Inhaltsübersicht
I. Fragen über Fragen
Heftige Kontroverse in der Schweiz
II. Der obligatorische Gegenvorschlag
Inhalt, Ziel und Wirkung
III. Der neue Verfassungstext
Ein Entwurf
IV. Wer zieht die Grenzen?
Inkompatibilitäten zu hohen Rechtsgütern in Volksinitiativen sind nicht immer klar abzugrenzen. Wer soll und darf die Grenzen ziehen?
V. Die direkte Demokratie braucht immer wieder Reformen
Wir stimmen viel ab, aber mit den direktdemokratischen Instrumenten sind wir so zufrieden, dass wir keinen Gedanken an ihre Tauglichkeit heute 2013 und an ihre Weiterentwicklung verschwenden. Sie muss aber, unsere Vorfahren haben uns das gelehrt, dem Wandel von Zeiten und Werten immer wieder angepasst werden. Heute den grossen Wandlungen in der Welt und Europa seit 1945.
VI. Unsere direkte Demokratie welt- und europafähig machen
Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten globalisiert, Europa integriert. Alle Staaten sind miteinander vernetzt, absolute Souveränität ist nicht mehr möglich. Was hat sich gewandelt? Wirtschaft: Globalisierung. – Europa: Der EU-Binnenmarkt. – Völkerrecht: Zwingendes und nichtzwingendes. – Menschenrechte: Die Strassburger Konvention und ihr Gerichtshof. – Schweizer Bundesverfassung: Ein internes Sonderproblem, das mit der gleichen Reform gelöst werden könnte.
VII. Warum obligatorisch?
Gegenvorschläge in dem hier beschriebenen Sinn sind seit langem möglich, werden aber nie praktiziert. Wenn man in Volksinitiativen Rechts-Inkompatibilitäten entdeckt, muss man sie ausmerzen, ohne ihre anderen Teile zu berühren; das wird der obligatorische Gegenvorschlag. Das Parlament kann dem Volk einen zweiten Gegenvorschlag unterbreiten, der die rechtsinkompatiblen Teile wie der erste ausmerzt, aber die Initiative auch inhaltlich ändert.
VIII. Unterschiedliche Fälle, unterschiedliche Lösungen
Wie sieht der obligatorische Gegenvorschlag, wie sieht die Abstimmungspraxis in den verschiedenen Fällen aus? Initiativen im Widerspruch zu: Staatsverträgen – zu bilateralen EU-Abkommen – zum Völkerrecht – zu den Strassburger Menschenrechten – zur Bundesverfassung
ANHANG: Illustrationen und Diskussionen
IX. Wie die Schweiz früher die Volksrechte weiterentwickelte
1848, 1874, 1891, 1921
X. Ein Präzedenzfall: Die Alpen-Initiative 1994
Ein historisch-hypothetisches Beispiel für den obligatorischen Gegenvorschlag
XI. Müssen Volksvertreter gegen ihre eigene Meinung stimmen? Ja!
Das müssen sie seit der ersten Schweizer Bundesverfassung 1848 und der Einführung der Volksinitiative. Es tangiert ihre Meinungsfreiheit nicht, denn wenn sie mit dem bloss von Rechtsverstössen gereinigten Inhalt der Initiative nicht einverstanden sind, können sie diesen von ihnen selbst ausgearbeiteten obligatorischen Gegenvorschlag, der alle anderen Postulate der Initiative enthält, zur Ablehnung empfehlen. Sie können ihm auch einen selbst gestalteten, von der Initiative abweichenden Gegenvorschlag hinzufügen. Einzige Bedingung: Auch er muss rechtskompatibel sein.
XII. Direkte Demokratie in der EU?
Wie wäre das mit unseren Volksrechten, wenn wir in die EU einträten? Schwierig.
XIII. Irrungen und Wirrungen von EGMR-Richtern
Die Kruzifixe in Italien, der Nigerianer in der Schweiz
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I. Fragen über Fragen
In der Schweiz herrscht Streit und Konfusion über den immer wieder auftretenden Konflikt zwischen Volksinitiativen und internationalen Verpflichtungen, die wir eingegangen sind, und manchmal sogar mit nationalem Verfassungsrecht.
Darf das Volk alles, oder muss es rechtliche Schranken beachten? Müssen sich Initiativtexte einer rechtlichen Vorprüfung unterziehen? Dürfen Initiativen, die hohen Rechtsgrundsätzen oder bindenden internationalen Verträgen und Verpflichtungen widersprechen, für ungültig erklärt werden? Selbst nachdem sie im Volk eine Mehrheit gefunden haben? Wenn ja, wer soll darüber richten? Dürfen fünf Bundesrichter den demokratischen Entscheid von drei Millionen Stimmbürgerinnen und -bürgern annullieren? Oder soll das Parlament entscheiden? Der Bundesrat? Oder gar, bisher nie erwogen, das Volk selber?
Diese Debatte weckt in unserer direkten Demokratie Leidenschaften und reisst Gräben auf. Da stehen jene, denen die Volkssouveränität über alles geht, sie ertragen es nicht, dass Gremien von wenigen Leuten über Entscheide des Volks richten dürfen. Verteidiger des Rechtsstaats werden wütend, wenn das Volk Völkerrecht, Menschenrechte, rechtsstaatliche Grundsätze, Staatsverträge, sogar die eigene Bundesverfassung oder andere für unantastbar geltende Werte verletzt. In der NZZ vom 12.Oktober 2013 schreibt die Bundesgerichts-Korrespondentin Katharina Fontana, dass sich in dieser Frage sogar die Bundesrichter uneins sind.
Beide Standpunkte verraten Engagement, der eine für die Volksrechte, der andere für den Rechtsstaat. Die Verabsolutierung des einen oder des anderen würde aber zur Diktatur des Volkes oder der Richter führen. Ein „Richterstaat“, wo Richter Kompetenzen usurpieren welche dem Parlament oder dem Volk zustehen, ist inakzeptabel. Ebensowenig darf es aber auch eine Volksherrschaft ohne alle Grenzen geben. Zwischen beiden Überzeugungen muss ein Kompromiss gesucht werden, der beide Prinzipien berücksichtigt. Diesen Kompromiss hat die Schweizer Politik noch nie gefunden.
Hier ein Vorschlag, wie ein neuer Artikel in der Bundesverfassung den Streit entschärfen und oft auch für die unterlegene Seite akzeptabel beilegen kann:
II. Der obligatorische Gegenvorschlag
Wenn Zweifel über die Vereinbarkeit einer Volksinitiative mit internationalen Verpflichtungen oder anderen hohen rechtlichen Grundsätzen bestehen, dann hat die Bundesversammlung die Pflicht, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten, der den ganzen Text der Initiative wörtlich übernimmt mit Ausnahme einzig der von ihr für unvereinbar gehaltenen Elemente. Initiative und Gegenvorschlag werden dem Volk als Alternativen zur Abstimmung vorgelegt. In die Verfassung kommt der Text, der mehr Stimmen erhält, ausser wenn beide abgelehnt werden.
Sein Ziel und seine Wirkung: Dem Volk eine informierte Wahl ermöglichen.
Bei solchen Initiativen weiss der Abstimmende zur Zeit kaum, dass sie rechtliche Probleme oder Unvereinbarkeiten schaffen. Auf dem Abstimmungszettel sieht er nur die formelle Frage, ob er sie annehmen will, und allenfalls einen Gegenvorschlag, der weit von ihr abweicht. Die mit einer Annahme der Initiative verbundenen Rechtsprobleme werden in den Abstimmungserläuterungen des Bundesrates erwähnt, aber kaum gelesen, und in der Kampagne verschwinden sie unter der Polemik für und gegen die politischen Ziele.
Wenn die Bürger und Bürgerinnen auf dem Stimmzettel aber zwei Vorlagen vor sich sehen, zwischen denen sie wählen müssen, zwischen der Initiative und dem obligatorischen Gegenvorschlag, springt ihnen das Problem in die Augen, denn der einzige Unterschied betrifft den rechtsinkompatiblen Inhalt. Beide Varianten der Initiative erscheinen auf dem Stimmzettel gleichgewichtet. Der obligatorische Gegenvorschlag führt ihnen vor Augen, dass da ein Konflikt und oft ein grosses Risiko für die Schweizer Aussen- oder Innenpolitik besteht, und ermöglicht ihnen eine informierte Wahl. Aber sie entscheiden selber, nicht die Richter. Die Wahl zwischen un-rechtlichen und rechtlichen Verfassungsartikeln, zwischen Verletzung von internationalem oder Menschenrecht und dem Originaltext der Initiative steht auf dem Abstimmungszettel.
III. Der neue Verfassungstext
Hier der Text, der mir für den neuen Artikel in der Bundesverfassung vorschwebt. Ich bin nicht Jurist und überlasse die genaue Formulierung den Staats- und Völkerrechtlern.
Besteht eine begründete Annahme, dass eine eingereichte Volksinitiative gegen die geltende Bundesverfassung, gegen in Kraft stehende Staatsverträge der Schweiz mit anderen Ländern oder gegen zwingende völker- und menschenrechtliche Grundsätze verstösst, dann arbeitet die Bundesversammlung obligatorisch einen Gegenvorschlag aus, der sämtliche Anliegen der Initianten vollständig aufnimmt mit Ausnahme der Teile des Initiativtexts, die diesen übergeordneten Rechten widersprechen.
Die Initiative und der obligatorische Gegenvorschlag werden dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Bundesrat und Bundesversammlung können das eine von beiden dem Volk zur Annahme empfehlen oder beide zur Ablehnung. Stimmabgaben, welche zwei Ja enthalten, sind ungültig. Als vom Volk angenommen gilt ein Text, wenn er mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt und mehr als der alternative Text.
Widerspricht eine Volksinitiative der Bundesverfassung, dann formuliert die Bundesversammlung eine Änderung der Verfassung, die sie mit dem Inhalt der Initiative vereinbar macht. Diese Änderung und die Initiative werden gemeinsam zur Abstimmung vorgelegt. Die Initiative gilt nur als angenommen, wenn Volk und Stände auch der Verfassungsänderung zustimmen.
Im erläuternden Abstimmungsheft werden die Argumente des Initiativkomitees, des Bundesrats und der Bundesversammlung sachgetreu mitgeteilt. Die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen werden auf die völker-, menschen-, staatsvertrags- und bundesrechtlichen Konsequenzen hingewiesen, die eine Annahme des Originaltexts der Initiative nach sich zöge.
IV. Wer zieht die Grenzen?
Der Initiativtext muss also von von Rechtsinkompatibilitäten gereinigt werden, mit Amputationen, Änderungen oder Ergänzungen, und daraus wird der Gegenvorschlag. Aber wer tut das? Wer bestimmt die Grenze zwischen dem Initiativ- und einem rechtskompatiblen Text, wer darf und soll das tun? Am Schluss entscheidet das Volk, aber über welche Wahlmöglichkeiten, das kann nur von kleineren Gremien bestimmt werden. Welches Gremium, wieviele Leute, mit welcher Qualifikation? Parlamentarier? Bundesrichter? speziell zu diesem Zweck zusammengestellte Gremien wie auf anderem Gebiet zum Beispiel die eidgenössische Wettbewerbskommission? Oder gar Strassburger EGMR-, Luxemburger EFTA- oder EU-Richter? und nach welchen Kriterien?
