Der Rückblick auf die Wahlen vom 6. November 2012 in den USA beginnt quasi im Traum. The American Dream – seit dem 18. Jahrhundert Leitmotiv jeder Generation – ist er im 21. Jahrhundert ausgeträumt? Fast scheint es, als wären diesem gestressten Land inzwischen die Voraussetzungen für lustvolle und großartige Träume von Tellerwäschekarriere und Freiheitsdrang abhanden gekommen.
Auch der elektrisierende Ruf Martin Luther Kings „I have a dream“ ist verhallt. Die USA präsentieren sich als tief gespaltene Nation. Das polemische Klima, in dem in vergifteter Tonart in den landesweiten Fernseh- und Radioprogrammen völlig unseriöse Debatten geführt wurden, ist wahrlich ungeeignet für Gutnachtgeschichten, nach denen sich beruhigt einschlafen und träumen liesse.
Auseinanderdriften der Bevölkerung
„Yes, we can“ – vier Jahre später muss sich die amerikanische Bevölkerung eingestehen: „No, we couldn’t“. Hope and Change, jene 2008 Begeisterung auslösenden Rufe Obamas ins Publikum, sind längst im Getöse des Erbes zweier dubioser Kriege und einer haarsträubenden Finanzkrise untergegangen. Den Amerikanern ist ihr sprichwörtlicher Optimismus in der Folge von Arbeitslosigkeit und Immobilienkrise vergangen. Nur noch ein knappes Drittel glaubt, dass das Leben ihrer Kinder dereinst besser sein würde als ihr eigenes.
Wenn sich Amerika heute der Welt als ein Land der krassen Ungleichheiten präsentiert, ist das ein Alarmzeichen. „Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht“ , diesen Warnruf schickt der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz um die Welt. Tatsächlich betrifft diese Zersetzung der Institutionen, dieses Auseinanderdriften der Bevölkerungen, nicht nur die USA. Auch weitere Nationen, demokratische und andere. Auf diesem Nährboden sprießen die populistischen, einfachen Lösungen der Heilsverkünder rund um den Erdball.
Das Wohl des Landes ist Nebensache
Sehen wir uns das einen Moment lang an. Was ist unter Spaltung der Gesellschaft zu verstehen? Auf dem politischen Parkett stehen sich die Abgeordneten im Kongress in Washington spinnefeind gegenüber. Vier Jahre lang arbeiteten die Republikaner darauf hin, eine zweite Amtszeit des demokratischen „Linken Farbigen“ zu verhindern. Jedes Mittel wurde diesem Ziel untergeordnet. Das Wohl des Landes geriet zur Nebensache.
In der Gesellschaft manipuliert eine Minderheit („die 1%er“) via Medien die Mehrheit („die 99%er“). Erstere scheffelt den Gewinn auf ihre Bankkonten, zulasten der Letzteren. Während Einkommen und Vermögen des obersten Prozents der Bevölkerung seit einem Jahrzehnt explodieren, stagnieren sie für die breite Masse oder sie erodieren gar. Während tausende von Menschen infolge der Immobilienkrise ihr Haus verloren, werden zurzeit die Wohnungen in den obersten Stockwerken des sich im Bau befindlichen neuen Apartment-Turms, der dereinst das höchste Wohngebäude New Yorks sein wird, für 95 Millionen Dollar je Wohnung verkauft.
Nur Dollars und Gott schaffen Einheit
Und die Wirtschaft, sie hat längst ihre Hauptaufgabe aus den Augen verloren. Statt gesellschaftliche und soziale Stabilität und in der Folge breiten Wohlstand zu fördern, haben monopolartige Beherrschung ihrer Märkte, „legale“ Steueroptimierungen und grassierendes Lobbying in Washington zur Erzielung astronomischer Firmengewinne geführt, von denen - außer den CEOs, dem VR und eventuell den Aktionären – weder das dupierte Personal, noch die breite Bevölkerung profitiert.
