Das Kämpfen wurde ihr gewissermassen schon in der Wiege aufgezwungen. Marina Silva wuchs mitten im brasilianischen Amazonas-Regenwald auf. Ihre Kindheit war von bitterer Armut geprägt, die Mutter starb früh, drei ihrer zehn Geschwister ebenfalls. Sie selbst litt immer wieder unter Vergiftungen durch Schwermetalle, Malaria und Hepatitis. Mit 15 zog sie in die Provinzhauptstadt Rio Branco im Bundesstaat Acre, um dort ihre Krankheit behandeln zu lassen. Lesen und Schreiben konnte sie noch nicht. Sie arbeitete als Hausangestellte und holte in kurzer Zeit in Abendkursen den Schulabschluss nach. Anschliessend studierte sie Geschichte und trat zuerst in die Kommunistische Partei und 1985, nach dem Ende der Militärdiktatur, in die gegenwärtig regierende Arbeiterpartei (PT) ein. 1990 wurde sie ins Abgeordnetenhaus gewählt, 1994 als erst 36-jährige in den Senat.
Fast gleichauf mit Rousseff
Jetzt kämpft sie wieder, diesmal nicht um ihr Leben, sondern um die Macht. Bei der Präsidentschaftswahl vom kommenden Sonntag fordert sie die amtierende Staatschefin Dilma Rousseff heraus. Und sie hat echte Siegeschancen. In den jüngsten Meinungsumfragen liegt die ehemalige Kautschukzapferin nur knapp hinter Rousseff. Der konservative Sozialdemokrat Aécio Neves folgt mit deutlichem Abstand an dritter Stelle.
Es wird somit höchstwahrscheinlich Ende Oktober zu einer Stichwahl zwischen den beiden Frauen kommen. Dann könnte sich Silvas schon vor längerer Zeit ausgesprochener Wunsch erfüllen: „Ich will die erste schwarze Frau aus armen Verhältnissen sein, die Präsidentin Brasiliens wird.“
Silva hatte eigentlich für das Amt derVizepräsidentin an der Seite des Sozialisten Eduardo Campos kandidiert. Der frühere Gouverneur des Teilstaates Pernambuco starb jedoch am 13. August bei einem Flugzeugabsturz. Seine Partei nominierte darauf Silva einstimmig als Präsidentschaftsanwärterin. Und die klare Favoritin Rousseff musste plötzlich um ihre Wiederwahl bangen: Mit der charismatischen Umweltaktivistin ist ihr über Nacht eine gefährliche Kontrahentin erwachsen.
Kolleginnen, aber keine Freundinnen
Rivalinnen waren die beiden Frauen schon vorher. Sie gehörten zwar der selben Partei an, und Brasiliens erster Arbeiterpräsident Inácio Lula da Silva holte beide in seine Regierung. Die Energieministerin Rousseff und die Umweltministerin Silva zogen jedoch nur selten am selben Strick. Rousseff wollte Brasiliens Wirtschaftskraft um jeden Preis stärken und möglichst viele neue Arbeitsplätze schaffen, während ihre Parteikollegin den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen in den Vordergrund stellte.
Silva hatte sich schon in jungen Jahren gemeinsam mit dem legendären Gummizapfer und Umweltaktivisten Chico Mendes, der 1998 im Auftrag der Holzmafia ermordet wurde, in der Waldschutzbewegung engagiert und war bald die wichtigste politische Verbündete der Umweltschützer und Urwaldbewohner. Sie wurde so etwas wie das grüne Gewissen der brasilianischen Politik.
Wenig Rückhalt bei Lula
In der Regierung hatte sie hingegen von Anfang an einen schweren Stand, da der ehemaligen Gewerkschaftschef Lula ökologischen Anliegen keine grosse Beachtung schenkte. Dank ihrer Hartnäckigkeit konnte sie im Kampf gegen Vieh-, Holz- und Sojabarone dennoch einige Achtungserfolge erzielen. Mehrere hundert notorische Umweltzerstörer landeten hinter Gittern, und auf Silvas Initiative entstanden zahlreiche neue Schutzgebiete.
Silvas Strategie stiess jedoch zunehmend auf Widerstand, nicht nur bei den mächtigen Grossgrundbesitzern, sondern auch im Kabinett. Es kam auch immer öfter zu Konflikten zwischen Lula und seiner Umweltministerin. Als der Staatschef ihr im Mai 2008 auch noch die Zuständigkeit für ein Programm zur Nachhaltigkeit des Amazonasgebiets entzog und sie Planungsminister Mangabeiro Unger übertrug, trat Silva zurück. Sie wollte nicht länger Lulas „ökologisches Feigenblatt“ sein. Wenig später kehrte sie auch der Arbeiterpartei enttäuscht den Rücken zu.
