Bei Protesten gegen Israels militärisches Vorgehen ist oft die Parole «From the River to the Sea» mit im Spiel – für viele Beobachter Ausdruck der Parteinahme für Hamas. Doch unter israelischen Scharfmachern wird mit dem Schlachtruf «Eretz Israel» ein nicht minder ausschliesslicher Besitzanspruch erhoben.
Die Protestwelle von Lausanne, an der ETH in Zürich und der Universität in Genf scheint fürs Erste vorbei zu sein – also können wir uns jetzt in relativer Ruhe die Kommentare in den schweizerischen Leitmedien zu Gemüte führen. Sie waren geprägt von Ratlosigkeit, vermischt allerdings mehrheitlich mit einem Schuss von Verdächtigungen, die Protestierenden könnten vom Virus des Antisemitismus befallen sein. Israel-Kritik müsse, so der Tenor, selbstverständlich toleriert werden, aber der Slogan «From the River to the Sea, Palestine will be free», der sei auf jeden Fall unangebracht, weil er das Ziel der Hamas-Terroristen beinhalte, alle Juden aus der Region Palästina zu vertreiben. Und: Wer die israelische Regierung wegen der Zerstörungen im Gaza-Streifen und der gewaltigen Zahl von Todesopfern bei der Bevölkerung des Mini-Territoriums anprangern wolle, müsse jederzeit klarmachen, dass der Krieg am 7. Oktober durch den von Hamas-Terroristen begangenen Massenmord ausgelöst worden sei.
Als Journalisten bei den Protestierenden in Lausanne, Zürich und Genf an einzelne Teilnehmer und Teilnehmerinnen Fragen richteten, bekamen sie zur Antwort: Doch, wir verurteilen natürlich die Hamas-Morde vom 7. Oktober und wir fordern, dass Hamas die seit nunmehr über sieben Monate festgehaltenen Geiseln freilässt – aber wir fordern noch dringlicher, dass Israel damit aufhört, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu bombardieren.
Vielen Journalisten genügten solche Antworten nicht – zumindest zogen sie in ihren Kommentaren den Schluss, dass die Aktivistinnen und Aktivisten letzten Endes Sympathien für Hamas hätten und dass Antisemitismus «eben doch» eine unterschwellige Rolle spiele. Als Beweis wurde die bei den Demonstrationen oft verwendete Parole «From the River to the Sea …» herangezogen.
Parole der Vertreibung?
Also, befassen wir uns doch einmal mit diesen Worten, die nicht nur im Englischen, sondern auch im Arabischen eine klare Botschaft auszudrücken scheinen: «min al-nahr, ilaa al bahr, filastin hurra» lautet sie dort, also vom Fluss (gemeint ist der Jordan) bis zum Meer (Mittelmeer), wird Palästina frei sein. Wer fordert da was? Der Mainstream bei Hamas und viele Hamas-Versteher interpretieren ihn so, dass die ganze Region nur für Palästinenser «reserviert» sei, dass Israelis beziehungsweise Juden sie also verlassen oder aus ihr vertrieben werden müssten.
Es gibt daneben aber auch die harmlosere Lesart, die beinhaltet, Palästina müsse in dem Sinne frei sein, als man dort einen Staat mit gleichen Rechten für alle, also für Juden und Palästinenser, schaffen sollte. Also Realisierung der so genannten Einstaaten-Theorie, im Gegensatz zur Zweistaaten-Vision (Palästinensischer Staat an der Seite Israels). Viele Palästinenser erklären, für sie sei diese zweite Interpretation gültig, also keine Rede von der Idee einer Vertreibung der Juden.
Auf der Gegenseite: Eretz Israel
Aber wie steht es eigentlich mit der Idee, «Vom Fluss bis zum Meer» bei den Israelis? Bis vor einigen Jahren entsprach der Slogan der Ideologie einer Minderheit, jener des radikalen Kerns der Siedler-Bewegung. Sie benutzten ihn so direkt zwar nicht – sie beriefen sich stattdessen auf den Begriff von «Eretz Israel», also einen Ausdruck aus der biblischen Zeit. Oder genauer: aus verschiedenen biblischen Zeiten, denn je nach Quelle beinhaltet Eretz Israel das Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, oder über dieses Gebiet hinausreichend bis inklusive Sinai, oder – bei der dritten Version – bis zum Euphrat (das wäre also bis weit über Jordanien hinaus).
Aus der kleinen Minderheit der Siedlerbewegung ist eine Kraft geworden, die direkt in die jetzige Regierung von Benjamin Netanjahu hineinreicht. Die Minister Ben Gvir und Smotrich vertreten die Idee eines Israel «vom Fluss bis zum Meer» offen und offensiv. Netanjahu widerspricht ihnen nie, er lässt die beiden gewähren. Ben Gvir und Smotrich fordern, mal mehr, mal etwas weniger offen, den Exodus zumindest der Gaza-Palästinenser, wohin auch immer – was die Palästinenser im Westjordanland betrifft, sind ihre Aussagen etwas milder, das heisst, sie erlauben es den dortigen rund drei Millionen, weiterhin in der Region zu leben, beharren aber auf ihrem eigenen Recht, so viele weitere Siedlungen (also kleinere Städte) zu gründen, wie ihnen sinnvoll erscheint.
Politiker wie Ben Gvir, Minister also für die Nationale Sicherheit Israels, und Bezazel Smotrich, Minister für Finanzen und zuständig für den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland, scheuen sich nicht, den Konflikt anzuheizen. Smotrich leugnet ja auch die Existenz des palästinensischen Volks. Und beide (aber nicht nur sie) huldigen der Idee, dass Israel nicht durch einen Beschluss der Vereinten Nationen geschaffen worden sei, sondern dass es eigentlich schon immer existiert habe, mindestens seit der Zeit von König David, also seit rund 3000 Jahren.
Frage eines fernen Beobachters: Sind solche Aussagen etwa weniger aggressiv als der Hamas-Slogan «From the River to the Sea …»? Sie sind es klar nicht, und auch das sollten Journalisten, die sich kritisch mit den studentischen Protesten der vergangenen Tage befassen, in ihre Kommentare einfliessen lassen.