Zusätzlich ist das Land zweigeteilt in die multikulturellen urbanen Zentren längs der Nordost- und Nordwestküsten (eher demokratisch ausgerichtet) und die dazwischen liegenden, landwirtschaftlich geprägten Bundesstaaten (pro Republikaner). Enorm sind die Spannungen auch hier, „nur über die Werte wie Dollar und Gott findet die Bevölkerung zur Einheit“ meint illusionslos Elisabeth Bronfen, Amerikanerin und Schweizerin, Professorin an der Uni Zürich.
Langsam vorwärts mit Obama?
Dass selbst Gott die Nation spaltet, ist daraus ersichtlich, dass mehr als ein Drittel der erwachsenen Amerikaner (erz-) konservative Kirchen wählt, geprägt von jener Mischung aus Bibelhörigkeit, Staatsferne und freiem Markt, die heute auch viele Republikaner predigen. Ihr Credo: Wenn die Reichen weniger Steuern bezahlen und die Unternehmer frei agieren können, geht es allen besser. Tatsächlich „kommen die Republikaner mit dieser Rezeptur bei rund der Hälfte der Amerikaner durch. Ihr ökonomisches Programm ist kein Programm für die Masse. Doch das ist einem erheblichen Teil der Masse egal. Für viele Wähler zählt mehr, was sie glauben, als was sie besitzen.“
Der oben erwähnte Professor Stiglitz meinte, dass die Amerikaner am 6. November vor folgender Wahl stünden: Entweder entscheiden sie sich für einen sehr langsamen Fortschritt mit Obama (Demokraten) oder für Schritte zurück mit Romney (Republikaner). Und Daniel Binswanger vertrat die Ansicht, dass es bei diesen Wahlen letztlich um die Kompatibilität von Kapitalismus und Demokratie ginge. „Das zerstörerische Potenzial dieser Entwicklung dürfte noch gar nicht absehbar sein. Auf Lügen lässt sich kein Gesellschaftsvertrag gründen“ . Im Auge behielt er bei dieser Aussage wohl auch Europa.
"Überalterte Partei der Weissen"
Wirft man nach den Wahlen einen unaufgeregten Blick auf die beiden Kandidaten, realisiert man, dass sie für zwei völlig unterschiedliche Weltbilder stehen. Obama vertritt die liberalen, zukunftsgerichteten, sozial verträglichen und reformfreudigen Ideen der Demokraten. Romney jene der ultrakonservativen , rückwärtsgerichteten, für Steuersenkungen und Eigenverantwortung plädierenden Thesen der Republikaner.
Diese werden in der NZZ als „überalterte Partei der Weißen“ bezeichnet. Für den Historiker Fritz Stern ist die innere Verfassung der Republikanischen Partei, die von der Tea-Party-Bewegung unterwandert ist, besorgniserregend. Außenstehende könnten den Eindruck bekommen, da hätte sich eine eigentliche Parallelwelt breit gemacht. Basierend auf Fox News, Radioshows, Magazinen und Blogs wird eine radikale Weltanschauung vermarktet – eine abstruse „Wahrheit“ verbreitet.
Die republikanischen Blockierer
Nach vier Jahren im Amt wird der oft wortkarge Obama kritisch an seinen Taten gemessen. Er suchte den Ausgleich in Washington (Senat und Repräsentantenhaus). Nach anfänglicher Hoffnung macht sich Ernüchterung breit. Der zielstrebige, erfolgshungrige Romney dagegen ist ein begabter Vielredner, dessen Fokus darauf ausgerichtet war, Obama um jeden Preis zu besiegen, ohne sich verbindlich programmatisch festzulegen. Damit trugen er und seine Partei zum totalen politischen Stillstand Amerikas bei, da mit der Mehrheit im Repräsentantenhaus alle Vorlagen Obamas blockiert wurden.