Beispiel Bundesrecht und Völkerrecht: Wenn wir die Grenzziehung der Bundesversammlung zuweisen, dann wird, Zustimmung des Volks zu ihrem Gegenvorschlag vorausgesetzt, in der Schweizer Bundesverfassung stehen, was zwingendes Völkerrecht ist. Alles andere ist nichtzwingend und darf von der Schweiz autonom entschieden werden. Aber sollen allein Politiker die rechtliche Frage entscheiden dürfen, was im Völkerrecht zwingend ist und was nicht? Zum mindesten müsste die Konsultation von Bundesrichtern oder, noch besser, eines autonomen für diese Abgrenzungsfragen bestellten Gremiums obligatorisch werden. In diesem Gremium sollten nicht nur Berufsjuristen sitzen, nicht nur Richter und Staatsrechtsprofessoren, sondern auch Politiker, Nichtjuristen und sachkompetente, mit den Meinungen in der Bevölkerung vertraute Laien.
Die Regelungen müssen zwischen den diversen Anwendungsfällen differenzieren. Bei Staatsverträgen und im Verfassungsrecht ist der Unterschied meistens klar, im Völkerrecht und bei den Menschenrechten gibt es kleinere und grössere Grauzonen. Die Grenze zwischen „zwingendem“ und „nicht zwingendem Völkerrecht“, zwischen übergeordnetem Völkerrecht und nationaler Souveränität, zwischen dem unverletzlichen „Kerngehalt“ der Menschenrechte und jenen, die das Volk allenfalls verletzen darf: Diese Grenzen werden zwischen den Anhängern der verschiedenen Positionen immer umstritten sein. Sie werden Ausdruck der jeweils herrschenden Mehrheitsmeinung sein. Im Lauf von Entwicklungen und Diskussionen werden aber diese Grenzen nach einer gewissen Zeit wieder anders betrachtet werden. Diese Grenzziehung wie auch die Zuständigkeit dafür bleibt also eine permanent zu beobachtende, von Zeit zu Zeit wieder zu diskutierende und zu revidierende Aufgabe von Politik und Recht inklusive der Frage, ob sie in der Verfassung oder im Gesetz zu fixieren oder der politischen Entscheidung von Fall zu Fall zu überlassen sei.
Auch die Konkretisierung dieser Frage überlasse ich den Rechtsexperten.
V. Die direkte Demokratie braucht immer wieder Reformen!
Die Einführung eines obligatorischen Gegenvorschlags in die Verfassung darf nicht nur als momentane Streitfrage der Schweizer Politik behandelt werden. Sie ist eine Weiterentwicklung der institutionellen Instrumente der direkten Demokratie. Unsere Vorfahren haben das angesichts neuer Umstände regelmässig für nötig befunden und getan.
Es ist auch heute wieder nötig. Die direkte Demokratie hat uns viel Gutes gebracht, seit Generationen haben wir aber grössere institutionelle Reformen weder durchgeführt noch über sie nachgedacht. Heute 2013 herrscht eine Stimmung demokratiepolitischer Bequemlichkeit: Sie hat ihre endgültige Form erreicht und über ihre Verbesserung müssen wir uns keine Gedanken machen.
Das ist falsch, historisch blind und gefährlich. In den ersten Jahrzehnten unseres Bundesstaats sahen die Schweizer Politiker alle dreissig Jahre, dass neue Umstände neue Instrumente der Volksmitbestimmung erforderten, und perfektionierten die direkte Demokratie in jeder Generation aufs Neue. Sie haben sie immer wieder an die neuen Umstände und Begehren angepasst. In der Rekapitulation im Anhang IX wird in Erinnerung gerufen, wie die Schweiz früher jahrzehntelang die Volksrechte an neue Entwicklungen anpasste.
Heute haben sich infolge der rasanten Wandlung von Welt und Europa die Umstände wieder stark und schnell geändert. Die Schweiz kann sich ihnen nicht entziehen. Konservative antworten dieser Herausforderung mit einer vehementen Verteidigung alles Schweizerischen, die meint, unsere Traditionen von Neutralität und direkter Demokratie könnten nur mit dem Festhalten an deren altererbten Konzepten aufrechterhalten werden.
Im Gegenteil: Wenn wir unser einzigartiges Gut der direkten Demokratie erhalten wollen, müssen wir es so reformieren, dass es der gewandelten Welt entgegentreten kann, ohne seine vitale Kraft zu verlieren. Der obligatorische Gegenvorschlag ist ein Vorschlag zu einer solchen Reform.
VI. Unsere direkte Demokratie welt- und europafähig machen
Viele Jahre lang war die Schweizer direkte Demokratie so gut wie unberührt von internationalen Umständen, und es gab nur wenige Abstimmungen über Aussenpolitik. Eine hochwichtige allerdings 1922: über den Beitritt zum Völkerbund, siehe Anhang IX.
Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs 1945 hat sich dann die Welt bis heute immer mehr zu einem System entwickelt, wo nicht mehr souveräne Staaten nebeneinander koexistieren, sondern sie auf vielfache Weise vernetzt und auf vielen Sektoren gemeinsamen Regeln unterworfen sind. Auch die Schweiz. Das wissen auch die Populisten der absoluten Souveränität, aber sie reden nie davon. In der Schweiz herrschte noch lange eine trügerische Ruhe; mit dem Nein zum EWR 1992 hörte sie abrupt und endgültig auf. Die Debatten um das Verhältnis von Volksrechten und Aussenpolitik sind seither immer heisser geworden. Und trotz einem verbissenen, oft utopischen Festkrampfen an maximaler Souveränität kann sich die Schweiz den internationalen Zwängen nicht entziehen. Auch deren radikalste Verteidiger wissen, dass wir uns andernfalls zum Rückgang von Wirtschaft und Wohlstand verdammen würden
Die neuen Umstände
Wirtschaft: Die Globalisierung zwingt unsere exportorientierten Unternehmen und unsere Handelspolitik zu einer noch nie gesehenen rechtlichen Beachtung internationaler Handelsregeln. Diese bringen meistens Liberalisierungen der Exporte, also Vorteile für ein kleines Exportland, darum arbeitet die Schweiz an vorderster Stelle mit. Unsere Wohlfahrt würde dramatisch sinken, wenn wir hier auf absoluter Souveränität bestünden. Das tun wir denn auch nicht, auf diesem Gebiet ist in der Schweiz diskussionslos akzeptiert, dass wir an internationalen Übereinkünften teilnehmen müssen, welche sie einschränken.
Der EU-Binnenmarkt: Die EU hat um uns herum einen grossen Binnenmarkt geschaffen. In diesem Raum von 500 Millionen Einwohnern können die Unternehmen der EU-Länder frei operieren, ihre Produkte, die Arbeitnehmer, Dienstleistungen und Kapitalien grenzen-, kontrollen- und schikanenfrei zirkulieren.
Die Schweiz hat zum Aufbau dieses Binnenmarkts keinen Finger gerührt. Sie konnte auch nicht, dazu hätten wir EU-Mitglied sein, in den EU-Organen mitstimmen und uns manchmal überstimmen lassen müssen. Uns in einer übernationalen Organisation Mehrheitsbeschlüssen zu fügen ist aber in der Schweiz indiskutabel. Das ist verständlich und richtig, denn dort, wo sie fallen, müsste auf alle direkte Demokratie verzichtet werden. Im Anhang XII „Direkte Demokratie in der EU?“ wird diese Frage ausführlicher erläutert und diskutiert.
Verständlich und richtig, aber das hat eine einschneidende Folge: Ein Recht auf Teilnahme in diesem ohne uns geschaffenen Binnenmarkt haben wir nicht und müssen bei der EU bilateral um den für unsere Wohlfahrt vitalen Zugang betteln. Unsere Unternehmen würden sonst auf alle die für EU-Bürger, -Unternehmen und -Kapitalien abgeschafften Schikanen stossen und wären gegenüber der EU-Konkurrenz schwer benachteiligt. Die EU war nach dem Nein zum EWR bereit, uns als einzigem europäischem Land den Zugang auf den wichtigsten Sektoren ihres Binnenmarkts in bilateralen Abkommen zu öffnen.
In diesen Abkommen müssen wir nicht soviel Souveränität hergeben wie bei einem Beitritt, aber mehr als dem Volk klargemacht wird. Nach dem neuesten Stand der Verhandlungen über den von der EU geforderten Nachvollzug ihres Binnenmarkt-Ausbaus steht uns die Unterstellung unter ausländische Richter bevor. Der Bundesrat und die meisten Parteien haben das schon akzeptiert, aber wie die Souveränitätsapostel vernebeln sie dem Volk den Urgrund dieser Abhängigkeiten: dass wir nicht am umfassenden EU-Projekt teilnehmen, welches seine Fortschritte mit Mehrheitsentscheiden erzielt. Ohne Mehrheitsentscheide in der EU wäre der Binnenmarkt, der unseren Wohlstand ausserordentlich gehoben hat, nie entstanden.
Die Schaffung der EU hat die Grundbedingungen in der Staatenwelt Europas verändert. Ohne Mitgliedschaft kein Recht auf den Zugang zu ihrem Binnenmarkt, wir sind von ihrem guten Willen abhängig. Souveränität ade.
Völkerrecht: Der „Westfäliische Friede“ von 1648 hat mit diesem Konzept die absolute, mit Willkür und Krieg gepaarte Souveränität selbständiger Staaten erstmals rudimentären rechtlichen Regeln unterworfen. Ende des 19. Jahrhunderts hat sich das Völkerrecht herausgebildet, das wir heute kennen. Es hat die Regeln des internationalen Rechtsverkehrs unter den Staaten modernisiert, konkretisiert, detailliert und vermehrt. Das Rote Kreuz mit seinen Konventionen ist eines der ersten Beispiele. Heute haben sich völkerrechtliche Rechtspflichten über die ganze Welt verbreitet und erfassen immer mehr Domänen.
Die Schweiz unterstützt diese Entwicklung, weil sie als Kleinstaat von internationalen Rechtsregeln profitiert, welche auch die Grossmächte binden. In letzter Zeit haben sich aber die Konfliktzonen zwischen internationalem Recht und schweizerischen Volksinitiativen vermehrt, und diese internationalen Regeln werden jetzt von vielen als Einmischung von aussen empfunden, die unser Bundesrecht, insbesondere das Volksrecht der Initiative aushebelt.
Menschenrechte: Bis spät ins 18. Jahrhundert waren Untertanen der Willkür ihrer Obergewalten ausgeliefert. Erstmals in der Geschichte proklamierten dann 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und 1789 die französischen Revolution, jeder Mensch habe ein gegenüber Königen und Diktatoren, heute auch gegenüber den Organen demokratischer Staaten unverletzliches, unangreifbares Recht auf ein Minimum von Respekt für Leben, körperliche Unversehrtheit, Meinungsfreiheit, Nichtdiskriminierung, Verbot der Sklaverei undsofort. 1948 haben die Vereinten Nationen diese Rechte in ihre später durch „Pakte“ ergänzte Allgemeine Menschenrechts-Erklärung aufgenommen, die jedoch trotz diplomatischen Verstärkungsversuchen nie echte Durchsetzungskraft erlangt hat. Jeder Staat, der sie unterzeichnet hat, ist gehalten, sie zu befolgen, doch Verurteilungen oder Sanktionen sind nicht vorgesehen, und noch nie ist einer wegen Nichtbefolgung bestraft worden.
