„Wir haben Klarheit über den Weg zur Lösung des Syrienkonflikts erzielt“, tönte US-Aussenminister John Kerry nach den Gesprächen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow am Wochenende in Genf.
Eingeständnis der Ohnmacht?
War es ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Beendigung des Kriegs in Syrien oder ein weiteres Eingeständnis der Ohnmacht? Kerry und Lawrow erklärten nach mehr als zwölfstündigen Verhandlungen, sie seien sich hinsichtlich der Durchsetzung einer Waffenruhe näher gekommen, doch die Einzelheiten müssten in den kommenden Tagen auf Expertenebene geklärt werden.
„Wir wollen keine Vereinbarung, die nicht durchsetzbar wäre“, sagte Kerry auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Lawrow. Laut Lawrow hat Russland von den USA eine Liste jener syrischen Gruppen erhalten, die sich einer Waffenruhe anschliessen wollen. Der russische Aussenminister konnte allerdings keine Garantie geben, dass auch das von Moskau unterstützte Regime Baschar Al-Asads zu einer Einstellung der Kampfhandlungen bereit ist.
Türkische Bodentruppen
Die syrischen Regierungstruppen befinden sich derzeit stellenweise auf dem Vormarsch. Sie haben nach vierjähriger Belagerung Daraja eingenommen, eine Vorstadt von Damaskus. Die 8'000 Einwohner erhielten unter dem Schutz der Uno freies Geleit, um den Ort verlassen zu können. Kerry nannte den Vorgang eine „erzwungene Kapitulation, die den Waffenstillstand vom Februar verletzt“. Daraja ist für die Regierungstruppen von strategischer Bedeutung, weil sich in der Nähe ein Militärflugplatz befindet.
Der Fall von Daraja ist vielleicht nur eine Frontbegradigung, die den Krieg nicht entscheiden wird. Grössere Auswirkungen hat der Einmarsch türkischer Bodentruppen im Norden Syriens. Die Regierung in Ankara rechtfertigt diese Verletzung fremden Territoriums mit dem Kampf gegen den selbst proklamierten „Islamischen Staat“ (IS), doch die türkischen Truppen kämpfen vor allem gegen die Kurdenmiliz YPG, die den IS bedrängt und jetzt einen breiten Streifen entlang der Grenze mit der Türkei kontrolliert. Erdogan will die Schaffung eines autonomen Kurdengebiets verhindern, doch die kurdischen Verbände werden in ihrem Kampf gegen den IS von den USA und Russland unterstützt. Mit Rücksicht auf die Türkei üben die beiden Grossmächte jetzt Druck auf die YPG aus, sich auf Stellungen hinter dem Fluss Euphrat zurückzuziehen.
Russland und die USA im Abseits
Washington und Moskau stehen erstmals unter echtem Zeitdruck, den grausamen Spuk in und um Syrien zu beenden. Aber die Fäden sind den Grossmächten aus den Händen geglitten. Was in Syrien nach Demonstrationen als ein Bürgerkrieg mit ausländischer Einwirkung begann, droht den gesamten Nahen Osten in Brand zu stecken. Der Syrienkrieg besteht in Wirklichkeit aus mindestens vier Kriegen mit unterschiedlichen Motiven, deren Ursprünge in der kolonialen und osmanischen Vergangenheit liegen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, die Ajatollahs in Teheran, das saudi-arabische Königshaus und einige andere Akteure lassen sich nicht mehr von den USA oder Russland lenken. Diese schmerzliche Erfahrung musste auch Wladimir Putin machen, als die Iraner kürzlich den Russen ihre frühere Erlaubnis entzogen, die Luftwaffenbasis Hamadan für Missionen in Syrien zu benutzen.
Ringen um Waffenstillstand
Kerry und Lawrow erklärten sich in Genf im Hinblick auf die Notwendigkeit einig, die Kämpfe in Syrien zu beenden und die Friedensgespräche zwischen den Konfliktparteien wieder aufzunehmen. Die USA und Russland wollen auch ihre Luftangriffe gegen den „Islamischen Staat“ und die „Eroberungsfront Syriens“ (die bis vor kurzem „Al-Nusra-Front“ hiess) koordinieren. Wie aber die übrigen Gruppen zu einem Waffenstillstand gezwungen werden sollen, bleibt im Dunkeln. Die beiden Aussenminister gaben die Aufgabe an ihre „Experten“ weiter, die in den kommenden Tagen in Genf die Einzelheiten ausklügeln sollen. In erster Linie geht es darum, sicherzustellen, dass keine Seite aus einer Waffenruhe militärische Vorteile ziehen kann.
Die Vereinten Nationen, denen eigentlich die Erhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit obliegt, geben sich bescheiden. Ihr Syrienbeauftragter Staffan de Mistura fordert bloss einen Waffenstillstand von 48 Stunden, um den Transport und die Verteilung von Hilfsgütern vor allem in Aleppo zu ermöglichen. Im Ostteil der umkämpften Grossstadt warten 80'000 Menschen auf das Lebensnotwendigste. Die vollen Lastwagen stehen bereit. Das Uno-Personal will auch das in beiden Teilen Aleppos zusammengebrochene Stromnetz reparieren, von dem 1,8 Millionen Menschen abhängig sind.
De Mistura hofft darauf, dass eine vorerst für 48 Stunden abgeschlossene Waffenruhe verlängert werden könnte. Denn solange der Krieg wütet, hat nach seiner Einschätzung die im Februar unterbrochene Friedenskonferenz keine Erfolgschance.