Georgien, kaukasischer Nachbar des Aggressionsstaats Russland, verfolgt seit Jahren das doppelte Ziel, Mitglied der EU und der Nato zu werden. Doch dasselbe Georgien verstösst seit einigen Monaten mit immer neuen Gesetzen gegen prinzipielle Grundregeln der Demokratie. Letztes Beispiel: das Parlament wollte ein «Agentengesetz» durchsetzen, das verdächtig ähnlich formuliert ist, wie das «Agentengesetz» Russlands. Tausende Menschen protestierten in Tbilissi aufgrund von Angst, dass die Obrigkeit das Land nun viel mehr «Russland-kompatibel» als EU-kompatibel machen könnte.
Die Regierung setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, im Parlament gab es Tumulte. Nach zwei durch Gewalt geprägte Tage und Nächte beschloss die Regierung schliesslich, das umstrittene Gesetz zurückzuziehen. Aber die Annäherung Georgiens an Europa wird vertagt.
Wer jemals Georgien bereist hat, musste sich beim Anblick der News-Bilder aus Tbilissi vom Mittwoch die Augen reiben: Ist das wirklich das gleiche Land, das ich, vor nicht langer Zeit, selbst erlebt habe? Ein scheinbar konsequent pro-europäisches, westlich orientiertes Land, dessen Bevölkerung traumatisiert ist vom Kurz-Krieg mit Russland im Jahr 2008 um die abtrünnige Region Süd-Ossetien und das sich fast permanent von der nachbarlichen Übermacht Moskaus bedroht fühlt? Das auf Schritt und Tritt in demokratischen Gewohnheiten verankert erschien und dessen Politikerinnen und Politiker nie müde geworden sind, ihren Wunsch nach Integration in den Westen (Europäische Union plus Nato) zu betonen?
Ambivalenz gegenüber Stalin
Ja, es ist das gleiche Land – und wer es in seiner unglaublichen Komplexität zumindest halbwegs (mehr ist für Aussenstehende wohl nicht möglich) verstehen möchte, möge sich in die Lektüre des Meisterwerks der georgischen Autorin Nino Haratischwili vertiefen: «Das 8. Leben». Das Buch ist allerdings 1250 Seiten dick. Es führt durch alle Sowjet-Jahrzehnte, den Terror Stalins (der bekanntlich Georgier war), hinein in die Zeit der Unabhängigkeit (1991), die so genannte Rosen-Revolution und die Jahre unter Micheil Saakaschwili (der jetzt in einem Gefängnis-Hospital Georgiens um sein Leben kämpft, weil die derzeitige Regierung des Landes ihn am liebsten sterben sehen möchte), und weiter bis in die Fast-Gegenwart. Wer es bis zu Ende gelesen hat, versteht in Ansätzen auch die neueste Aktualität – versteht sie als Hinweis auf die offenkundig nie endenden inneren Widersprüche Georgiens.
Am eklatantesten sind sie an der Ambivalenz gegenüber der Person des Diktators Stalin zu erkennen. Stalin war, wie erwähnt, Georgier – doch wer, beispielsweise, im Nationalmuseum in Tbilissi nach den Spuren des Gewaltherrschers sucht, wird nur mit Mühe fündig. Eine Portrait-Aufnahme schliesslich weist auf seinen Namen hin – gekennzeichnet wird Stalin dort als Marschall, als militärischer Beglücker all der Ethnien in der Sowjetunion, der die Menschen von Hitler und den deutschen Angreifern im Zweiten Weltkrieg befreit hat. Der «Gutmensch» Stalin dominiert auch im Museum in Gori, rund 100 Kilometer nordwestlich von Tbilissi – einzig ein paar Texte weisen, wie verschämt, auf die Gräueltaten der stalinistischen Epoche hin. Die vom Museum angestellte Historikerin erklärt dazu, sinngemäss, es habe leider in der Umgebung Stalins ein paar Leute gegeben, die Böses angerichtet hätten. Geht man im Museum dann nur einen Raum weiter, steht man in einem fast sakral anmutenden kleinen Rotunden-Saal, in dessen Mitte eine Kopf-Nachbildung Stalins wie aufgebahrt liegt.