Hitlers grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben Europa nach dem zweiten Weltkrieg dazu bewogen weiterzugehen und diesen Menschenrechten durch Übereinkunft seiner Staaten auch Nachachtung und Durchsetzungskraft zu verschaffen. In Europa sollten Menschenrechte hinfort nicht nur proklamiert sein, sondern auch eingefordert und gegenüber den Staaten durchgesetzt werden können. Der 1949 gegründete Europarat, die Dachorganisation von heute allen 47 europäischen Staaten ausser Weissrussland mit Sitz in Strassburg, hat die Proklamationen in eine verbindliche Konvention umgesetzt, die Europäische Menschenrechts-Konvention EMRK, heute in allen Europaratsländern in Kraft, und hat ihr ein zu Urteilen über Verletzungen befugtes Gericht beigegeben, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR, ebenfalls in Strassburg.
Bei diesem EGMR können Staaten gegeneinander klagen; revolutionär ist aber: Jeder Bürger und Einwohner eines Mitgliedstaats, jedes Individuum, das sich in einem in der Konvention garantierten Menschenrecht verletzt fühlt, kann den dafür verantwortlichen Staat einklagen, auch seinen eigenen. Wenn die Richter die Klage für begründet halten, verurteilen sie diesen Staat zum Rückgängigmachen der Massnahme und eventuell zu Wiedergutmachung und Schadenersatz. Sie haben keine Zwangsmittel zur Durchsetzung. Aber jeder teilnehmende Staat hat sich verpflichtet, diese Urteile auszuführen – und sie tun das seit sechzig Jahren fast ausnahmslos! Ein einzigartiger Beweis für die Kraft des Rechtsstaatdenkens in Europa über seine souveränen Einzelstaaten hinaus: Auf keinem anderen Kontinent gibt es diese Durchsetzbarkeit von Menschenrechten in einem internationalen Staatenverbund.
Auch diese Strassburger Urteile schränken jetzt die Souveränität unseres Landes ein. Nach sechzig Jahren ist im Strassburger Menschenrechtssystem allerdings eine lange unbeachtete Schwäche offenbar geworden, die Martin Schubarth glasklar beschreibt und denunziert: Die EMRK-Richter urteilen in ihrer Hoheit unkontrolliert von demokratischen Gewalten. Sie haben in letzter Zeit schwerverständliche, von der Realität abgehobene Urteile gesprochen, welche in der Schweiz und anderswo auf Unverständnis und Kritik stossen. Siehe VIII D und im Anhang XIII „Irrungen und Wirrungen von EGMR-Richtern“.
Bei den Menschenrechten haben mir hier und in den späteren Abschnitten VIII D und Anhang XIII folgende Texte viel geholfen:
Martin Schubarth, ehemaliger Schweizer Bundesrichter: Schweizer Demokratie und Strassburger Richter. In der NZZ vom 13.5.2013. Eine scharfe Analyse ihrer Usurpationen.
Thierry Baudet, junger niederländischer Völkerrechtler: Das Europa der Menschenrechte. Schweizer Monat Juni 2013. Auf 8 Seiten 30-38 eine ausführliche Analyse der Strassburger Systemmängel mit vielen Beispielen.
Die Ausländer: Neben den rechtlichen Wandlungen gibt es auch faktische. Die massive Zuwanderung von Gastarbeitern, welche der Nachkriegsboom 1950-70 in unser Land zog und die den Ausländeranteil auf 15 Prozent der Bevölkerung ansteigen liess, konnte noch in voller innenpolitischer Souveränität behandelt werden. Die Freizügigkeit, die wir in einem bilateralen Abkommen mit der EU vereinbart haben, das freie Recht auf Arbeit und Arbeitssuche, zieht jetzt auch EU-Angehörige zu uns, ohne dass wir sie kontingentieren dürfen, und mit dem Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden strebt der Ausländeranteil den 25 Prozent entgegen.
Von den letzteren bringen viele fremde Gewohnheiten mit, manchmal auch Kleinkriminalität, und das weckt im Land wachsende Abwehrgefühle. Bei Flüchtlingen und Asylanten gibt es jedoch internationale, von uns unterzeichnete Konventionen und Vorschriften, an die sich unser Land gegenüber den anderen Signatarstaaten zu halten versprochen hat. Die vom Volk angenommene Ausschaffungs-Initiative, Ausschaffung krimineller Ausländer, steht im Konflikt mit der internationalen Flüchtlings- und der Strassburger Menschenrechts-Konvention. Auch gegenüber Gastarbeitern aus der EU sind wir nicht mehr souverän, da bindet uns das bilaterale Freizügigkeitsabkommen. Dem Bundesrat ist es immer öfter unmöglich, sowohl dem Volkswillen wie auch zwingenden internationalen Verpflichtungen gerecht zu werden.
Unsere eigene Bundesverfassung: Der Zwiespalt zwischen einem Initiativtext und der Bundesverfassung ist ein altes, aber von der Politik nie angepacktes Problem. Unser Bundesgericht ist zur Zeit kein Verfassungsgericht, es darf selbst klare Verletzungen der Bundesverfassung durch Parlament oder Volk nicht behandeln, weil es im Geist des Primats der Volkssouveränität nicht sein soll, dass ein paar Richter Parlamentsgesetze und Volksentscheide für ungültig erklären. Verständlich, aber dann widersprechen sich zwei Bestimmungen in derselben Verfassung. Diesen eines Rechtsstaats unwürdigen Zustand kann eine dem obligatorischen Gegenvorschlag analoge Prozedur beheben, siehe VIII E.
VII. Warum obligatorisch?
Möglich, aber nie praktiziert
Ein Gegenvorschlag mit dem hier beschriebenen Inhalt ist heute schon möglich, wird aber nie praktiziert. Unser Bundesparlament macht immer wieder Gegenvorschläge, aber es verwässert oder verändert jedesmal das Ziel der Initianten. Ein aktuelles Beispiel: Am Anfang des Seilziehens um die Minder-Initiative gegen die Abzocker wollten die Politiker noch einen Gegenvorschlag formulieren, welcher „der Initiative möglichst nahe kommt“. Keine Rede mehr von „möglichst nahe“ im indirekten Gegenvorschlag, welchen sie dann dem Volk präsentierten, das „möglichst nahe“ enthielt markante Abweichungen.
Im Fall aussenpolitischer Verbindlichkeiten wird diese Praxis zu einer Erpressung des Stimmvolks: Entweder ihr nehmt unseren die Initiative amputierenden Gegenvorschlag an oder ihr verletzt einen Staatsvertrag mit allen unangenehmen Konsequenzen. Hat jedoch das Parlament die Pflicht zu einem obligatorischen Gegenvorschlag, der sämtliche Ziele der Initianten mit Ausnahme der rechtlich anfechtbaren aufnimmt, dann können die StimmbürgerInnen einer Initiative ohne Einschränkungen zustimmen ausser denen, die gegen Staatsverträge, Völkerrecht, zwingende Rechtsgrundsätze oder gegen die eigene Verfassung verstossen.
Das Volk selber wählt aus
Erst so werden den StimmbürgerInnen die unangenehmen Konsequenzen bewusst, die sie riskieren, wenn sie dem Volltext der Initiative zustimmen und einen Staatsvertrag oder eine andere internationale Verpflichtung verletzen. Der Unterschied zwischen dem Text der Initiative und dem des obligatorischen Gegenvorschlags liegt jetzt einzig in den rechtlich für inkompatibel gehaltenen Formulierungen. Auf dem Stimmzettel, wo der Stimmbürger die zwei Alternativen „Initiative“ und „Gegenvorschlag“ gleichwertig nebeneinander sieht, springt der kleine Unterschied, springen die rechts-inkompatiblen Elemente der Initiative in die Augen. Das wird die Stimmenden auch zum Lesen der Erläuterungen inspirieren.
Im Text bisheriger Gegenvorschläge sind die rechtlichen Vorbehalte ununterscheidbar mit den politischen Abstrichen am Ziel der Initianten vermischt. Die Kontroverse über die politischen Meinungsverschiedenheiten zieht alles Interesse auf sich, dahinter verschwindet die rechtliche Problematik sowohl auf dem Abstimmungszettel wie in den Abstimmungserläuterungen und in der Abstimmungskampagne. Mit dem „obligatorischen Gegenvorschlag“ hingegen werden die Stimmenden einzig auf die rechtliche Problematik hingewiesen, und wenn ihnen die Initiative sympathisch ist, können sie einem Verfassungstext zustimmen, der alle ihre Ziele aufnimmt, aber ohne Verletzung von höherem Recht oder Abkommen und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten.
Und beide Seiten können zufrieden sein
Diese Prozedur wird sowohl den Anhängern des Respekts internationaler Verpflichtungen wie auch den Verteidigern des Primats der Volkssouveränität gerecht. Den letzteren: Es sind nicht Rechtsexperten oder Politiker, die in diesem Dilemma entscheiden, sondern das Volk. Den ersteren: Das Volk sieht das Dilemma und kann sich zwischen den zwei Möglichkeiten informiert entscheiden. Das gibt der Respektierung rechtlicher Schranken grössere Abstimmungschancen als heute, denn die Abstimmenden werden die in vielen Fällen geringfügigen Abstriche hinnehmen, wenn sie allen anderen Zielen der Initiative zustimmen können.
Man muss mit dem Einwand rechnen, wir könnten doch einen Volksvertreter nicht verpflichten, einen Abstimmungsvorschlag zu verfassen, mit dem er nicht einverstanden ist. Diesem Einwand wird im Anhang XI begegnet.
Das Parlament kann einen eigenen Gegenvorschlag machen
Bei dem hier vorgestellten obligatorischen Gegenvorschlag sehen sich die Parlamentarier zwingenden Vorschriften gegenüber, die ihnen keine Wahl lassen. Aber vielleicht wollen sie der Initiative auch einen Gegenvorschlag entgegenstellen, der inhaltlich von ihr abweicht?
Das ist ohne weiteres möglich. Klar ist, dass sie auch in diesem zweiten, ihrem eigenen Gegenvorschlag die rechtswidrigen Teile der Initiative entfernen müssen. In allen anderen Teilen können sie ihn frei gestalten wie es eine Mehrheit will. Das Stimmvolk hat dann für dasselbe Thema drei Alternativen auf seinem Stimmzettel: Die Original-Initiative, den obligatorischen und den politischen Gegenvorschlag. Angenommen ist der Text, der am meisten Stimmen auf sich vereinigt, ausser wenn alle drei abgelehnt werden. Ja stimmen ist nur bei einer der drei Vorlagen erlaubt, andernfalls ist die Stimme ungültig. Drei Nein sind erlaubt.
VIII. Unterschiedliche Fälle, unterschiedliche Lösungen
Es wird nicht immer leicht sein, den Text einer Initiative rechtskompatibel zu ändern. Wenn übergeordnetes Recht mit ihrem Hauptziel zusammenstösst und der Gegenvorschlag dieses eliminieren muss, wird er sinnlos oder muss wie die üblichen Gegenvorschläge die Initiative in ihrem Kern verändern. Auch in diesen Fällen kann aber das Prozedere der alternativen Abstimmungsfragen angewendet werden. Wir müssen für jeden der verschiedenen Konfliktfälle die passende Lösung finden.
