Der Blick ist einfach atemberaubend. Hier oben, vom Berg Erpenscheid, bietet sich dem Auge so ziemlich alles, was die Westeifel an landschaftlicher Schönheit aufzuweisen hat: grüne Wälder bis zu den Horizonten diesseits und jenseits der belgischen Grenze, steile Hänge mit tief eingeschnittenen Senken und dazwischen, ganz unten, das dunkle Stauwasser des sich durch zahlreiche Täler hin schlängelnden Urftsees. Ein Ort zum Verweilen, ein Traum zum Ausruhen etwa für jene Wanderer, die sich aufgemacht haben, den von Kornelimünster bei Aachen bis Trier führenden Eifelsteig zu bewältigen.
Vom Traum zum Trauma gibt es indessen nicht nur sprachlich eine Nähe. Denn ungeachtet seines poetischen Namens „Vogelsang“ symbolisiert gerade dieser Platz auf dem Hochplateau unweit des malerischen Städtchens Schleiden ein nicht unbedeutendes Stück jener unseligen Geschichte, die von dem Begriff „Deutschland“ wohl nie ganz zu löschen sein wird. Hier oben, auf einem Areal von rund hundert Hektar, entstand zwischen 1934 (Grundsteinlegung) und 1939 mit einer Brutto-Geschossfläche von mehr als 50’000 Quadratmetern eines der grössten nationalsozialistischen Bauwerke in Deutschland – die „Ordensburg Vogelsang“. Insgesamt existierten im „Dritten Reich“ drei dieser Komplexe, von denen „Vogelsang“ allerdings der weitaus umfangreichste war. Die anderen: die „Ordensburgen“ in Sonthofen (Allgäu) und im pommerschen Krössinsee (heute Polen). Eine vierte, in Ostpreussen vorgesehene, blieb im Stadium der Planung stecken.
Die künftigen Führungskader
Bemerkenswert an diesen Einrichtungen war nicht so sehr der dahinter stehende Zweck. Dieser gehört – egal, ob faschistisch oder sozialistisch – in allen diktatorischen Regimen gleichermassen zur ideologischen Grundausstattung. Nämlich: Durch entsprechende Erziehungs-, Bildungs- und auch Verführungsmassnahmen junge Menschen in möglichst kurzer Zeit zu überzeugten, besser noch: fanatischen, Parteigängern und künftigen Führungskadern heranzuziehen.
Wirklich beeindruckend war (und ist noch immer) vielmehr das einerseits nüchtern-kühl durchdachte und doch gleichzeitig auf psychologische Tiefenwirkung zielende Kalkül, mit dem die nationalsozialistischen Machthaber ihre gläubigen Jünger an sich zu binden wussten. Wer Aufnahme in einer „Ordensburg“ fand, durfte sich zur absoluten Elite zählen, wurde ein „Junker“, stand mithin – gleichsam geadelt – weit über der Masse. Hier unter anderem wurde der Samen gelegt, aus dem dann jener „Herrenmensch“ hervorging, der für sich und sein Volk das Recht beanspruchte, sich über andere Völker zu erheben und diese (weil angeblich „minderwertig“) sogar zu vernichten.
Klar, man kann „Vogelsang“ beschreiben, kann schildern, wie der Kölner Architekt Clemens Kotz (auch Schöpfer des gigantomanen Kraft-durch-Freude-Hotelkomplexes Prora auf Rügen) die Ideen des in der Nähe von Waldbröl im Bergischen Land geborenen „Reichsarbeiterführers“ Robert Ley in Beton goss und mit Eifeler Grauwacke ummantelte. Doch, um wirklich einen nachhaltigen Eindruck von der mächtigen Gesamtanlage und deren geistig-ideologischem Hintergrund, von diesem aus Stein gemauerten Machtanspruch über Mensch und Natur zu bekommen, muss man dort gewesen sein. Hier wurde, wie es der Historiker und wissenschaftliche Leiter des Ortes, Stefan Wunsch, ebenso bildhaft wie richtig beschreibt, „die Landschaft degradiert zur Bühne für die Selbstdarstellung der Nazis“.
Der Weg zum „Herrenmenschen“
Seit dem September vorigen Jahres existiert zudem, nach jahrelanger wissenschaftlicher Vorarbeit, auf „Vogelsang“ in einem neuen Besucherzentrum und in eigens dafür geschaffenen Räumlichkeiten eine eindrucksvolle Dauerausstellung unter dem Titel „Bestimmung: Herrenmensch. NS-Ordensburgen zwischen Faszination und Verbrechen“. Vielleicht ist es das gewollt neutral gehaltene Ambiente, das den Betrachter umso stärker auf die Kernfrage lenkt, was denn wohl die Gründe sind, die junge Männer bis hin zur Selbstaufgabe jeglicher Individualität in den Bannkreis einer menschenverachtenden Ideologie locken. Ja, mehr noch: sie am Ende sogar Stolz darüber empfinden zu lassen, sich an schlimmsten Verbrechen beteiligen zu dürfen.
