Vom Turm des Berner Münsters verkündet eine robuste Brustfigur ihre Botschaft ins weite Land hinaus. Aktueller könnte sie nicht sein: „nid nahla!“ steht eingemeisselt auf dem Schriftband. Die steinerne Skulptur hält es in ihrer linken Hand. Mit der Rechten fixiert sie das Kassenbuch. Es ist die Porträtkonsole von Karl Howald, dem beharrlichen Baukassier. [1] Seiner Energie und seiner Ausdauer ist es zu verdanken, dass das Berner Münster zwischen 1889 bis 1893 zur endgültigen Höhe von gut 100 Metern ausgebaut wird – und damit zum höchsten Sakralgebäude der Schweiz. Der zähe Kassenwart lässt nicht locker, bis das Werk vollendet ist.
Nicht nachlassen!
„Halten Sie durch!“ zählt wohl zu den meistgehörten Parolen dieser Shutdown-Zeiten – und beigefügt der Satz: „Die ganze Situation geht auch wieder vorbei und zurückkehrt die Normalität.“ Dann könne man in den Anstrengungen wieder nachlassen, heisst es von offizieller Seite besänftigend.
Dieser Nachklang wirkt befreiend; auf ihn hoffen und freuen sich unzählige. Endlich nachlassen und dem maskierten Dasein nach langem Warten Ade sagen. Zurück ins normale, unbeschwerte Leben. Wer möchte das nicht?
Lernen ist keineswegs etwas Leichtes
Doch vorläufig zählt nur eines: „Nid nahla!“ und „Nid lugg lo!“. Das gilt ja auch fürs Lernen, und zwar generell. Lernprozesse erfordern Einsatz; verlangt ist Ausdauer, gefragt Fleiss. Während langer Zeit gab es im Schulzeugnis darum sogenannte Fleissnoten. Ihre versteckte Botschaft: ohne Fleiss kein Preis. Das weiss jede junge Geigerin, das hat jeder Junioren-Fussballer verinnerlicht. Nur so wird aus dem nerventötenden Gekratze dereinst virtuose Musik, aus dem ungelenken Gekicke hohe Ballkunst. Üben heisst das Zauberwort; „nid nahla!“ wird zum ehernen Grundsatz.
Der Wert des Übens ging vergessen
Genau das Gegenteil aber versprechen IT-Konzerne und ihre computerbasierten Medien: mit digitalen Programmen und Produkten spielerisch leicht und ohne Anstrengung zu Lernerfolgen kommen. So schön die These klingt, so verführerisch falsch ist sie. Die Schalmeienklänge bringen der Digitalindustrie zwar viel Geld ein, verdrängen aber die Grammatik des Lernens: Bildung im Allgemeinen und Lernen im Besonderen seien nichts Leichtes, betont der Erziehungswissenschafter Klaus Zierer. [2] Da heisse es Üben und Automatisieren. Da gilt wohl Karl Howalds Prinzip des „Nid nahla!“
Vergessen ging leider „in der modernen Unterrichtskultur der Wert des Übens“, bedauert der Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich, Heinz Rhyn. [3] Um beispielsweise eine Information aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu bringen, braucht der Mensch sechs bis acht Wiederholungen. Das weiss man aus zahlreichen psychologischen Studien.
Der Unterricht muss herausfordernd sein
Zum Lernen, so Zierer, gehören auch Irrwege und Umwege; da gibt es Unterholz und Dickicht. Da stellen sich Misserfolg und Scheitern ein – und Fehler. Fehler in einem fehlerfreundlichen Klima führen weiter. „Failure is the mother of success“, heisst es. Darum darf es im Bildungsbereich nicht primär darum gehen, Lernen möglichst leichtzumachen. Es muss darum gehen, Lernen möglichst anspruchsvoll zu gestalten – und herausfordernd. [4]
„Nid nahla!“ gilt für Lernende wie für Unterrichtende. Der erfolgreiche Lehrer lenkt kontinuierlich und schülerzentriert die Lernprozesse, eine gute Lehrerin gestaltet als Regisseurin den Unterricht. Sie wirkt schüleraktivierend und ist mehr als nur Lernbegleiterin, mehr als lediglich Lernpartnerin, betont der profilierte Bildungsforscher Andreas Helmke. [5] Kinder und Jugendliche brauchen für ihr Lernen nicht einen „Guide at the Side“, sie bräuchten einen „Change Agent“, einen Lehrer, der sie weiterbringen will, der ermutigt und kognitive Ansprüche stellt, eine Lehrerin, die ihnen den Spiegel vorhält und lernprozessbezogenes Feedback gibt. Es sind Lehrpersonen, die intensives Lernen in einem förderlichen Klima ermöglichen, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung. Es sind Pädagogen, welche die Kinder und Jugendlichen in ihrer Möglichkeitsform sehen und sie darum so „nehmen“, wie sie sein könnten. Unermüdlich.
Die beharrliche Energie des „Nid nahla!“
„In der Schule war ich zu träge, um all das zu lernen, was ich heute gelernt haben wollte“, bekennt einer der erfolgreichsten Musiker im deutschsprachigen Raum, der österreichische Entertainer und Popsänger DJ Ötzi. [6] Und er fügt bei: „Mein Traum war es, Theologie zu studieren; das ging nicht ohne Abitur.“ Hätte er nur nicht nachgelassen! Und wäre er vielleicht zu Lehrerinnen und Lehrern in die Schule gegangen, die nicht nachgegeben oder gar aufgegeben hätten, wer weiss!?
Aufgegeben haben die Berner den Ausbau ihres Münsters. 1521 wird der Turmbau unterbrochen. Erst 1893 erreicht der Turm seine heutige Höhe. Es brauchte den unerschütterlichen Glauben und das beharrliche Feu sacré eines Karl Howald. Sein fester Vorsatz: „Nid nahla!“
[1] Paul Schenk (1963), Die Porträtkonsolen am Berner Münster. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 25, S. 83.
[2] Klaus Zierer (2018), Die Grammatik des Lernens, in: FAZ, 04.10.2018, S. 7.
[3] Alexandra Kedves, „Die Ablehnung des Drills war unheilvoll“, in: Tages Anzeiger, 07.12.2019, S. 7.
[4] John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 60.
[5] Vgl. Andreas Helmke (2015), Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber: Friedrich Verlag, S. 205f.
[6] In: DIE ZEIT, 23.12.2020, S. 13.