A. Die Initiative im Widerspruch zu einem Staatsvertrag
Am einfachsten ist die Lösung, wenn der Initiativtext einen geltenden Staatsvertrag verletzt. Die Verletzung ist klar sichtbar und selten umstritten. Dann werden aus ihm die kritischen Worte oder Sätze herausgenommen oder kompatibel geändert, und der ganze sonstige Text wird dem Volk als Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament mitsamt dem originalen Initiativtext ohne jede Änderung vorgelegt. Dann sieht der Stimmende unmissverständlich, dass der Volltext der Initiative einen Staatsvertrag bräche, den wir mit einem ausländischen Partner abgeschlossen haben, und würde auf die oft schweren Konsequenzen aufmerksam.
Der Unterschied: Natürlich können die Kritiker vor der drohenden Rechtsverletzung schon heute warnen, aber damit erreichen sie die StimmbürgerInnen nicht. Als das Volk 1994 der Alpeninitiative zustimmte, war erst im hektischen Schluss der Kampagne die Rede davon, dass es damit das Alpentransitabkommen mit der EU verletze, das nur ein Jahr vorher in Kraft getreten war, und das erreichte die Stimmenden nicht mehr. Sie merkten erst, was sie damit angerichtet hatten, als die EU zwei Tage nach dem Abstimmungssonntag die Vorgespräche über bilaterale Abkommen abbrach. Näheres über diesen interessanten Fall im Anhang X.
Die brüske Reaktion der EU zeigt drastisch, wie wir bei der Verletzung eines Staatsvertrags unsere Glaubwürdigkeit als Partner von Abkommen verlieren. Nicht nur mit der EU: Alle künftigen Verhandlungspartner der Schweiz wären abgeschreckt, mit uns überhaupt noch zu verhandeln.
Der Clou: Wir dürfen Verträge verletzen! Das internationale Recht sieht bei Vertragsverstössen keine Sanktionen vor. Aber dann ist die Gegenpartei natürlich von allen Pflichten entbunden, die ihr das Abkommen auferlegt. Wir müssen sogar Gegenmassnahmen gewärtigen. Das bekannteste und gefährlichste Beispiel ist der Widerspruch von Volksinitiativen zu staatsvertraglichen Verpflichtungen der EU gegenüber. Näheres gleich im nächsten Abschnitt.:
B. Volksinitiativen und die bilateralen EU-Abkommen
Auch unsere bilateralen Abkommen mit der EU sind Staatsverträge. Wenn wir eines davon verletzen, dann hat die EU das Recht, Gegenmassnahmen zu ergreifen. Bei den ersten sieben Abkommen, die unserer Wirtschaft auf den wichtigsten Sektoren den Zugang zum EU-Binnenmarkt öffnen, gilt sogar die berüchtigte „Guillotineklausel“: Alle sieben fallen automatisch miteinander dahin, wenn wir ein einziges von ihnen verletzen. Unsere Unternehmen wären dann im Markt der 500 Millionen Konsumenten schwer benachteiligt, unser Wohlstand schwer gefährdet.
Zwei kommende Volksabstimmungen setzen das Paket dieser sieben ersten Abkommen aufs Spiel, eine dritte ebenfalls wenn das Referendum zustande kommt, und eine EU-Forderung knüpft den Fortgang des Bilateralismus an unpopuläre Bedingungen. Zwei zustande gekommene Initiativen, eine der SVP und eine der EcoPop (Arbeitsgemeinschaft Umwelt und Bevölkerung), wollen die Einwanderung pauschal kontingentieren, also auch die aus der EU. Sie würden damit das Freizügigkeitsabkommen verletzen, welches allen EU-Bürgern den Zugang zu unserem Arbeitsmarkt gewährt (und, was die Gegner nie sagen, auch umgekehrt). Und wenn ein Referendum die nötigen Unterschriften sammelt, wird auch über die Ausdehnung dieser Freizügigkeit auf das neue EU-Mitglied Kroatien entschieden werden müssen. Nimmt das Volk eine der Initiativen an oder stimmt es gegen die Freizügigkeit mit Kroatien, dann kann und wird wohl die EU die sieben Abkommen künden, siehe den im Anhang X geschilderten Präzedenzfall der angenommenen Alpeninitiative 1994.
Die EU ihrerseits fordert unter dem Stichwort „Nachvollzug“, dass die Schweiz die Verschärfungen ihrer Binnenmarkt-Vorschriften mit vollzieht. Das müsste eigentlich selbstverständlich sein: Schweizer Unternehmen dürfen doch in der EU nicht auf den vor zehn Jahren bilateral festgelegten milderen Vorschriften für technische Normen, den Konsumenten-, den Umwelt-, den Gesundheitsschutz usw. sitzen bleiben, die für ihre EU-Konkurrenten verschärft werden. Die EU hat angekündigt, sie werde, wenn die Schweiz den schnellen Nachvollzug dieser Verschärfungen verweigere, den Bilateralismus stoppen, das heisst keine weiteren Abkommen mehr abschliessen. Sogar wenn die EU die sechzehn bisherigen Abkommen weitergelten lässt, was noch nicht sicher ist, selbst dann würde das die Schweizer Wirtschaft langsam vom Binnenmarkt abwürgen. Um den Nachvollzug wird darum die Schweiz nicht herumkommen, er wird in den Verhandlungen nur in unwesentlichen Details nuanciert werden können.
Und wenn das Volk nicht will?
Das Stimmvolk wird versucht sein, das Resultat dieser Verhandlungen mit der EU über ein „institutionelles Rahmenabkommen“ abzulehnen, in welchem der Nachvollzug obligatorisch werden wird, denn es enthält ein Reizthema: Über Interpretationen und Streitigkeiten sollen „fremde Richter“ entscheiden, der EU- oder der im EWR verankerte EFTA-Gerichtshof. Im EuGH, dem obersten Gericht der EU, welches der Bundesrat bevorzugt, würde kein einziger Schweizer Richter sitzen, im EFTA-Gericht einer neben den drei der im EWR verbliebenen Länder Liechtenstein, Norwegen und Island. Ob sie damit einverstanden wären, ist noch gar nicht sondiert worden.
Der Bundesrat hatte der EU anfänglich sogar den frechen Vorschlag gemacht, das Schweizer Bundesgericht solle Schiedsrichter über Streitigkeiten mit ihr sein. Diese Idee, Schweizer allein sollten über Streitgkeiten mit der EU entscheiden können, wurde natürlich zurückgewiesen, und seither sucht man auch in der Schweiz ein Schiedsgericht über den beiden Parteien. Man fand den EU- und den EWR-EFTA-Gerichtshof. Will sich das Schweizervolk nicht den Schiedssprüchen des EU-Gerichtshofs unterziehen, dann würde der Bilateralismus gestoppt, wenn es einen Spruch des EFTA-Gerichts ignorieren will, müssen wir aus der EFTA austreten, denn seine Urteile sind obligatorisch: Nichtbefolgen wäre eine Verletzung des EFTA-Abkommens, welche die drei anderen Mitglieder nicht hinnehmen werden und wir schon aus Ehrgefühl nicht hinnehmen sollten. Und aus ureigenstem Interesse: um unsere internationale Vertragswürdigkeit zu bewahren.
Bei den beiden Initiativen könnte der obligatorische Gegenvorschlag eine Lösung bringen, allerdings nur mit einem schwereren Eingriff: Er müsste ihren Inhalt um die Wirkung auf die Freizügigkeit mit der EU amputieren und die Kontingentierung auf Nicht-EU-Länder beschränken. Nach einer aufklärenden Kampagne würde das Volk das vielleicht hinnehmen.
In den beiden anderen Fällen und beim Nachvollzug könnte der Gegenvorschlag das Problem nicht entschärfen. Im Fall Kroatien ist keine Nuancierung möglich, es gibt nur entweder ein Ja oder ein Nein zur Freizügigkeit. Der Nachvollzug wird im „institutionellen Rahmenabkommen“ festgelegt sein, und aus einem Abkommen kann man nicht einzelne Wörter herausklauben. Die Verteidiger der Weiterführung des Bilateralismus können dem Stimmvolk nicht mit einem Gegenvorschlag, sie müssen ihm mit einer starken Kampagne klarmachen, was es bei einem Ja aufs Spiel setzt: EFTA-Austritt oder das Ende des Bilateralismus mit der EU.
Die Lösung: Abstimmungsalternativen
Nicht ein Gegenvorschlag, aber das Prozedere der Abstimmungs-Alternativen könnte in allen vier Fällen doch Abhilfe schaffen. Nehmen wir das komplizierteste Beispiel des Rahmenabkommens. Auf dem Stimmzettel stünden zwei miteinander untrennbar verbundene Fragen, auf die, um gültig zu sein, nur zweimal Ja oder zweimal Nein geantwortet oder zweimal Stimmenthaltung geübt werden darf. Die erste: „Wollen Sie der Initiative zustimmen?“ und dann die zwei Alternativfragen, entweder: „Akzeptieren Sie das Ende des Bilateralismus mit der EU?“ oder, je nach der Lösung für das Gericht: „Wollen Sie, dass die Schweiz aus der EFTA austritt?“ In den drei anderen Fällen wäre allein die zweite Frage nötig, ob man auf alle weiteren bilateralen Abkommen verzichten will.
C. Volksinitiativen im Widerspruch zum Völkerrecht
Hier ist die Debatte besonders heiss. Soll Völkerrecht Schweizer Verfassunsartikel brechen dürfen, auch solche, welche eine Volksmehrheit durch die Zustimmung zu einer Initiative beschlossen hat? Dagegen wendet sich vor allem die SVP. Zwar wolle sie, erklärt sie, die zwingenden Vorschriften des Völkerrechts nicht antasten, sie bereitet aber eine Initiative mit dem Schlagwort „Bundesrecht bricht Völkerrecht“ vor. Auch hier hilft der obligatorische Gegenvorschlag, er enthält alles, was mit dem zwingenden Völkerrecht vereinbar ist, und lässt den ganzen Rest der Initiative stehen. Das stellt die in Kapitel IV behandelte kitzlige Frage, wo denn die Grenze zwischen zwingendem und nichtzwingendem Völkerrecht liegt und wer darüber entscheidet.
„Das tut ja sogar die Schweiz!“ Hoffentlich nicht.