Diese Frage stellt sich dem Besucher gleich am Eingang zu der Ausstellung bildhaft. Ein Foto zeigt eine Gruppe ganz offensichtlich fröhlicher Männer in lockerer Unterhaltung. Lebensgross. Jeder, der hier hereinkommt, soll das Gefühl erhalten, sich eigentlich sofort in diese Schar einreihen und an den Gesprächen beteiligen zu können. Von der Szene geht nichts Abstossendes aus. Wieso auch? „Es sind ganz normale junge Männer, wenn man sich die Uniform wegdenkt“, sagt dazu der Historiker Klaus Ring über die neuen „Ordensjunker“. Und: „Es waren keine Monster; wenigstens nicht am Anfang.“
Was diese Schau besonders auszeichnet: Sie gibt keine vorformulierten Antworten, sondern ermuntert den interessierten Beobachter, sich selbst auf Spurensuche nach Erklärungen zu begeben. Und vielleicht die Frage nachwirken zu lassen, wie man sich unter jenen Verhältnissen wohl selbst verhalten hätte. Ausserdem: Gibt es nicht auch in unserer Zeit vergleichbare Situationen auf der Welt?
Arbeits- und orientierungslos
Wer also waren die am Ende 2’200 Männer, die bis 1939 das Schulungssystem in den drei „Ordensburgen“ durchlaufen haben, die sich drei Jahre lang dem fast mönchischen Leben und der unerbittlich strengen, vom Frühsport um sechs bis zum Zapfenstreich um 22 Uhr minutiös durchgetakteten Zucht unterwarfen?
Auf einer Schautafel mit vielen Fotos sind Lebensläufe aufgelistet: Zwischen 25 und 30 Jahre alt waren die meisten. Eine grosse Anzahl hatte die Väter im Ersten Weltkrieg verloren. Häufig ist das Wort „arbeitslos“ zu lesen. Sie alle einte allerdings, dass sie schon geraume Zeit in der NSDAP aktiv tätig waren. Und nun gab ihnen, den Arbeits- und Orientierungslosen, diese Partei nicht nur soziale Sicherheit, Karriere und gesellschaftliche Anerkennung, sondern vermittelte darüber hinaus auch noch das Gefühl, zu einer besonderen, einer auserwählten Elite zu gehören.
In einer solchen verschworenen Gemeinschaft trafen denn verständlicherweise auch Parolen wie „hart wie Kruppstahl, zäh wie Hosenleder und flink wie Windhunde“ auf offene Ohren. Nicht nur, um hart gegen sich und andere zu werden. Vielmehr unterstrich das elitäre sportliche Angebot zusätzlich noch das Empfinden des Herausgehobenseins – Fechten, Reiten, Fliegen, Boxen. Ausserdem waren Hitler und seine Gefolgsleute auch noch wahre Meister darin, auf der Klaviatur der Gefühle, der Mythologien und nicht zuletzt religiöser Riten und Gebräuche zu spielen. Noch heute sind in „Vogelsang“ der Thingplatz und das Rund zu sehen, auf dem – germanisch – die Sonnenwendfeier mit Feuer und Fackelaufzug begangen wurde. Und mochte das Regime auch noch so gnadenlos den Weg der Gottlosigkeit beschreiten – auf vor allem katholisch vorgeprägte religiöse Rituale griff es gern zurück. Natürlich mit eigener, atheistischer Auslegung.
Blutige Spuren im Osten
Das System „Ordensburg“ hat seine „Bewährungsprobe“ letztendlich nicht wirklich unter Beweis stellen können. Der Kriegsausbruch machte dem ein Ende. Die „Junker“ wurden 1939 zunächst der Wehrmacht unterstellt. Und doch ist in nicht wenigen Fällen die böse Saat aufgegangen. Zahlreiche Herrenmenschen-Schüler wurden vor allem in den von der Wehrmacht eroberten Ostgebieten eingesetzt und hinterliessen bei Umsiedlungen und Judenverfolgungen in Polen, den Baltischen Ländern, in Weissrussland und der Ukraine blutige Spuren. Auch ihre Namen und Taten sind in „Vogelsang“ zu finden.
Doch der heutige Ort auf den Höhen der Eifel verbreitet zum Glück nicht nur Düsternis. Nur einen Steinwurf entfernt ist seit einigen Jahren einer der schönsten Naturparks Deutschlands „in Betrieb“. Seine Verwaltung sitzt auf dem Areal der einstigen „Ordensburg“. Und wenn die Besucher nach ihrem Forschen in dunklen Zeiten nach Licht, Luft und Natur lechzen – kundige Ranger bieten spannende, erlebnisreiche Führungen an.