschoss, und von Schillers politisch-literarischem Thriller schwärmte. Wir hörten atemlos zu, wenn er Arnold Winkelried auferstehen liess und berichtete, wie der Nidwaldner Landesheilige bei Sempach sein Leben opferte – und so eine schlachtentscheidende Lücke in die Reihe der feindlichen Speere riss. Wir sahen die Helden vor uns. In solchen Momenten war das Vaterland nicht nur ein Gebiet auf der Schweizer Karte, nein, das Vaterland war auch ein Gefühl. Es war mein Heimatland. Stolz war der kleine Sechstklässler auf diese grossen Perlen in der eidgenössischen Mythenkette.
Geschichten ins Wissen der Kinder einordnen
Das war damals. Heute haben es Helden schwer. Sie haben ausgedient. Erbarmungslos entmystifiziert und entsorgt. Geblieben aber ist der Wert des Erzählens. Es ist eine ursprüngliche Art der Begegnung – und damit konstitutives Element guten Unterrichts. Der Lehrer steht dabei in engem Kontakt zur Klasse. Er muss – wie die Schauspielerin beim Publikum – „ankommen“. Und Ankommen ist kein Zufall. Beim Erzählen erzeugt die Lehrerin Sprache und bei den Kindern innere Bilder. Für Heranwachsende ist das ein eminent wichtiger Wahrnehmungsvorgang.
Hören ist ein kognitiver Prozess. [1] Er findet nicht nur im Ohr statt. Das Hirn verarbeitet Sprache. Dabei gilt es, das Gehörte zu verstehen, es zu einem zusammenhängenden Gefüge zu verknüpfen und dann das Ganze ins Netz des eigenen Wissens aufzunehmen und einzuordnen. Noch heute weiss ich um die Erforschung des Kontinents Afrikas – dank der erzählten Episode von Stanley und Livingstone im damaligen Sachunterricht.
Zuhören als verstehende Zuwendung
Lehrerinnen und Lehrer sollten aber nicht nur frei und lebendig, anschaulich und bildhaft erzählen können, sie müssen auch selber gut zuhören können. Zuhören, hinhören – das wird für heutige Kinder immer wichtiger. Viele haben zu Hause ja kein persönliches Vis-à-Vis, das ihnen achtsam zuhört, kein Gegenüber, das sich Zeit nimmt zum Hinhören. Und der Laptop ist ein gar ungeselliger Geselle!
Trotz Internet, trotz Handy – oder eben gerade darum – brauchen die Kinder ein achtsames menschliches Gegenüber. Aufmerksam zuhören ist verstehende Zuwendung. Beim Zuhören schenkt man dem Gegenüber Gehör – für viele Schulkinder so etwas wie eine neue Erfahrung.
Besser hinhören, genauer hinhören, zuerst zuhören
Was Zuhören bewirken kann, zeigte das letztjährige Gedenkjahr zum 600. Geburtstag von Niklaus von Flüe. Darauf aufmerksam gemacht hat Peter von Matt. Im Zentrum von Bruder Klaus’ Denken sei die Überzeugung gestanden: „Darum sönd ir luogen, dz ir enandren ghorsam syend.“ Das Adjektiv gehorsam geht – sprachgeschichtlich gesehen – auf „horchen“, „auf etwas hören“ zurück. Gehorsam verstanden als Gehör. Es sei, so sagte der emeritierte Hochschullehrer, ein Schlüsselsatz von Bruder Klaus, vielleicht sogar seine ganz eigentliche Botschaft an die Tagsatzung 1481 von Stans – und an uns Heutige: Besser hinhören, genauer hinhören, zuerst zuhören. Mit dieser Haltung habe er etwas vorgelebt, das ewig gültig sei, das nicht veralte – eine Versöhnungskultur. Ein Aufeinander-Eingehen, das Einander-Verstehen.
Vielleicht hat der Einsiedler aus dem Ranft damit die schweizerische Synthese vorweggenommen, nämlich den Zusammenhalt von ganz Unterschiedlichem – und damit das Überwinden von Bruchstellen und Verschiedenheiten, von unterschiedlichen Mentalitäten und Realitäten, von Stadt und Land, von Gross und Klein, von Reich und Arm. Indem man aufeinander hört.
Das gilt nicht nur für einen Staat wie die Schweiz, das gilt auch – und ganz besonders – für einen Mikrokosmos wie die Schule mit ihrer heutigen Heterogenität. Hinhören.
Das Zuhören muss man lernen
„Mehr zu hören, als zu reden – solches lehrt uns die Natur: Sie versah uns mit zwei Ohren, doch mit einer Zunge nur“, sagte Gottfried Keller, der kluge Zürcher Dichter und politische Denker, in einem Aphorismus.
Doch das Zuhören muss man lernen. Als Lehrer habe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern das Diskutieren intensiv trainiert. Dabei mussten sie im Diskurs immer zuerst den Gedanken des Vorredners kurz zusammenfassen. Erst dann war ihr Gegenargument an der Reihe. So zwang ich die Schülerinnen und Schüler, genau hinzuhören und zu resümieren. Sie mussten sich aufs Wesentliche konzentrieren und Unwichtiges „überhören“.
Der Aufbau von Zuhören-Können ist eine pädagogische Aufgabe. Zuhören wird so zum Auftakt echter Begegnungen – auch mit Sachinhalten. Es führt zum Verstehen. Unser Lehrer konnte nicht nur anschaulich erzählen, er konnte auch gut zuhören. Er versuchte uns zu verstehen, auch wenn er nicht mit allem einverstanden war. Ich begriff: Zuhören macht unsere Welt ein bisschen besser, mindestens ein bisschen menschlicher. Und noch heute sehe ich Livingstone und seinen unbändigen Forscherdrang vor mir.
[1] Giorgio V. Müller, Zum Hören braucht es mehr als gute Ohren. In: NZZ, 22.11.17, S. 30.