In diesen Entscheiden sollten wir auch eine aussenpolitisch-internationale und sogar moralische Rücksicht mitspielen lassen. Wir sollten unser internes Interesse gegenüber dem internationalen Image-Schaden für das Völkerrecht und dem schädlichen Schweizer Vorbild für weniger gefestigte Rechtsstaaten zum Beispiel im ferneren Osteuropa oder Afrika abwägen. „Völkerrecht verletzen? Das tut ja sogar die Schweiz, warum also nicht wir auch?“
D. Volksinitiativen im Widerspruch zu den Menschenrechten
Konflikte von Volksinitiativen mit den europäisch vereinbarten, auch von der Schweiz unterschriebenen Menschenrechten sind für die Prozedur des „obligatorischen Gegenvorschlags“ der schwierigste Fall, denn wann, von welchem Moment an ein Menschenrecht verletzt ist, das ist noch viel weniger leicht einzugrenzen als „zwingendes Völkerrecht“. Weitgehende Überreinstimmung herrscht, dass es einen „Kern“ der Menschenrechte gibt, der nie verletzt werden darf. Aber anders als „zwingendes“ Völkerrecht kann dieser Kern in vielen Fällen nicht schwarz auf weiss definiert, also auch nicht aus dem Initiativtext isoliert und entfernt werden. Ob eine Verletzung diesen Kern berühre oder nicht, das enthält etwas Subjektives. Das muss dem Urteil des Richters überlassen werden, und der ist wie wir alle persönlichen Ansichten unterworfen.
Als Richtschnur für die Abgrenzung des Kerns der unverletzlichen Menschenrechte haben die Völkerrechtler den Begriff der „Würde des Menschen“ entwickelt. Auch das ist aber ein so allgemeines Wort, dass der strengste Wille zu Objektivität seine Subjektivität nicht ignorieren kann. „Keine Strafe ohne Gesetz“ ist ein glasklares Prinzip, aber „Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“ ein Begriff mit unklarem Kern und unklaren Rändern, welchen auch die „Menschenwürde“ nicht präzisieren kann. Wann, unter welchen Bedingungen, bei wie vielen und wie schweren Verdachtsmomenten darf die Polizei in eine Privatwohnung einbrechen? Im Anhang XIII illustriert die Verurteilung der Schweiz zur Rücknahme eines ausgewiesenen Nigerianers auf Grund seines Rechts auf Familie die Subjektivität, Interpretationsbreite, viele sagen heute nicht zu unrecht: die Willkürlichkeit und Weltfremdheit dieser Auffassungen.
Achtung: die EMRK selber nicht antasten!
Gerade dieses Urteil weckt in der Schweiz heftige Proteste gegen die „Einmischung in innere Angelegenheiten“, in denen „Strassburg“ nichts zu suchen habe. Militante Gegner fordern dann, das Urteil nicht zu vollziehen oder noch radikaler, die Strassburger Konvention zu kündigen. Im Klima der Renationalisierung Grossbritanniens und seiner Absetzbewegung von Europa hat sich sogar ein Minister der Tory-Regierung für den Austritt aus der Konvention ausgesprochen. „Europa mischt sich zuviel in nationale Belange ein“. Solche Rosskuren sind scharf abzulehnen, wir würden die einzige effiziente Menschenrechtsgerichtsbarkeit der Welt desavouieren. Und wenn sich die Schweizer um ein Strassburger Urteil foutieren, sendet das einigen noch nicht ganz von kommunistischem Erbe freien Ländern Osteuropas auch hier das fatale Signal: Das tut ja sogar die Schweiz!
Aber ihre Richter leben in einem Elfenbeinturm
Aber die Strassburger Richter sägen selber an den Ästen, auf denen sie sitzen. Einige von ihnen, manchmal die Mehrheit, haben seit einigen Jahren eine exzentrische Neigung entwickelt, ihre Befugnisse weit über die Kompetenzen auszudehnen, die in demokratischen Rechtsstaaten der dritten Gewalt zustehen. Sie fällen Urteile, manchmal definitive und zwingende und negative, über innenpolitische Angelegenheiten von Mitgliedstaaten, die nicht in der Zuständigkeit von Richtern, sondern ihrer Parlamente liegen.
Wie Thierry Baudet im Schweizer Monat schreibt (Fundstelle siehe oben VI „Menschenrechte“), erklärte die untere Kammer des EGMR 2005 die Nachtflugverordnung für den Londoner Flughafen Heathrow für menschenrechtswidrig, weil sie das Recht der Anwohner in seiner Umgebung auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletze; die Grosse Kammer des EGMR annullierte das, aber 5 von ihren 17 Richtern wollten es aufrechterhalten. Baudet zitiert einen ehemaligen Richter am britischen Supreme Court, Leonard Hoffmann: „Der Strassburger Gerichtshof hat sich selber eine ausserordentliche Macht verliehen, um in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten des Europarates Mikromanagement zu betreiben.“
Eine zweite Verirrung im Elfenbeinturm ist die Tendenz zu akademischen, von der Realität abgehobenen, gewöhnlichen Menschen unverständlichen Urteilen, die nicht mehr im Kontakt mit ihrem Alltag stehen, siehe die zwei Beispiele im Anhang XIII. Ein guter Richter muss neben strengen Rechtsüberzeugungen auch einen „Erfahrungsschatz der Realitäten des Rechts“ haben (Schubarth). Die Strassburger Richter nähren selber das Misstrauen gegen die Errungenschaft des Menschenrechtsschutzes, die sie behüten sollen.
Demokratiedefizit
Eine Reform des EGMR oder seiner Praxis ist allerdings schwierig, weil er im Europarat angesiedelt ist und die Reform dort behandelt werden müsste. Mit Ausnahme von EMRK und EGMR, seinen einzigen bleibenden Leistungen, ist aber dieser ehrwürdige erste Zusammenschluss europäischer Länder bis heute ein machtloses Konglomerat souveräner Einzelstaaten ohne demokratischen Unterbau geblieben, dem die drei Jahre später in Kraft getretene „supranationale“ Europäische Gemeinschaft EG schnell das Wasser abgrub. Neben der EU ist der Europarat, dem die Schweiz 1963 beitrat, ein Papiertiger und ein altmodisches Überbleibsel. Er spiegelt sich mit einer „parlamentarischen Versammlung“ ein bisschen Demokratie vor, diese „Versammlung“ wird nicht von den Völkern gewählt, ihre Resolutionen sind unverbindlich und bewegen nichts. Nur die Menschenrechtskonvention und ihr Gericht ragen aus dieser Kraftlosigkeit heraus.
Der Gegensatz zwischen diesen zwei Ebenen, dem demokratisch nicht unterbauten Europarat und der Machtfülle des von ihm geschaffenen Gerichtshofs für Menschenrechte, schafft die Probleme mit den Richtersprüchen aus Strassburg. Der Inhalt der Menschenrechtskonvention ist in allen 47 Mitgliedstaaten gültiges Recht, die Praxis ihrer Richter wird jedoch wegen des Demokratiedefizits im Europarat von keinem Parlament überwacht und kann von keinem beeinflusst werden. In diesem Strassburger Freiraum, ohne irgendeiner demokratischen Instanz Rechenschaft zu schulden, allein auf der Basis eines Menschenrechtskatalogs entwickeln, ja schaffen die EMRG-Richter in neueren Urteilen durch immer ausgedehntere, immer willkürlichere Interpretationen der Konventionsrechte neues Recht in allen Mitgliedstaaten. Immer mehr, immer breiter, ausufernd, ohne Grenzen. Damit usurpieren sie Kompetenzen der Rechtssetzung, die Parlamenten vorbehalten sind. Auch in der Schweiz müssen Urteile des Bundesgerichts respektiert werden, aber wenn die Bundesversammlung zur Überzeugung kommt, es seien Fehlurteile, dann ist sie (Schubarths Zentralargument) befugt, das Recht zu ändern, nach welchem die Bundesrichter urteilen müssen. Im Europarat ist das nicht möglich. Er hat kein zu Beschlüssen autorisiertes Parlament. Schubarth nennt die neuere Tendenz der Strassburger Richter „Verfassungsänderung ohne demokratische Legitimation“.
Richter ohne Kontrolle
Die grossen Verdienste des EGMR dürfen nicht geleugnet werden. Nie, grundsätzlich nicht und aus überragendem Interesse für uns alle nicht. Fahnenträger der europäischen Einigung aus dem idealistischen Rausch des Anfangs, haben seine Richter den Staaten Europas jahrzehntelang einen hohen Standard der Menschenrechte eingepflanzt und rufen sie heute noch oft mit Recht zur Ordnung. Sie haben aber im demokratisch unkontrollierten Hohlraum des Europarats, den man beim Abschluss der Konvention 1950 noch nicht sah, nach sechzig Jahren eine akademisch-juristische Rechtssprechung einreissen lassen, die den Kontakt zur gesellschaftliche Realität in den von ihnen verurteilten Ländern gelegentlich verliert. „Die Strassburger Rechtsprechung entwickelt sich teilweise in einer abgehobenen, realitätsfremden Welt“ (Schubarth). Baudet spricht von „ethischen Anwandlungen des Gerichtshofs“ (Seite 35).
Was tun? Zweierlei
Auf europäischer Ebene: Die Konvention ist immer noch ein Prunkstück menschenrechtlicher Prinzipien, aber der ausufernden Auslegungspraxis der Richter muss ein Riegel geschoben werden. Politischer Druck ist der erste Schritt. Die Schweiz muss die Zusammenarbeit mit gleichdenkenden Ländern suchen und mit ihnen in den europäischen Gremien und in der Öffentlichkeit die Debatte über diesen Irrweg auslösen. Zum „Wie“ macht Thierry Baudet (Seite 38) fünf Vorschläge, aber noch unausgegoren, sie erfassen das Problem nicht in seiner Tiefe.
Ich muss vor der Illusion schneller Ergebnisse warnen. Mangels beschlussfähiger Institutionen auf Europaratsebene können nur die Signatarstaaten der Konvention Remeduren bewirken, in Verhandlungen, deren Resultaten alle zustimmen müssen. Das ist eine ausserordentlich langwierige Aufgabe, deren Lösung jeder der 47 Signatarstaaten mit seinen Sonderforderungen auf Jahre hinaus verzögern kann. Sie muss aber höchste Priorität in der Debatte Europas kriegen. Unverständliche Strassburger Urteile untergraben das Vertrauen der Bürger Europas in unsere einzigartigen Menschenrechtsgarantien und gefährden ihr Fortbestehen. Das muss die Koalition der Kritiker und Reformer den Konventionsstaaten mit grösstem Nachdruck beibringen. Der EGMR darf nicht weiter seiner Isolation ohne Kontakt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit in den demokratischen Ländern überlassen werden, die er verurteilt. Zwei abschreckende Beispiele stehen im Anhang XIII „Irrungen und Wirrungen von EMGR-Richtern“.
Schweiz intern: Es gibt manchmal in Volksinitiativen Forderungen, welche Menschenrechte so eindeutig verletzen, dass der obligatorische Gegenvorschlag sie (nur sie) eliminieren und dem Abstimmungsvolk eine überzeugende Alternative anbieten kann. Wenn jedoch die Verletzung von Menschenrechten in der Grauzone liegt, wenn sie so zweifelhaft und umstritten ist, dass keine sauberen Lösungen gefunden werden, dann findet auch der obligatorische Gegenvorschlag keine Lösung. Dann müssen dem Abstimmungsvolk die einschlägigen Überlegungen und Alternativen in den Parlamentsdebatten, in den Abstimmungserläuterungen und in der Kampagne klar gemacht werden.
