Nein, für einmal sind nicht Chinesinnen und Chinesen – in gendergerechtem Neudeutsch Chines*innen oder ChinesInnen – betroffen. Eine seit Jahrzehnten in China weit verbreitete Art der Kühlung ist den Herren vorbehalten. Das T-Shirt oder das Hemd wurden und werden ganz einfach über Sixpack, Bauch, Bäuchlein oder Pauke hochgezogen. So verschafften sich die Pekinger aber auch Chinesen anderswo im Hochsommer sanfte Kühlung. Je grösser die Pauke, so scheint es, mit einem gewissen Stolz.
«Unzivilisiert»
Schon Mitte der 1980er Jahre, als Ihr Korrespondent in China zu arbeiten begann, war das allgemein üblich. Die Sommer waren schon damals Greta-heiss. Vierzig Grad Celsius waren und sind in Chinas Hauptstadt keine Seltenheit. Kontinentalklima eben, hiess es damals nonchalant. Ueber die lockere Art, sich im Sommer Kühlung zu verschaffen, regte sich damals niemand auf. Weder Chinesinnen noch Lokalbehörden. Einzig einige vorwitzige Ausländer ereiferten sich schon damals heillos ob der mittlerweile als «Beijing Bikini» bekannt gewordenen Hitzelinderung. «Unzivilisiert» sei das, so die Meinung einiger Expats.
«Schamlose Entblössung»
Wohl wegen des Klimawandels ist die negative Qualifizierung des Pekinger Bikinis unterdessen auch bei den Lokalbehörden angekommen. So ist in der 9-Millionen-Einwohner-Metropole Jinan (Provinz Shandong) seit dem 1. Juli das Zeigen männlicher Bäuche bei Sommerhitze ausdrücklich verboten. Das sei «unzivilisiertes Verhalten», das mit einer «Zivilisationskampagne» bekämpft werden müsse. Bereits zuvor sind Tianjin, Shenyang und weitere Städte dazu übergegangen, «unangemessene Kleidung an öffentlichen Orten» und «schamlose Entblössung von Körperteilen» zu untersagen.
«Unzivilisiertes Gassi-Gehen»
Um das Image der Städte zu verbessern, haben die Lokalbehörden auch bei andern Vorkommnissen «Zivilisation» angemahnt. «Oeffentliches Gezänk», Abfall achtlos wegwerfen, Spucken, Warteschlangen vor Haltestellen des öffentlichen Verkehrs überspringen oder «unzivilisiertes Gassi-Gehen mit dem Hund» sei tunlichst zu unterlassen. In der Hafenstadt Tianjin werden bereits Bussen zwischen 50 und 200 Yuan (7.50 bis 30 Franken) verteilt.
Tradition
Die offizielle englischsprachige Regierungszeitung «China Daily» stellt zwar fest, dass die Entblössung der männlichen Bäuche «zu einer Tradition geworden ist». Dennoch urteilt der Kommentator – wohl angenehm gekühlt aus der klimatisierten Redaktion – eindeutig: «Seinen Bauch zu entblössen, ist der Entwicklung urbaner Zivilisation nicht förderlich.» Die in vielen Städten neu erlassenen Vorschriften setzen einen seit einigen Jahren vorherrschenden Trend fort, Chinesinnen und Chinesen im Alltag Manieren beizubringen, Verhaltensweisen also, die während der Jahrzehntelangen turbulenten Mao-Zeit und danach bei der Betonung des Materiellen während der Wirtschaftsreform verloren gegangen sind. Das Soziale Kreditsystem mit teilweiser digitaler Uebewachung soll dabei helfen.
«Fürs Klima besser»
Der behördliche Kampf gegen das Kühlung spendende «Beijing Bikini» hat selbst in der chinesischen Parteipresse Erwähnung gefunden. Doch richtig debattiert wurde vor allem in den sozialen Medien. «Wenn der Körper schön ist», hiess es etwa leicht sexistisch, «ist es OK, wenn aber nicht, nein danke.» In einer geradezu klimafreundliche Meinungsäusserung hiess es: «Ohne Hemd zu sein oder seinen Bauch zu zeigen, ist fürs Klima besser als Aircondition.» Ob die Wortmeldung auf Sina Weibo wohl von einer chinesischen Greta verfasst worden ist? Tatsache jedenfalls ist, dass elektrische Kühlung in den letzten Jahrzehnten in China exponentiell zugenommen und dem Klima langfristig wohl geschadet hat.
Dank dem «Beijing Bikini» sind nun erstmals die neuen Massnahmen der Lokalregierungen in die schlagzeilenhungrigen westlichen Medien gelangt. Bäuche statt saure Gurken. Immerhin. Doch Schlagzeilen und Zivilisation hin oder her: Die Bäuche werden noch immer stolz den kühlenden Sommerlüftchen ausgesetzt.