Bei der Präsidentschaftswahl 2010 kandidierte sie für die Grünen und erhielt als Drittplatzierte beinahe 20 Millionen Stimmen. Ihr überraschend gutes Abschneiden trug entscheidend dazu bei, dass die klare Favoritin Rousseff sich erst in einer Stichwahl durchsetzen und in die Fussstapfen ihres politischen Ziehvaters Lula treten konnte.
Symbol des Wandels
Diesmal ist Silva nicht mehr die krasse Aussenseiterin. Ihre wachsende Popularität lässt sich in erster Linie damit erklären, dass viele Brasilianer der etablierten Machtelite und ihrem ewig gleichen Schachern um Pfründe und Prozente überdrüssig sind. Von Silva, die als integer und prinzipientreu gilt, erhoffen sie sich frischen Wind in der Politik.
In den zwölf Jahren unter dem Volkstribun Lula und seiner Nachfolgerin Rousseff hat Lateinamerikas grösstes Land beachtliche Fortschritte gemacht, vor allem im Kampf gegen die Armut. Zwischen 2002 und 2012 nahm der Anteil der Armen unter den rund 200 Millionen Brasilianern von 26 Prozent auf 10 Prozent ab. 40 Millionen Menschen stiegen in den Mittelstand auf, der inzwischen 56 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Die Mittelschicht in Brasilien lässt sich allerdings nur beschränkt mit der in den Industriestaaten vergleichen, werden dort doch bereits Familien, die über ein doppeltes Minimaleinkommen – umgerechnet rund 900 Franken im Monat – verfügen, zu dieser Gruppe gezählt.
Der bescheidene neue Wohlstand hat auch neue Ansprüche geweckt. Die Aufsteiger verlangen ein besseres Bildungssystem, tiefgreifende Reformen im maroden Gesundheitswesen, einen umfassenden Ausbau des öffentlichen Transportsystems, bessere Löhne, weniger Bürokratie und eine energischere Kriminalitätsbekämpfung. Vor gut einem Jahr gingen sie zu Hunderttausenden auf die Strasse, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und gegen das nach wie vor weit verbreitete Krebsübel der Korruption und der Vetternwirtschaft zu protestieren.
Rousseff räumte Versäumnisse ein und gelobte, diese in der kommenden Amtsperiode zu beseitigen. Doch immer mehr ihrer Landsleute zweifeln daran, dass die Präsidentin und ihre Arbeiterpartei wirklich bereit sind, Fehler zu korrigieren, und setzen deshalb auf Silva.
Links, aber auch evangelikal
Wo die Herausforderin politisch genau steht, lässt sich nicht so leicht sagen. Von ihrer Herkunft her liegt es nahe, dass sie sozialistische Ideale vertritt und mit dem Umweltschutz stets auch soziale Fragen verknüpfte. Sie ist aber auch bekennende Evangelikale und nimmt als solche konservative religiöse Positionen ein. So lehnt sie etwa den Schwangerschaftsabbruch und die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren strikte ab. Die Zugehörigkeit zu einer Pfingstkirche, die in Brasilien wachsenden Zulauf haben, sichert ihr Millionen von Stimmen, nimmt auf der anderen Seite aber viele linke Wähler gegen sie ein.
In der Wirtschaftspolitik hat Silva einen liberaleren Kurs mit weniger Staatseingriffen angekündigt und sich damit deutlich von Lula und Rousseff distanziert. Unter ihr, verspricht sie, werde die Zentralbank unabhängig, das Haushaltsdefizit kleiner und die Inflation energischer bekämpft. Gleichzeitig sollen die aktuellen Sozialprogramme fortgeführt werden.
Auf Distanz zum Establishment
Dank ihrem Bekenntnis zu einer liberalen Wirtschaftspolitik geniesst Silva heute auch bei Unternehmern Sympathien. Als Umweltministerin war sie wegen ihrer Unnachgiebigkeit für Industrie und Landwirtschaft noch ein rotes Tuch gewesen. Jetzt vertrauen sie darauf, dass es unter Silva mit der in den vergangenen Monaten geschrumpften brasilianischen Wirtschaft schneller wieder aufwärts gehen werde als mit Rousseff.
In ihrer Wahlkampagne wird Silva nicht müde, sich vom politischen Establishment, das in der Bevölkerung durch ständige neue Korruptionsskandale und Machtexzesse in Verruf geraten ist, zu distanzieren. Sie werde als Präsidentin eine Regierung der „Guten“ bilden, beteuert sie. Wo sie die im brasilianischen Politdschungel finden will, hat sie bisher nicht verraten.