E. Volksinitiativen im Widerspruch zur Bundesverfassung
Volksinitiativen können, ohne dass den Initianten schlechter Wille unterstellt werden muss, im Widerspruch stehen mit der Schweizer Bundesverfassung, denn bisher ist unter den Politikern die nie diskutierte Überzeugung Gemeingut, dass angenommene Initiativtexte über einem ihnen widersprechenden bisherigen Verfasssungsartikel stehen. Das zur Rechtfertigung herbeigezogene Rechtsprinzip „Späteres Recht bricht früheres Recht“ ist aber eine billige Ausrede. Auch das Volksrecht der Initiative muss selbstverständlich berücksichtigen, dass in der Verfassung keine Bestimmungen stehen dürfen, die sich widersprechen; das ist eines seriösen Rechtsstaates unwürdig.
Diesem Missstand kann abgeholfen werden mit der Anpassung des Verfassungstextes an den neu eingeführten Artikel, falls das Volk nicht nur der Initiative sondern auch dieser Anpassung zustimmt. Darum wird dem Volk gleichzeitig mit der Initiative die Änderung des Verfassungstexts vorgelegt, die ihn mit ihr vereinbar macht. Als angenommen gilt die Initiative nur, wenn auch der Verfassungsänderung zugestimmt wird. Was nicht schwer sein dürfte, das Volk bekommt ja, falls die Initiative seiner Mehrheit passt, den vollen Initiativtext plus einen gleichartigen Verfassungsartikel.
Allerdings gibt es auch in der Verfassung unverletzliche Grundsätze. In diesem Fall darf es keine andere Lösung geben, als schon die Initiative für ungültig zu erklären. Hier ist die Zuständigkeit für einen so schwerwiegenden Entscheid eine besonders schwierige Frage. Ich muss auch sie den Rechtsexperten überlassen.
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ANHANG: Illustrationen und Diskussionen
IX. Wie die Schweiz früher die Volksrechte weiterentwickelte
Die hier folgenden Angaben über Verfassungsfragen von 1848 bis 1921 entnehme ich zwei hervorragenden Werken über das schweizerische Verfassungsrecht.
1) Jean-Francois Aubert war Professor für Verfassungsrecht an der Universität Neuchâtel: Traité de droit constitutionnel suisse. Éditions Ides et Calendes Neuchàtel 1967.
2) Alfred Kölz war bis zu seinem plötzlichen Tod 2003 Ordinarius für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Verfassungsgeschichte an der Universität Zürich: Neuere Schweizer Verfassungsgeschichte. Stämpfli Verlag Bern 2004.
1848: Im neugegründeten Bundesstaat von 1848 war die direkte Demokratie auf das obligatorische Volksreferendum in Verfassungsfragen und auf eine wegen ihrer Kompliziertheit nie gebrauchte Volksinitiative ohne Text- oder Zielvorschläge zur Auslösung einer Verfassungsrevision beschränkt. Die Stimmbürger konnten noch nicht von sich aus aktiv werden, sondern wurden nur von oben zur Urne gerufen, wenn die Bundesversammlung eine Änderung der Verfassung beschloss. Das geschah bis zu den Abstimmungen über deren Totalrevision 1872 (abgelehnt) und 1874 (massiv angenommen) ein einziges Mal. Unter dem Druck einer ausländischen Macht und unserer Wirtschaftsinteressen! Frankreich forderte 1864 beim Abschluss eines von der Schweiz dringend benötigten Handelsvertrags die Niederlassungsfreiheit für alle seine Bürger. Das waren auch seine Juden, sie besassen seit der Revolution die volle Gleichberechtigung. Die Schweiz aber hatte ihnen 1848 die Niederlassungsfreiheit vorenthalten! Wäre der Handelsvertrag mit Frankreich ohne Änderung der Bundesverfassung in Kraft getreten, dann wäre die Benachteiligung von einheimischen Juden gegenüber ausländischen schreiend sichtbar geworden. Sie war nicht aufrechtzuerhalten. In der Volksabstimmung 1866 räumte darum das Schweizervolk auch den Schweizer Juden das Niederlassungsrecht in der ganzen Schweiz ein (und verweigerte ihnen weiterhin das Stimmrecht in Kantonen und Gemeinden). Alle anderen an den Handelsvertrag angeknüpften BV-Änderungen lehnte es ab.
1874: Einen grossen Schritt weiter brachte die Volksrechte die erste Totalrevision der Bundesverfassung 1874: Das Gesetzesreferendum ermächtigte von da an 30’000 (heute 50’000) Stimmbürger, mit ihren Unterschriften eine Abstimmung über Gesetzgebungsbeschlüsse des Parlaments zu erzwingen, die sie mit einer Nein-Mehrheit zunichtemachen konnten.
1891 schuf dann die „Volksinitiative“ erstmals auf Bundesebene das revolutionäre Recht von 50’000 (heute 100’000) Bürgern, über die Köpfe ihrer Regenten hinweg, wenn sie die Volksmehrheit überzeugen können, selber Artikel in die Verfassung zu schreiben.
1921 kam noch ein Referendum in der Aussenpolitik über umstrittene Staatsverträge hinzu. Bis gegen das Ende des 20. Jahrhunderts (EWR-Abstimmung 1992) schien es aber so unwichtig, dass es nur selten gebraucht wurde.
Mittelalter: Wenn wir auf die direkte Demokratie in den Landsgemeindekantonen zurückblicken, dann war sie 700 Jahre lang in Entwicklung begriffen.
1922: Völkerbund. In der nach dem ersten Weltkrieg herrschenden Stimmung „nie wieder Krieg“ gründeten die siegreichen Länder den „Völkerbund“, der inskünftig alle Kriege verhüten solle. Der Beitritt der Schweiz schien fast unausweichlich, umso mehr, als dieser Friedensbund seinen Sitz in Genf haben wollte, der Hauptstadt des Roten Kreuzes in der friedliebenden Schweiz. Die Sensibilität für ein Ritzen der Neutralität war aber so stark, dass der Beitritt in der Volksabstimmung nur von 11einhalb gegen 10einhalb Kantonen bewilligt wurde, ein paar tausend Appenzell-Innerrhödler gaben gegen fast so viele Gegner die für das Ja nötige halbe Standesstimme.
Das war verständlich und sogar weitblickend: Die Mitgliedschaft im Völkerbund zwang die Schweiz, ihre Neutralität aus ihrer Absolutheit herauszuholen und zu „differenzieren“. Zwar kehrte man 1938 zur „integralen“ Neutralität zurück, aber noch bis in den Weltkrieg musste man Angst haben, Hitler könnte diese Wandelbarkeit der Schweizer Neutralität zum Vorwand nehmen, um sie überhaupt zu missachten. – Die Einführung des Staatsvertragsreferendums 1921 hatte übrigens nichts mit der Völkerbundfrage zu tun, sondern mit dem schon vor dem ersten Weltkrieg in der Schweiz sehr bekämpften „Gotthardvertrag“, der Deutschland und Italien das unbegrenzte Recht auf Benützung des Gotthardtunnels einräumte.
2013: Wir haben viel abgestimmt, aber die diese Abstimmungen ermöglichenden Verfassungsinstrumente hundert Jahre lang nur noch in Details weiterentwickelt.
X. Ein Präzedenzfall: Die Alpen-Initiative 1994
Der Ablauf der Alpeninitiative 1993/94/95 zeigt, wie einfach es sein könnte, mit einem geringfügig amputierten Gegenvorschlag Initiativen von Vertragswidrigkeiten zu reinigen. Der obligatorische Gegenvorschlag existierte nicht, aber nachdem die Schweiz einen mit der EG abgeschlossenen Vertrag verletzt hatte, fanden Bundesrat und Bundesversammlung den pragmatischen Weg, diese Verletzung auf Gesetzesebene rückgängig zu machen. Es war der Weg, den ihnen der obligatorische Gegenvorschlag vor der Abstimmung vorgeschrieben hätte.
Vier kritische Worte
Die von Urner Umweltaktivisten lancierte Initiative forderte den Schutz der Alpen gegen übermässigen Lastwagenverkehr und wollte die Alpentransittransporte auf die Schiene zwingen. Sie enthielt aber vier Worte, die gegen das mit der EG ein Jahr zuvor abgeschlossene Transitabkommen verstiessen: Nur die Fahrten „von Grenze zu Grenze“ sollten dieser Pflicht unterliegen. Also nur die EG-Camions, nicht die schweizerischen! Diese fuhren ja nicht von Grenze zu Grenze, sie fuhren von Zürich bis Bellinzona oder ein paar Meter diesseits der Landesgrenzen von Chiasso bis Basel und wären vom Schienenzwang dispensiert gewesen.
Seit einem Jahr war aber nach langen Verhandlungen das Transitabkommen in Kraft, in welchem die Schweiz als Gegenleistung für die Respektierung der 28-Tonnen-Limitefür Lastwagen der EG den Bau der Neat-Bahntunnels durch Gotthard und Lötschberg gelobte. In einem Artikel dieses Abkommens verpflichtete sich die Schweiz, EG-Transporteure auf Schweizer Strassen gleich zu behandeln wie die eigenen. Die vier Worte der Initiative waren ein Verstoss gegen diese Gleichbehandlungspflicht. Das hatte in Windeseile dramatische Folgen: Am Dienstag nach dem Abstimmungssonntag brach die EG die Vorgespräche über bilaterale Abkommen ab! Mit einem Staat, der bestehende Verträge breche, könne sie nicht über neue verhandeln.
Am Volk vorbeigeschmuggelt
Und was tat die Bundesversammlung auf Vorschlag des Bundesrates? Sie erliess ein Ausführungsgesetz für den in die Verfassung gekommenen Alpen-Artikel und strich darin die Worte „von Grenze zu Grenze“! Das geschah so unbemerkt, dass nicht einmal das Referendum ergriffen wurde. Beschwerten sich denn die Alpenschutz-Aktivisten nicht über die Streichung? Natürlich nicht, ihnen war noch so recht, dass auch die Schweizer dem Schienenzwang unterworfen wurden. Wahrscheinlich hatten sie die vier Worte nur hinzugefügt, weil sie mit Recht fürchteten, die Initiative werde abgelehnt, wenn sie auch die Schweizer Camionneure belasteten, sie gewannen nur knapp über 50 Prozent Ja-Stimmen. Dieses Gesetz verletzte die Bundesverfassung und tut das noch heute! Im Artikel 84-2 stehen noch 2013 die vier Worte „von Grenze zu Grenze“. Die Verfasser der totalrevidierten BV von 1999 vergassen sie zu streichen.
Der hypothetische Rückblick zeigt: Pragmatisch gerieten Bundesrat und Parlament genau auf das was, wäre ein Gegenvorschlag schon obligatorisch gewesen, darin gestanden hätte: die Forderungen der Initianten ausser den vier Worten, welche das Transitabkommen verletzten. Nach der Streichung der vier Worte verhandelte die EG wieder und fünf Jahre später hatten wir unsere ersten bilateralen Abkommen. Ohne sie vom Binnenmarkt abgeschnitten, würde es uns heute schlechter gehen.
