Eine Vollmondnacht in Griechenland gibt Anlass, über die Rolle des Mondes in der Mythologie und über die Frage nachzudenken, wieso Sonne und Mond in verschiedenen Kulturen unterschiedliches Geschlecht haben.
Agios Dimitrios, in der Mani auf dem Peloponnes: In der Nacht vom 8. zum 9. November 2022 ist Vollmond. Frühmorgens scheint das milchig-helle Licht direkt auf mein Bett und weckt mich. Instinktiv suche ich nach meinem Handy und mache ein Foto, ein einziges und ohne meinen Stand- bzw. Liegeort zu verändern. So finden – ungeplant – das Erhabene und das Banale zusammen, der Mond über dem golden glitzernden Golf von Messini und der Abwaschlappen an der Wäscheleine auf der Terrasse.
Ein paar Wochen später – die Ferien in Griechenland sind längst vorbei – finde ich endlich Zeit und Musse, mich hinter den geplanten Beitrag über den Palast des Nestor zu machen. Als ich die Ferienbilder vom Handy auf den Computer transferiere, fällt mein Blick auf die mondbeschienene Wäscheleine, und ich komme ins Grübeln:
Welche Rolle spielt eigentlich der Mond in der griechischen Mythologie? – Hierarchie und Funktion im griechischen Götterhaus sind – nicht anders als in europäischen Königshäusern – komplex und oft vieldeutig. Mit dem Mond verbunden sind Kallisto (wörtlich: die Schönste) und Artemis, welche zusätzlich zu ihrem «Hauptamt» als Göttin der Jagd auch für Geburt, Jungfräulichkeit und eben auch für den Mond zuständig ist. Mit dem Gott Cycnus (Schwan) gibt es sogar einen männlichen Mondgott. Aber die wichtigste Gottheit des Mondes ist Selene aus dem Göttergeschlecht der Titanen, Schwester des Helios und der Eos, der viel zitierten rosenfingrigen Morgenröte. Selene war Namensgeberin für das chemische Element Selen, das 1817 vom schwedischen Gelehrten Jöns Jakob Berzelius entdeckt worden ist. Dieser gab dem neuen Stoff wegen dessen chemischer Ähnlichkeit mit dem Element Tellur (von lateinisch tellus, Erde) den Namen des Mondes.
Selenes Wagen wird von zwei weissen Kühen über den Himmel gezogen – im Gegensatz zum Gefährt ihres Bruders Helios, des Sonnengottes, vor dessen Wagen vier Hengste stehen: Sozusagen zwei KS (Kuhstärken) für die Göttin, vier PS (Pferdestärken) für den Gott. – Man wäre – alles astronomische Wissen vernachlässigend – versucht zu fragen: Ist das der Grund, wieso der Mond jeden Tag gegenüber der Sonne etwas zurückfällt, weil er mit dem Sonnenwagen nicht mithalten kann?
Doch im Ernst: In den meisten Mythologien und polytheistischen Religionen ist die Sonne mächtig und meist männlich, aber nicht immer, wie wir Deutschsprachige wissen. Einer Liste der Sonnengottheiten entnehme ich, dass ausser der nordgermanischen weiblichen Sonne (Sunna/Sol) und dem entsprechenden männlichen Mondgott Mani – welch seltsamer Zufall: Der germanische Mondgott heisst gleich wie das griechische Bergland auf dem Peloponnes, wo wir unsere Ferien verbringen – auch bei den Hethitern die Sonne weiblich war, ebenso bei den Inuit oder im japanischen Shintoismus.(1) Und schliesslich sind, unabhängig von der Geschlechterverteilung, die Mond- bzw. Sonnengottheiten oft Geschwister oder Liebespaar.
Dass die Zuordnung des Genders zur Sonne schon immer ambivalent gewesen sein muss – nicht nur zwischen, sondern oft auch innerhalb der Kulturen –, erstaunt nicht: Einerseits identifiziert sich die Männlichkeit gerne mit der von Kraft strotzenden Sonne, andererseits haben die Menschen, insbesondere seitdem sie Bauern geworden sind, die Sonne als DAS lebensspendende, also weibliche Gestirn erkannt, lange bevor die Forschung mit der Entdeckung der Photosynthese dazu den wissenschaftlichen Beweis geliefert hat: Ohne Sonne kein Leben – fast kein Leben, müsste man aus heutiger Sicht beifügen, denn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in der Tiefsee die hydrothermalen Spalten entdeckt, wo aus dem Untergrund heisses Wasser mit besonderer chemischer Zusammensetzung aufsteigt und die Grundlage für ein von der Sonne völlig unabhängiges Ökosystem bildet, für eine Nahrungspyramide also, welche letztlich ihre Energie aus dem radioaktiven Zerfall im Erdinnern und nicht von der Sonne bezieht …
Aber ich bin abgeschweift. Suchen wir den Weg zurück zum Himmel, genauer: zum Mond. Nüchtern gesagt: Leben auf der Erde gäbe es auch ohne Mond. Also stellt sich die Frage: Hat die «biologische Nebenrolle» des Mondes Einfluss auf dessen Position im Götterhimmel? Und spielt sie eine Rolle bei der Geschlechterzuteilung?
