Adolf Ogi war von 1988 – 2000 Mitglied des Bundesrates, von 1988 bis 1995 leitete er das Eidgenössische Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (EVED), das heutige UVEK. Für das „journal21“ befragte ihn Robert Ruoff.
TEIL I: „Das politische Zeitfenster – im Inland und in Europa“
Herr Ogi, vor dem Durchstich im Berg brauchte es den Durchbruch in der Politik. Warum ist das, nach 30 Jahren politischem Hin-und-Her, schliesslich doch gelungen?
Weil sich ein Fenster geöffnet hat, ein „Window of Opportunity“. Politische Ziele können wir nur erreichen, wenn die Bedingungen stimmen. Aufgabe der Politik ist es, diese Bedingungen zu erkennen und dann rasch zu handeln. Ich würde im Rückblick sagen: Das „NEAT-Fenster“ war offen so zwischen 1990 und 2000 – heute wäre es wieder geschlossen. Und ein zweiter Punkt: Gute Politik muss das Ganze im Auge behalten. Die NEAT mit Lötschberg und Gotthard war Teil eines verkehrspolitischen Gesamtkonzepts, das bis heute wirksam ist.
Sie haben die verschiedenen Interessen gebündelt?
Wir haben den Bedarf und die künftigen Probleme analysiert. Ich habe als Chef des EVED von Anfang an die Verkehrspolitik zur Chefsache erklärt und vier Schwerpunkte definiert: - Bahn (und Bus) 2000 - Die NEAT und, vorgezogen, den Huckepack-Verkehr - Die Verbesserung des Agglomerationsverkehrs (mit der Zürcher S-Bahn als Modell) - Die Vollendung des Nationalstrassen-Netzes (für den Autoverkehr)
Sprich: nicht nur der öffentliche, auch der private Verkehr wurde bedient?
Das Volk hatte schon 1958 den Autobahnartikel in der Bundesverfassung angenommen. Das Gefühl der Freiheit nach dem 2. Weltkrieg, die neue Mobilität, der wirtschaftliche Aufschwung, der Glaube an den technischen Fortschritt hat die Menschen begeistert. Dreissig Jahre später wurden auch Grenzen und Probleme sichtbar. Wir brauchten ein ausgewogenes Gesamtkonzept, mit dem wir die Wünsche der Einzelnen, den Bedarf der Wirtschaft, den Schutz der Landschaft und der Umwelt und die Vernetzung der Schweiz mit Europa in Übereinstimmung bringen konnten. Dazu gehörte auch, dass wir nicht unfertige Teile der Nationalstrasse als Bauruinen in der Landschaft stehen liessen. Und dazu gehörte, dass wir für den boomenden europäischen Güterverkehr die nötigen Kapazitäten bereitstellten, wenn wir nicht politisch und wirtschaftlich isoliert oder von einer Lastwagenlawine überrollt werden wollten. Der politische und wirtschaftliche Druck aus Europa, von der damaligen Europäischen Gemeinschaft EG, war gewaltig.
Und mit der NEAT haben Sie einfach diesem Druck nachgegeben?
Nein, die NEAT ist unsere eigenständige, schweizerische Lösung, für eine neue Verkehrspolitik, die wir selber bestimmt und beschlossen haben: den kombinierten Verkehr von Schiene und Strasse. Das waren knallharte Auseinandersetzungen mit den Europäern. Aber wir sind dabei nur erfolgreich gewesen, weil wir selber aktive geworden sind, proaktiv sozusagen. Und nach dreissig Jahren „Hüst und hott“, in denen Bundesrat und Parlament mal „Ja“ sagten“ zur Eisenbahntransversale und dann wieder „Nein“, wo die Ostalpen-Bahn gegen den Gotthard und gegen Lötschberg-Simplon in politischen Grabenkämpfen verfochten wurden, musste endlich eine klare, schnelle, eigentlich eine radikal einfache Entscheidung getroffen werden.
Und wie sah diese radikale Vereinfachung aus?
Verwaltung, Expertengruppen und Parlament hatten Tonnen von Papier produziert. Wir hätten ein Olympisches Schwimmbecken damit ausbetonieren können. Und da habe ich mich einmal, noch nachts um elf Uhr, in meinem Büro im Bundeshaus hingesetzt und mir eine Karte der Schweiz gezeichnet. Und darin habe ich als erstes eine Linie von Altdorf nach Biasca gezogen: das war der Gotthard-Basistunnel. Er verbindet die Ostschweiz und die Wirtschaftsmetropole Zürich mit dem Tessin und Italien. Aber die Gotthardachse allein lässt die ganze Westschweiz, einschliesslich Basel, Solothurn, den grossen Kanton Bern draussen. Warum sollten diese Regionen der Schweiz ein solches gewaltiges Projekt mittragen? – Sie mussten eingebunden werden. Und so zog ich die zweite Linie, von Spiez nach Raron/Visp. Damit war auch die Westschweiz an die NEAT angebunden; sie musste nicht nur Lasten mittragen sondern konnte auch von den Vorteilen profitieren. Und das Volk hat am 27. September 1992 diese Netzvariante der NEAT mit 63,6 Prozent Ja angenommen. Verkehrspolitik ist immer auch Staatspolitik, und ganz besonders in unserem Land der vier Regionen, vier Sprachen, 26 Kantone.
Also war das „Zeitfenster“ für die NEAT nichts anderes als ein staatspolitisch kluger Schachzug?
Nein, nicht nur. Das Fenster ging aus vielfältigen Gründen auf: Es gab einerseits gewaltig wachsenden Druck aus dem immer grösseren Europa. Der Gotthard-Strassentunnel war ein Magnet für den Schwerverkehr geworden. Die damalige EG (heute: EU) verlangte die Abschaffung der 28t-Tonnen Limite und die Aufhebung des Nachtfahrverbots. Und 1989 waren der Eiserne Vorhang aufgegangen und die Mauer in Berlin überwunden worden. Neue Märkte und noch mehr Verkehr zeichneten sich ab. Mir war klar: Wir mussten schnell handeln und wir mussten nach unseren eigenen Interessen handeln. Und die Mehrheit des Volkes teilte diese Auffassung. Es gab den festen Willen, die Alpen zu schützen und doch nicht isoliert zu werden. Und es gab die Überzeugung, dass dieses grosse Zukunftsprojekt sich lohnt: verkehrspolitisch, regionalpolitisch, umweltpolitisch, europapolitisch. Es ging darum, die Schweiz mit einer Weltklasse-Leistung positiv im Herzen Europas zu platzieren.