Negative Folgen eines Gegenvorschlags
Eine eigenartige, nur für diesen Sonderfall gültige Lehre ist: Ein obligatorischer Gegenvorschlag kann die Sachen komplizieren und erschweren. Wäre er schon damals in Kraft gewesen, dann hätte das Volk vermutlich – wir werden das nie wissen – die Initiative angenommen und den Gegenvorschlag abgelehnt. Der Schienenzwang auch für Schweizer wäre explizit Gegenstand einer Abstimmung gewesen, und das Volk hätte ihn verworfen. Nach einem expliziten Volks-Nein hätten sich aber Bundesrat und Parlament nicht getraut, die Streichung der vier Worte unbeachtet auf Gesetzesebene am Volkswillen vorbeizuschmuggeln. Die EG wäre diskriminiert geblieben. Sie hätte Verhandlungen über den Zugang zum Binnenmarkt verweigert, bis die Schweiz die Camionneure der EG gleich streng behandelte wie ihre eigenen. Also Schienenzwang auch für Schweizer! Das hätte eine zweite Volksabstimmung erfordert, welche die vier Worte strich. Wäre das Volk so schnell dazu bereit gewesen? Wir hätten jahrelang auf die bilateralen Abkommen warten müssen, unsere Wirtschaft wäre viele Jahre vom Binnenmarkt abgeschnitten gewesen, vielleicht gäbe es heute keine prosperierende Schweiz, auf die man Lobeshymnen inmitten eines darbenden Europas anstimmen kann.
Ökologisierung der EG
Eine weitere Überraschung folgte der Alpeninitiative. Plötzlich erhöhte sich die Sensibilität der EG für den Umweltschutz in den Alpen! Daran waren ein bisschen auch die Urner Aktivisten schuld, vor allem aber der Kampf der Österreicher. Sie erstrebten diesen Schutz mit anderen Mitteln, sie setzten gegen harten EG-Widerstand durch, dass alpenquerende Lastwagen ihren CO2-Ausstoss vermindern oder verschwinden mussten. Da Österreich 1995 der EG beitrat, hatte diese nun entgegen ihrem zentralistischen Axiom, EG-Regeln müssten immer auf ihrem ganzen Territorium gelten, eine Region mit nur auf sie zugeschnittenen Sonderregeln. Diese gewährte die EG nun auch den Pyrenäen und ihren anderen Bergregionen. Zu dieser Aufweichung des Brüsseler Zentralismus hat auch das Ja des Schweizervolks zur Alpeninitiative ein bisschen beigetragen.
Unberührt davon blieb allerdings der für die Schweiz einschneidende Abbruch der bilateralen Gespräche. Das erste Lehrstück für die Problematik eines Konflikts zwischen EU-Abkommen und Volksinitiativen! Vielleicht hätte der obligatorische Gegenvorschlag 1994 doch eine Chance gehabt, denn sinngemäss hätte die zweite Abstimmungsfrage neben der Original-Initiative gelautet: „Wollen Sie den Alpentransit von Grenze zu Grenze auf die Schiene zwingen und damit das Aushandeln von bilateralen Abkommen mit der EG verunmöglichen?“ Wir werden nie wissen, ob diese Alternative die Alpen-Abstimmung zu einem anderen Resultat geführt hätte.
XI. Müssen Volksvertreter gegen ihre Meinung stimmen? Ja!
Wenn die Mehrheit der Volksvertreter nicht mit dem Inhalt einer Initiative einverstanden ist, werden sie auch gegen den obligatorischen Gegenvorschlag sein, der nur die Rechtsverstösse eliminiert und sonst nichts. Können wir sie verpflichten, einen Abstimmungsvorschlag gegen ihre Überzeugung dem Volk vorzulegen?
Schon immer! Ja, das erlauben alle unsere Verfassungen seit der Gründung des Bundesstaates bis heute! Die erste von 1848 gab die Revision ihrer selbst neben der Bundesversammlung auch dem Volk in die Hand. Wenn in einer ersten Abstimmung eine Mehrheit der Aufforderung von 50’000 Stimmbürgern folgte, mussten National- und Ständerat neu gewählt werden und die Neuen, ob sie wollten oder nicht, mussten eine Revision ausarbeiten, die dann dem Volk vorgelegt wurde. Das Begehren betraf nur die nackte Forderung nach einer Revision ohne Angabe von Inhalt und Ziel. In der Praxis hätte wohl die öffentliche Diskussion gezeigt, wohin sie führen solle. Das Verfahren mit drei aufeinanderfolgenden Wahlen und Abstimmungen war jedoch so kompliziert, dass es nie gebraucht worden ist.
Die 1891 eingeführte Volksinitiative gab den Initianten zwei bis heute bewahrte Möglichkeiten: Sie können den gewünschten Verfassungstext selber formulieren, oder sie können mit einer „allgemeinen Anregung“ unsere Parlamentarier auffordern, das darin genannte Ziel zu einem Verfassungsartikel auszuarbeiten, über den dann abgestimmt wird. Die „allgemeine Anregung“ ist zwar selten gebraucht worden, Jean-François Aubert zählt von 1891 bis zur Fertigstellung seines Traité 1967 nur deren fünf (Seite 149-150), aber sie steht auch nach der Totalrevision des Jahres 2000 immer noch in der Bundesverfassung. Wenn sich 50’000 Stimmberechtigte dahinter stellen, muss die Bundesversammlung diese Anregung, ob es der Mehrheit passt oder nicht, zu einem Verfassungstext ausarbeiten. Unsere Verfassung scheut sich seit der Gründung des Bundesstaates nicht, unsere Parlamentarier auch gegen ihre Überzeugung zur Formulierung eines Verfassungsartikels zu zwingen, sobald ihnen Initianten oder das Volk den Auftrag dazu gaben.
Zwei weitere Punkte entkräften den Einwand vollends. Das Parlament darf seinen eigenen obligatorischen Gegenvorschlag dem Stimmvolk zur Ablehnung empfehlen. Und wie am Schluss von Kapitel VII geschildert, darf es dem Volk neben dem obligatorischen einen selbständig gestalteten Gegenvorschlag vorlegen.
XII. Direkte Demokratie in der EU?
Und wenn wir in die EU einträten? Wie wäre das mit den Volksrechten?Die direkte Demokratie gewinnt in der EU an Boden. Im Gegensatz zum Cliché vom „Demokratiedefizit“ geschehen auch in der EU auf der niedrigsten und auf der höchsten Ebene bemerkenswerte Schritte in Richtung direkte Demokratie.
Auf Graswurzel-Ebene gewinnen direktdemokratische Bewegungen immer mehr Einfluss. In immer mehr Ländern, Regionen, Städten und Gemeinden gibt es Bürgerinitiativen und Volksabstimmungen. Auch wo sie nur konsultativ sind, trauen sich die Politiker fast nie mehr, ihre Resultate zu ignorieren. Wo sie bindende Abstimmungen zulassen, haben die Politikereliten die Bedingungen allerdings vielerorts unüberwindbar hoch formuliert. In Österreich müssen innert einer Woche auf dem Gemeindehaus vor den Augen eines Beamten 100’000 Unterschriften gesammelt werden. In Italien erreichten die ersten Abstimmungen das vorgeschriebene Mindestquorum der Stimmbeteiligung mit einer Ausnahme nicht und wurden für ungültig erklärt, worauf die Bürger den Glauben verloren haben und keine Initiativen mehr formulieren. In Frankreich, Grossbritannien, den Niederlanden, auch Österreich werden Volksabstimmungen nicht nach festen Regeln angesetzt, sondern nach dem Belieben der gerade herrschenden Präsidenten oder Regierungsparteien.
Die Abwehrmanöver der Politikerelite werden das Wachstum von Volksmitbestimmung in den EU-Ländern auf Graswurzelebene auf die Länge nicht bremsen. Sie hat jetzt schon ein erstes Element direkter Demokratie in die EU-Grundverträge (ihre Verfassung) eingefügt.
Direkte Demokratie in der EU: Ein erster Schritt
Die EU hat einen ersten Schritt direkter Demokratie vollzogen! Ihre letzte Vertragsrevision 2009, der “Vertrag von Lissabon“, hat die „Bürgerinitiative“ eingeführt. Eine Million EU-Bürger aus mindestens drei Mitgliedstaaten können die Brüsseler Kommission auffordern, zu einem von ihnen umschriebenen Thema einen Vorschlag zu machen, den dann Ministerrat und Parlament gemäss den regulären EU-Prozeduren behandeln müssen.
Eine Abstimmung darüber gibt es allerdings noch nicht. Es darf aber auch der EU zugestanden werden, ihre direkte Demokratie in Schritten und Stufen zu entwickeln. Wir Schweizer haben dafür Jahrzehnte gebraucht. Bis unser Volk das Initiativrecht erhielt, ging es 43 Jahre.
Mit unserer direkten Demokratie in der EU: Unlösbare Probleme?
Den Problemen der Schweizer direkten Demokratie bei einem EU-Beitritt hülfe das alles gegenwärtig nichts. Mehrheitsabstimmungen in Ministerrat und Parlament wären überall dort, wo die EU-Verträge solche vorsehen, auch für die Schweiz verbindlich, Volksabstimmungen hin oder her. Es sind drei skurrile Vorschläge ausgetüftelt worden, wie das Schweizervolk Mitsprache spielen könnte: Man dürfe ja vorher abstimmen lassen, aber müsse das Resultat halt annullieren, wenn die EU-Mehrheit etwas anderes beschliesse. Oder man könne konsultative, nicht zwingende Abstimmungen über ein EU-Traktandum durchführen. Oder das Volk könne im Vorfeld von EU-Debatten den Schweizer Delegationen Instruktionen mitgeben. Werden sie von einer Mehrheit der anderen EU-Länder und -Parlamentarier überstimmt, müssen wir dann aber doch Beschlüsse ausführen, gegen die sich das Volk ausgesprochen hat – und, wenn wir an ihnen festhalten wollten, aus der EU wieder austreten.
Aber wie stark würde eigentlich die direkte Demokratie in der EU eingeschränkt? Eine vom Nationalfonds gesponserte Studie kam zu einem überraschenden Ergebnis: Von etwa 100 Abstimmungen innert zehn Jahren hätten weniger als 10 nicht abgehalten werden können. Diese quantitative Sicht ist allerdings blauäugig, denn die ausgeschalteten Sektoren betrafen zentrale Themen der Schweizer Politik. Themen, wo Volksabstimmungen für unser Gleichgewicht zwischen Volk, Regierung und Parlament entscheidend sind. Auch wenn es Nein stimmt! Seit der Schwarzenbach-Initiative 1970 wurden bis vor kurzem alle ausländerfeindlichen Initiativen verworfen. Das Thema beschäftigt aber das Volk intensiv, und nur dass es sich äussern und nein sagen kann, verhindert ein frustriertes Anwachsen der Xenophobie. Die Schweizer Landwirtschaft, an der das Volk noch immer hängt, wäre der Äusserung seines Willens seit vierzig Jahren total entzogen.
Auch die EU hätte ein Problem!
Umgekehrt hätte bei einer Mitgliedschaft der Schweiz auch die EU ein grosses Problem: Überall dort, wo ihr ihre Verträge Einstimmigkeit vorschreiben, hätte das Schweizervolk für sich allein ein Vetorecht gegen den Willen der anderen 27 Mitgliedländer! Es könnte jeden Kompromiss zunichte machen, insbesondere alle Änderungen der EU-Grundverträge, ihrer „Verfassung“. Ein Klumpfuss für alles EU-Wachstum. Minister aller anderen EU-Länder müssen nur ihr Parlament und ihre Koalition überzeugen, wenn sie nach Brüssel kommen, kennen sie ihren Spielraum für Kompromisse, und wenn sie im Ministerrat Ja sagen, muss niemand Angst haben, das könne sich in einer Volksabstimmung noch in ein Nein verwandeln, den Kompromiss über den Haufen werfen und zu neuen Verhandlungen zwingen. Deren Ergebnis das Schweizervolk nochmals verwerfen könnte. Solche Unsicherheit würde seriöse Verhandlungen in der EU verunmöglichen.