Tatsächlich scheint es, dass Selene im Vergleich zum Helios in den unzähligen Geschichten der griechischen Mythologie eher eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Nicht einmal mit der rosenfingrigen Eos, die in der Odyssee wenigstens die Rolle des im Zirkus längst verschwundenen Nummerngirls einnimmt und die Gesänge einleiten darf, kann es Selene aufnehmen.
Mondgottheiten sind tatsächlich meist weiblich, und dort, wo sie männlich sind bzw. wo es männliche Varianten gibt wie in der griechischen Mythologie mit Cycnus, haftet ihnen etwas – wie man heute sagen würde – Non-Binäres an. Nur im Deutschen scheint es anders zu sein, denn …
«Pass auf, lieber Schreiberling!», unterbricht mich eine vorwurfsvolle weibliche Stimme, «mit dieser Frage begibst du dich sozusagen in Hausschuhen aufs Glatteis oder ohne Steigeisen auf den Gendergletscher. Weisst du denn nicht, dass der deutsche Mond von uns Frauen dank des Gendersterns – halt, ich korrigiere mich: dank der Gendersternin – MONDIN genannt wird?»
«Einspruch!» tönt es aus einer andern weiblichen Ecke. «Ich bin stolz darauf, dass ich dem Geschlecht der Sonne angehöre. Frauen und die Sonne, diese Verbindung hat eine lange Tradition, viel länger als ‚die Mondin’. In alten, nicht ganz so patriarchalen Kulturen war der Mond männlich, die Sonne weiblich. (…) Die mächtigste Gottheit, die Licht, Wärme und Leben spendet: eine Frau. Der Mond, dieses wankelmütige Gestirn, das mal da war und mal weg: Das waren die Männer, deren Jagdzeiten sich am Licht des Mondes orientierten. (…) Vor rund 2000 Jahren eroberten die Römer die Welt. (…) Ihre patriarchalische Kultur brach die Kraft der Frauen, nahm ihnen die Sonne und überliess ihnen dafür den Mond. In den romanischen Sprachen wurde der Mond zu la lune und la luna. Die Sonne wurde zu le soleil, il sole oder el sol. Nur in der deutschen Sprache hat sich dieses mächtige matriarchalische Erbe erhalten. Und nun kommen ausgerechnet die Frauen daher und wollen es ändern?!»(2)
Ob es im Götterhimmel der alten Ägypter, Hethiter, Griechen und Römer wohl auch schon so heftig zugegangen ist im Streit der Geschlechter? – Als Mann ist es wohl klüger, sich hier zurückzuhalten. Allerdings scheint es mir, im Kampf um die Sonne gerate die Rolle des Mondes alias Mondin etwas unter die Räder. Dabei hätte auch er seine grossen Stunden, in der Malerei zum Beispiel. Paul Jandl hat vor ein paar Jahren in der NZZ unter dem Titel «Die Kunst ist wie der Hund: Beide sind vom Mond und von seinem Anblick unheilbar besoffen» einen wunderbaren Artikel über die Rolle des Mondes als Projektionsfläche innerer Welten publiziert. Diese Rolle überlebte auch dann, als die Wissenschaft dank Teleskop und später dank Raumfahrt den Mond als simplen Gesteinsklumpen entlarvt hatte. Zum bekannten Bild von Caspar David Friedrich «Zwei Männer in Betrachtung des Mondes» schreibt Jandl: «Besser als die Sonne kann der Mond die metaphysischen Schlagschatten unseres Daseins sichtbar machen.»
Mein persönliches Fazit: Sonne und Mond vereinen so viel an Kraft und symbolischer Bedeutung, dass man – ob Mann oder Frau – Anteil am Wesen beider haben möchte. Neudeutsch gesagt: Lasst den Himmel und seine Gestirne non-binär sein!
PS: Und wo bleibt Nestors Palast, über den ich ursprünglich schreiben wollte? Vielleicht hat der Mond ihn verführt. Stellen Sie sich vor, liebe Leserin, lieber Leser: Nestor liegt in seiner berühmten Badewanne, bei Vollmond natürlich, und denkt über das Geheimnis des Lebens nach. Mehr wäre nicht zu sagen.
(1) Auf Youtube gibt es einen kurzen Film, welcher die in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Genderzuordnung anhand des Deutschen und Französischen thematisiert.
(2) Zitat aus Dagmar Steigenberger: «Frauen, kommt in eure Kraft»