Der Stalin-Kult findet in Georgien nur auf eng begrenzten Territorien statt (ausser in Gori noch in der Kleinstadt Muchrani, wo erst vor kurzem eine Stalin-Statue aufgestellt wurde). Sonst beherrscht weitgehend Geschichts-Verleugnung die öffentliche Debatte. Die meisten Gespräche laufen darauf hinaus, dass Georgien «eigentlich» mit der Geschichte der Sowjetunion nichts zu tun habe – bisweilen wird noch erklärt, Stalin sei ja gar kein wirklicher Georgier gewesen, sondern vielmehr Ossete. Gegen die Tendenz zur Verwedelung richtet sich fast nur die Organisation SovLab («Laboratorium zur Erforschung der sowjetischen Vergangenheit»), 2010 von Historikern und Nachkommen von Opfern gegründet. Gegenüber dem Journalisten Reinhard Veser von der FAZ allerdings sagte einer der SovLab-Historiker dieser Tage, es werde immer schwieriger, an Dokumente aus sowjetischer Zeit zu kommen, und dies nicht wegen bürokratischer Probleme, sondern aufgrund staatlicher Politik.
Was will der Milliardär Iwanischwili?
Was also ist das Wesen dieser jetzigen staatlichen Politik? Sie ist zumindest doppelbödig. Die Staatspräsidentin, Salome Surabischwili, verfolgt eindeutig einen pro-Demokratie-Kurs und möchte Georgien gerne so bald wie möglich EU-kompatibel machen. Der Regierungschef, Irakli Gharibaschwili, gehört zur Partei «Georgischer Traum», die sich in den ersten Jahren der Regierungsverantwortung, also nach 2012, als progressiv und pro-westlich profilierte. Was allerdings nie klar wurde, war, welche Linie der starke Mann im Hintergrund, Bidsina Iwanischwili, verfolgte.
Iwanischwili hat sein Milliardenvermögen im Russland der 90er Jahre (also in der Zeit der Präsidentschaft von Boris Jelzin) gemacht, er kehrte 2003 nach Georgien zurück und profilierte sich als Wohltäter (die Bewohner seines Geburtsdorfs wurden mit einem wahren Geldsegen bedacht) und Förderer der Demokratie. Ein knappes Jahr lang war er Premierminister Georgiens, dann zog er sich offiziell aus der Politik zurück und thront jetzt in einem über den Hügelzügen Tbilissis errichteten supermodernen Villenbau. Spätestens seit dem Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine änderte er seine Strategie. Die nunmehr von seiner Partei, dem «Georgischen Traum», verfolgte Grundlinie ist darauf ausgerichtet, möglichst nichts zuzulassen, was den grossen Nachbarn im Norden provozieren könnte.
Der Versuch, das eingangs erwähnte «Agentengesetz» durchzusetzen, ist das eklatanteste Beispiel – es sollte, gemäss Wortlaut, georgische Medien und politische Organisationen eigentlich nur dazu zwingen, ihre Finanzierung offenzulegen, was im Klartext bedeutet hätte, Geldzuflüsse aus westlichen Quellen bekannt zu geben. Tatsächlich erhalten Medien und pro-Demokratie-Gruppierungen in Georgien finanzielle Zuschüsse aus dem Westen, in dem Sinne, als geholfen werden soll, das Land EU-kompatibel zu machen.
Vorerst ein Erfolg der Demonstranten
Beträchtliche Zuschüsse bekommt übrigens auch der Staat. Das Problem mit dem «Agentengesetz» ist jedoch seine offenkundige Parallele zu dem vom Putin-Regime in Russland durchgesetzten Gesetz gleichen Namens, das dazu geführt hat, die politische Opposition und die unabhängigen Medien mundtot zu machen. Es war die Furcht vor einer Weichenstellung in Richtung des russischen Schreckenswegs, die dieser Tage die Menschen in Georgien zu Tausenden auf die Strassen trieb und sich den Wasserwerfern und Tränengas-Granaten der Obrigkeit in Tbilissi entgegenzustellen.
Fürs Erste haben die Demonstrierenden die Auseinandersetzung gewonnen. Aber eine böse Vorahnung bleibt – bei nächster Gelegenheit könnte sich die Strategie des «Georgischen Traums» vielleicht doch noch zum georgischen Albtraum entwickeln, d. h., dass die aus dem Hintergrund operierenden Kräfte das Land von seinem Pro-EU und Pro-Nato-Kurs abbringen und Georgien generell näher an die Moskauer Linie zwingen würden.