Der monatelange Wahlkampf um die Gunst der 136 Millionen Wahlberechtigten kostete 6 Milliarden Dollar. Nicht zu Unrecht vermuten kritische Beobachter, dass er zunehmend durch Geld korrumpiert wird. Tatsächlich können via so genannte Super-PAC-Aktionskomitees beliebig hohe Mittel eingeworfen werden. Hinter diesen Komitees verstecken sich relativ wenige Spender. Weitere „Branchenverbände“ und „Soziale Wohlfahrtsorganisationen“ (!) garantieren die weitgehende Intransparenz des Wahlkampfs der „größten Nation der Welt“.
Gescheiterte Tea-Party
Dass nicht die abgegebenen Wählerstimmen für den Ausgang der archaisch anmutenden Wahl entscheidend sind, sondern jene der Elektoren, ist eine weitere Eigenart dieses Wahl-Schauspiels. Dieses System der 538 Wahlmänner war ursprünglich als demokratischer Ausgleich zugunsten der ländlichen Gebiete gedacht gewesen. Inzwischen ist es durch die Polarisierung der Politik unterminiert worden. „The winner takes it all“, heißt ja nicht anderes, als dass auch bei einem Stimmenverhältnis von 50,5% zu 49,5% der Sieger sämtliche Elektorenstimmen des Staates erhält. Viele Beobachter halten dies für einen Trend zur Entdemokratisierung.
Entgegen einer Flut von Meinungsumfragen siegte Obama mit 332 zu 206 Elektorenstimmen klar. Nate Silver , der clevere Meinungsforscher des 21. Jahrhunderts, war allein auf weiter Flur mit der richtigen Vorhersage gewesen. Dass Obama jetzt für weitere vier Jahre antreten kann, ist bemerkenswert aus zwei Gründen. Da ist die alte, oft zitierte Regel, wonach der Stand der Wirtschaft entscheidend sei („It’s the economy, stupid!“). Und da ist das unwirklich anmutende Staatsdefizit von einer Billion Dollar (1'000'000'000'000) , das schwer auf dem Land lastet. Hatte der Economist noch Tage vor der Wahl befürchtet, Obama könnte aus diesen Gründen verlieren – es kam anders. Dies dank seiner breiteren und stärker durchmischten Wählerschaft, dank mehr Stimmen der Frauen und der jungen Generation. Auch dank der Effizienz und Präzision seiner Wahlkampforganisation. Die Tea-Party-Fans sind gescheitert.
Neuer New Deal?
Ob diese Zeichen genügen, im Land eine eigentliche Denkwende einzuleiten, bleibt offen. Kooperation statt Konfrontation in Washington, jener Festung aus Geld und Sonderinteressen? Demokraten und Republikaner zusammen? Es geschehen ja ab und zu Zeichen und Wunder. Hat das Bild Symbolcharakter, das um die Welt ging? Der republikanische Gouverneur von New Jersey, Chris Christie, eben noch lautstarker Opponent Obamas, den Arm über Obamas Schultern und ihn in höchsten Tönen lobend. Christie, der realisiert hatte, dass der Commander in Chief über Parteigrenzen hinaus unbürokratisch und konstruktiv auf den verheerenden Sturm Sandy reagierte.
Der oft etwas unergründlich und wortkarg wirkende Obama wird zukünftig seiner Bevölkerung mehr und emotionalere Geschichten erzählen müssen. „Dem amerikanischen Volk eine Story [zu] präsentieren, die den Menschen ein Gefühl von Einheit, Zweck und Optimismus gibt“ . Dabei wird er hoffentlich weniger über das hässliche Gerangel mit der Republikanischen Partei, dafür umso mehr über gemeinsame Erfolge und Fortschritte, die das Land aus der Krise führen, zu berichten haben.
Obama hat sich viel vorgenommen. Seine Agenda ist überladen. Weniger ist mehr, die Gefahr, sich zu verzetteln scheint real. Wird es ihm gelingen, 80 Jahre nach Franklin Roosevelt, einen New Deal zu realisieren?
Dieser Rückblick auf die Wahlen 2012 begann mit dem Amerikanischen Traum und endet mit Hoffnung der Jugend. Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert könnte 2012 ein Schicksalsjahr für Amerika werden.