Das ist nicht Theorie; die EG-Partner machten diese schlechte Erfahrung mit der Schweiz in den EWR-Verhandlungen. Bundesrat Delamuraz hatte ihnen in leichtfertigem Optimismus ein Ja des Schweizervolks versprochen. Es sagte an jenem denkwürdigen 6. Dezember 1992 Nein, und die verbliebenen EWR-Länder mussten alle Artikel des EWR-Abkommens neu aushandeln, welche Schweizer Sonderforderungen und Mitbestimmungsrechte betrafen, und das verzögerte sein Inkrafttreten um ein ganzes Jahr. Wäre die Schweiz Mitglied in der EU gewesen, wären an unserem Volksveto vermutlich historische Fortschritte gescheitert. Zum Beispiel ihre für den freien Güterverkehr im Binnenmarkt unerlässliche Mehrwertsteuer. Kroatien, Rumänien, Bulgarien und vielleicht alle osteuropäischen Länder wären nicht EU-Mitglied geworden.
EU-Volksabstimmungen?
Beim gegenwärtigen Zustand ist unsere direkte Demokratie mit der EU-Mitgliedschaft unvereinbar. Das könnten nur zwei drastische Schritte ändern, die noch lange auf sich warten lassen werden: Wenn sich die EU-Staaten zur Einführung EU-weiter Volksabstimmungen über alle ihre wichtigen Entscheide entschliessen könnten und die Schweiz dann zum Beitritt. Den Volksentscheiden in einer so direktdemokratischen EU müsste sich die Schweiz unterziehen, aber das wäre nicht anderes als das, was wir in unserer Demokratie von einem Kanton verlangen.
Trotzdem dürfte der Beitritt noch auf heftigen Widerstand stossen. Wir haben 1847 sieben diesem „Berner Zentralismus“ widerstrebende Kantone in einem blutigen Krieg mit 140 Toten zum Beitritt in den neuen Bund gezwungen. Die EU wird uns weder mit Krieg noch mit friedlichem Druck zum Beitritt zwingen, aber tiefverwurzelte, jahrhundertealte Schweizer Mythen begehren gegen ihn auf: „fremde Richter“, „Souveränität“, „Unabhängigkeit“, „Selbstbestimmung“ und sogar „Brüsseler Unterdrückung der Volksrechte“, obwohl sich bei uns niemand daran stört, dass sich auch ein Nein stimmender Kanton einer Ja-Mehrheit unterziehen muss.
Der obligatorische Gegenvorschlag hülfe hier nichts
Abstimmungs-Alternativen wie der obligatorische Gegenvorschlag können der Schweiz helfen, solange sie draussen ist. Die Konflikte bei einer Mitgliedschaft in der EU könnten sie nicht lösen. Ein EU-Mitglied hat sich allen regulär beschlossenen Entscheiden zu unterziehen, selbst wenn sie einst in einer EU-weiten Abstimmung von einer Volksmehrheit beschlossen würden.
Direkte Demokratie in der Welt
Es wird wie in der Schweiz lange dauern, bis die EU Volksabstimmungen kennt, aber die wachsenden Graswurzel-Bewegungen zu direkter Demokratie in ihren Ländern machen das zu einer aussichtsreichen Möglichkeit auf lange Sicht.
Eine direkte Demokratie in Europa, einem ihrer fünf Kontinente, wäre ein mächtiger Impuls für die ganze Welt. Ein solcher ist dringend nötig. Überall, auch in demokratischen Ländern, auch in Europa wächst gegenwärtig die Kluft zwischen der Bevölkerung und den Politikern, ja der Politik überhaupt beängstigend. Nur direkte politische Beteiligung kann dieser Entwicklung von Politikverdrossenheit, Ressentiments gegenüber den Politikern, Populismus, Links- und Rechtsextremismus begegnen, die vielleicht den Fortbestand der Demokratie überhaupt gefährdet.
Auch darum muss die direkte Demokratie in der Schweiz vital gehalten werden, dem einzigen souveränen Staat der Welt mit dieser Staatsform, die den direkten Kontakt zwischen den Politikern und den Bürgern praktiziert und ihre Machbarkeit, ja ihre Überlegenheit beweist. Entgegen der hochnäsigen Skepsis und Machtbesessenheit der Eliten können auch einfache Menschen in Mehrheitsabstimmungen eine vernünftige Politik gestalten. Die Schweizer Institutionen müssen nicht kopiert werden, jeder Staat, gross oder klein, auch eine Gemeinschaft von 500 Millionen wie die EU braucht eigene Praktiken und Institutionen, muss sie suchen und finden. Aber wir sollten uns mit den schwachen Kräften eines Kleinstaats für die Ausbreitung dieser direkten Demokratie einsetzen. In der EU, in Europa, in der Welt. Unser beliebter Spruch „Die direkte Demokratie ist kein Exportartikel“ ist eine aus dem Schweizer Dünkel der Einzigartigkeit geborene Ausrede.
XIII. Irrungen und Wirrungen von EGMR-Richtern
Zu Anfang: Nicht vergessen, dass die Strassburger Menschenrechtskonvention jedem Bürger Europas grosse, in der Welt sonst nirgends existierende Dienste leistet: Sie auferlegt den Staaten unseres Kontinents, auch den rechtsstaatlich ungefestigten wie den exkommunistischen in Osteuropa, einen weltweit einzigartig hohen Standard von Menschenrechten, und die Urteile sind noch immer oft von hoher Qualität. Aber in letzter Zeit schüttelt man in der Schweiz oft den Kopf darüber, in einigen Fällen scheinen sie nicht mehr von dieser Welt zu sein.
Die Kruzifixe in Italien
Die untere Instanz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat 2009 einer italienischen Atheistin recht gegeben, die es mit der von der Konvention garantierten Religionsfreiheit unvereinbar fand, dass im Schulzimmer ihres Kindes das christliche Symbol eines Kruzifixes hängt. Diese Kruzifixe sind Tradition und hängen in den Schulzimmern von Turin bis Palermo, und das Kind der Klägerin war wohl das einzige der ganzen Klasse, dessen Mutter sich daran stiess. Der Strassburger Spruch der ersten Instanz bedeutete, dass diese Kruzifixe aus den Schulzimmern ganz Italiens verschwinden mussten.
Richter müssen in ihren Meinungen unabhängig sein, aber auch die gesellschaftlichen Realitäten und tiefen Traditionen der beurteilten Länder in Betracht ziehen. Die „Grosse Kammer“, die Strassburger Berufungsinstanz, hat denn auch die akademisch-juristisch-beschränkte Anordnung der Ersten Instanz aufgehoben, mit einer Mehrheit von 15 Richtern gegen 2. Sie konnte allerdings die generell formulierte Religionsfreiheit der Konvention nicht frontal angreifen und behalf sich mit psychologisierenden Ausflüchten wie „ein Kruzifix an der Wand sei ein passives Symbol“, und es gebe „keinen Beweis, dass das Anbringen eines religiösen Symbols an den Wänden eines Klassenzimmers Einfluss auf die Schüler haben kann...“ Diese Begründung zeigt immerhin, dass der Strassburger Oberinstanz die Ferne solcher Richtersprüche von den gesellschaftlichen Wirklichkeiten bewusst geworden ist.
Der Nigerianer in der Schweiz
Der Schweiz half das nichts im aufsehenerregenden Fall des Nigerianers, der Klage gegen seine Ausschaffung erhob: Die dauernde Trennung von seinen in der Schweizer lebenden Zwillingstöchtern verletze sein Recht auf Familie. Die Schweizer Richter bis hinauf zum Bundesgericht hatten die Ausschaffung für gerechtfertigt gehalten, denn er hatte unter falschem Namen Asyl in der Schweiz beantragt, arbeitete nie bezog aber Sozialhilfe, sprach keine unserer Landessprachen richtig, ist von der schweizerischen Mutter seiner Töchter geschieden, hat zwei andere Frauen geschwängert, war in Deutschland und Österreich wegen Drogenhandels und Kokainschmuggel verurteilt und hinter Gitter gesetzt worden.
Die untere Strassburger Instanz stellte das Argument, dass ihn die Ausschaffung von seinen Töchtern trenne, über alle diese Fakten und verurteilte die Schweiz einzig auf Grund des Rechts auf Familienleben dazu, ihn wieder aufzunehmen. Die Schweiz appellierte an die Obere Instanz, aber diese liess das Urteil intakt. Nicht weil sie es begründet fand - darüber konnte sie sich gar nicht aussprechen, denn nach den Verfahrensregeln der Konvention darf sie einen Appell gegen Urteile der unteren Kammer nur behandeln, wenn es sich um eine „schwerwiegende Frage der Auslegung oder der allgemeinen Bedeutung der Konvention“ handelt. Also nicht den konkreten Fall selber, sondern nur wenn er eine Grundsatzfrage in der Auslegung und Anwendung der Menschenrechtskonvention stellt. Eine solche Grundsatzfrage, fand die Oberinstanz, stelle das Nigerianer-Urteil nicht.
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Jörg Thalmann, geboren 1934, Dr. phil. I (Literatur, Philosophie, Geschichte). Brüsseler Korrespondent von Schweizer Medien 1967-1997, seither pensioniert, wohnt in Brüssel. Seit 2012 Autor des Schweizer Internet-Magazins „Journal 21“.
Mitverfasser von „Helvetische Alternativen“, einer Antwort auf den „Fragenkatalog Wahlen“, der die Revision der Schweizer Bundesverfassung einleitete. 1973-1977 Mitglied der „Furgler-Kommission“, welche den Text einer revidierten Bundesverfassung erarbeitete.
Die erste Skizze des „obligatorischen Gegenvorschlags“ wurde 1995 aus Anlass der Komplikationen nach der Annahme der Alpeninitiative verfasst. Die Idee wurde in der Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Verfassungstextes („Nachführung“) diskutiert, kam aber nicht in die dem Volk vorgelegte und am 1. Januar 2000 in Kraft getretene Endfassung: Die „Nachführung“ sollte die Verfassung nur straffen, sprachlich modernisieren und von historischem Gerümpel säubern, das seit hundert Jahren infolge von Volksinitiativen in sie hineingekommen war. Zum Beispiel das am 5. Juli 1908 eingeführte Absinthverbot, welches den im Jura grassierenden Alkoholismus eindämmen sollte. Der „obligatorische Gegenvorschlag“ war ein substanzieller Reformvorschlag und ging über eine blosse Nachführung hinaus.
Den Anstoss zur Wiederaufnahme und Ausarbeitung dieser Idee gab im Frühling 2013 die Diskussion einer Diskussionsgruppe von Freunden in Winterthur und Zürich über den „Richterstaat“: „Haben Richter und Professoren in Strassburg und in Lausanne zuviel Macht gegenüber Volksentscheiden?“